Tichys Einblick
Musiker Jan-Heie Erchinger

„Wir müssen in Frage stellen, ob wir alles immer moralisch-radikal sehen können“

Der Pianist Jan-Heie Erchinger ist Pastorenkind wie Angela Merkel und war bis 2017 SPD-Mitglied. Wir sprechen über die Härten der Musiker-Existenz in Corona-Zeiten, den moralischen Radikalismus der Kirchen und Heimatliebe.

Ist das heute eine typische deutsche Biografie? Der Braunschweiger Musiker Jan-Heie Erchinger ist Pastorenkind wie Angela Merkel. Deutsche Moraldebatten sind ihm also in die Wiege gelegt worden. Nach langer SPD-Mitgliedschaft hat Erchinger 2017 sein Parteibuch zurückgegeben. Nein, nicht still und leise: Er hat es der SPD sogar wie einen Fehdehandschuh hingeschleudert. Wir wollen wissen, warum und fragen bei der Gelegenheit auch, wie es deutschen Künstlern in Zeiten von Corona geht.

Alexander Wallasch: Wie geht es Ihnen als Kulturtreibenden mit den Corona-Beschränkungen? Was machen Sie noch, was geht nicht mehr?

Jan-Heie Erchinger: Ich persönlich bin traurig, dass Auftritte ausgefallen sind. Da ich aber mein künstlerisches Leben auch auf solche Ebenen wie private Musikschule ausgeweitet habe in den letzten zwei Dekaden, bin ich noch in der günstigen Lage, dass ich jetzt nicht sagen kann, dass mein Umsatz um fünfzig Prozent oder mehr eingebrochen wäre. Also ich komme klar, aber habe natürlich Verluste. Mein neustes Projekt ist gerade eine Platte mit dem berühmten alten Fender Rhodes, das ist ein E-Piano, das auch der weltbekannte Musiker Ray Charles ganz viel gespielt hat. Dazu habe ich übrigens gerade ein schönes Video gedreht. Ich sehe mich da persönlich auch ein Stück weit als Spezialist für diesen Sound.

Sie begleiten und prägen seit Jahrzehnten den Kulturbetrieb einer Großstadt. Was können Sie nach den Jahren darüber sagen? Wie funktioniert das beispielsweise mit der Subventionskultur, wie kommt man an die Honigtöpfe als Künstler? Wie steht es mit der Braunschweiger Kulturszene?

Zeit zum Lesen
„Tichys Einblick“ – so kommt das gedruckte Magazin zu Ihnen
Über die Jahre sind wir mit den Stiftungen in der Stadt ganz gut aufgestellt. Wer will, kann sich informieren, wie man an Gelder herankommt für bestimmte Projekte. Wir haben in Braunschweig auch eine Kulturdezernentin, die ist schon jahrelang dabei, mit der kann man reden. Es gibt natürlich Projekte, die dahingehend nicht so gut hinhauen. Ein Kindermusical, das ich geschrieben hatte über ein Braunschweiger Wohnviertel mit ein paar satirischen Anmerkungen auch über eingefahrene Öko-Normen aber auch positiv in Richtung Integration klappte bis jetzt nicht wie geplant, ich hoffe auf eine Zusammenarbeit mit dem Staatstheater …

Das ist interessant, denn das bürgerliche Viertel, über das wir sprechen, ist ja eines mit einer geringen Migrantenrate …

(lacht) Die Kulturdezernentin hatte ursprünglich vorgeschlagen, das Grusical sogar auf einem alten Thing-Platz zu machen, aber das ist natürlich belastet. Die Idee war, was die Nazis da gemacht haben, heute positiv zu besetzen, auch als zum Nachdenken anregendes wie provokantes Zeichen. Ich finde es toll, dass der Denkmalschutz da aufpasst. Ich halte es für wichtig, so etwas zu bewahren. Und damit sind wir gleich wieder bei aktuellen Bezügen. Ich kann überhaupt nicht verstehen, bzw. ich bin absolut dagegen, dass so viele Leute jetzt Denkmäler und Gebäude umschmeißen oder abreißen wollen usw. Das ist nicht nur eine Überreaktion, das ist sogar kulturlos. Denkmalschutz ist, wenn er gut gemacht ist, dafür da, solche historischen Hinterlassenschaften auch zu schützen. Denn das gehört nun Mal zu unserer Vergangenheit. Ja, auch der Kolonialismus gehört zu unserer Vergangenheit. Es kommt nur darauf an, wie wir das heute verarbeiten.

Ich finde nicht einmal nur die Schmierereien schlimm, sondern oft auch diese zwanghafte Interpretation, wenn das x-te Hinweisschild vor so einem Denkmal noch die letzte Unklarheit beseitigen helfen soll. Da soll ja eine Transzendenz geschaffen werden, die noch den letzten freien Gedanken verhindert, was meinen Sie dazu?

Wir haben in den 1980ern in der Schule auf eine Weise gelernt, kritisch und hellwach zu denken und differenziert Problematiken auszuleuchten, dass wir eine politische Kampagne heute schnell als solche erkennen. Ich habe ja nichts dagegen, darüber zu sprechen, ob dieses oder jenes Kolonialdenkmal oder die x-te Bismarckstatue noch sein müssen, da können wir ja entspannt darüber reden. Nur wenn es eingebunden ist in eine Kampagne, die sogar 1:1 – und das ist wirklich kritisch zu sehen – von Amerika und deren Problemen, die es da gibt, übernommen wird …

Sie sprechen von der Black-Lives-Matter-Bewegung …

Genau. Dieses Motto ist für mich etwas ganz Unglückliches. Denn wenn ich mich schon gegen Rassismus ausspreche, warum kann ich dann nicht „All lives matter“ sagen?

Was halten Sie von Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung, der in dem Zusammenhang jetzt schon von „Refugee Lives Matter“ schreibt?

Ja, Refugees‘ Lives Matters kann ich auch sofort unterschreiben. Jedes Live matters!
Wir beide wissen aber, dass Herr Prantl das ganz besonders auf seine moralisch einseitige grüne KGE-Sicht reduziert (Red.: KGE hier für die Grüne Katrin Göring Eckardt). Trotzdem hatte er Recht mit dem Refugees‘ Lives Matter. Aber auch ich als einer der ganz strikt für einen Schutz der Außengrenzen und auch für ein Zurückbringen nach Afrika ist, ich sage genauso: Refugees‘ Lives Matter. Sie werden ja gerettet und sollen auch weiter gerettet werden! Aber bitte dann zurückgebracht werden. Und das ist ja, was mich so fertig macht an der Kampagne des öffentlich-rechtlichen Rundfunks: Da wird gerade wieder berichtet über die Aktionen eines Schiffes im Mittelmeer – die Viking soundso – als wenn es um eine Seenotrettung vor Helgoland bei elf Windstärken ginge. Aber wir müssen einfach – und das bedeutet differenzierte, also auch neutrale Berichterstattung – wir müssen einfach unterstreichen, dass hier Boote von Schleppern organisiert sind, die nur deswegen voll sind, weil sie ein besonderes Argument haben, ihre Tickets zu verkaufen: nämlich: ´Da draußen warten die Schiffe der Nichtregierungsorganisationen (NGO)´.

Angela Merkel nannte in der letzten Fragestunde an die Bundesregierung diese Aktionen vor der libyschen Küste „nur die zweitbeste Lösung“. Auf der anderen Seite ist es nun Horst Seehofer, der die EU-Mittelmeeranrainerstaaten auffordert, wieder mehr Migranten aufzunehmen, damit das Geschäft der NGOs reibungsloser funktioniert – übrigens unabhängig davon, dass erwiesenermaßen mehr Menschen ertrinken bei mehr Aktivitäten dieser Schiffe. Wie paradox ist das?

Das basiert auf einem europäischen Schuldkomplex, welcher ja auch seine Berechtigung hat, aber es bleibt eine falsche Berechnung. Eine, die Leute in unseren links-dominierten öffentlich-rechtlichen Medien aufmachen. Eines ist völlig klar: Es muss weiterhin das Signal nach Afrika und auch in den Orient gesendet werden, dass illegale Schlepperflucht einfach nicht klappt; ihr werdet zurückgebracht. Beispielsweise von der libyschen Küstenwache, die dafür extra ausgestattet wurde – mit europäischer Hilfe. Der Hauptkonflikt ist ja, dass die Leute, die sich immer vermeintlich gesetzestechnisch mit den Menschenrechtssachen usw. im Einklang sehen, dass die sagen, dass ein sicherer Hafen vermeintlich nur in Europa sein kann. Das ist eine heftige Maximalforderung, weil wir ja dadurch erpressbar werden und erpresst werden! Es kann ja jeder losschwimmen mit irgendeinem Schlauchboot und immer argumentieren, es gibt in Afrika kein Land, das einen Standard hätte wie ein europäisches bezüglich Menschenrechten, bezüglich diesem und jenem. Und deswegen ist es quasi schon die Logik der Racketes, der NGOs und ganz vieler Linker, dass man zwingend von Europäern in einen ´sicheren´ EU-Hafen gebracht werden muss. Das ist eben das, wo ich mich – Entschuldigung – seit Jahren verarscht fühle, weil ich das als ganz klare Kampagne sehe. Wenn jemand in Afrika ist, in Armut, unter schlechten politischen Verhältnissen, ich kann jeden verstehen, der nach Europa kommen will, aber es gehört zu einer aufrichtigen Verantwortung, dass ich sage: Ich lasse nicht zu, dass du illegal kommst mit Schleppern. Weil das ja Tor und Tür einer immensen illegalen und auch sehr traurigen Schlepperwirtschaft öffnet, bei der schon sehr viele gestorben sind. Es hat übrigens nicht nur zu vermeintlicher Lebensrettung oder auch Barmherzigkeit geführt, sondern ganz klar – hier kennen wir das englische Wort BrainDrain – auch dazu, dass aus den Herkunftsländern die weggegangen sind, die oft dort am meisten gebraucht werden. Merkels „Wir schaffen das“ wurde dort als große Chance verstanden, sich auf den Weg zu machen.

Gewerkschaften und eine ganze Reihe von Institutionen und NGOs haben gerade in einem gemeinsamen Papier mehr Flüchtlinge für Deutschland gefordert mit der Begründung, dass die Integration der ab 2015 angekommenen Menschen so gut geklappt hatte samt Sprachkursen und Arbeitsstelle – das allerdings ist nachweislich falsch, dennoch wird hier nicht von den Positionen abgewichen …

Überhaupt nicht, dass ist ja das Traurige. Das ist ein großes Paradox gerade bei deutschen Leuten, die da sprechen. Einerseits wird uns oft gesagt von der Linken und von den Grünen: Hey, Europa ist so wichtig, wir sind doch nicht alleine mit unseren deutschen Interessen und so. Aber wenn andere EU-Länder nicht dieser deutschen maximal fordernden KGE-Bedford-Strohm-Sicht folgen, dann ist die Empörung groß. Es wurde ja, meine ich, ganz konkret von Solid (Red.: Jugendorganisation der Partei die Linke) oder auch von den Jusos eine Art Fährverbindung gefordert, von Tripolis nach Italien. Das ist das Paradox, das ich sehe. Dabei kann jede kritische Haltung Beweis dafür sein, dass europäische Meinungen kontrovers sind. Ich kann doch nicht immer nur die Polen und die Ungarn beschimpfen, sondern ich muss zuhören und mich ergebnisoffen auseinandersetzen, Kompromisse finden. Fehlt nun diese Kompromissfähigkeit, das ist dann definitiv viel mehr antieuropäisch.

Aber sind die Flucht- und Migrationspakte der Vereinten Nationen da nicht sowieso maßgeblicher als Marschrichtung jenseits eines europäischen Kompromisses? Pakte übrigens, die in großen Teilen aus deutscher Feder stammen sollen …

Also auf dieser UN-Ebene bin ich auch Realpolitiker. Wenn die UN das Signal aussenden will: Liebe Welt, seid barmherzig zu Flüchtlingen, dann habe ich nichts dagegen! Aber wenn quasi eine Migrationsaufforderung damit verbunden wird, dann ist das meiner Ansicht nach falsch. Ich möchte auch nicht vergessen: Wir in Deutschland haben die letzten fünfzig Jahre wirklich viel Arbeitsmigration gehabt, haben mit Merkel und Wir-schaffen-das viel mehr als alle anderen in Europa diese Asylsuchenden aufgenommen. Ich finde ja auch das Wording wichtig. Es waren nun mal nicht alles Flüchtlinge pauschal – wir müssen sagen Asylsuchende. Da haben wir unheimlich viele genommen, besonders im Vergleich zu allen anderen Ländern in der EU.

Aber die wenigsten bekommen doch Asyl …

Eben, das Wort Asylsuchende impliziert doch, am Ende möglicherweise kein Asyl zu bekommen, aber die anderen, die Öffentlich-Rechtlichen sprechen immer von Flüchtlingen, die gerettet werden.

Das ist doch schon weniger geworden, bzw. eine Wellenbewegung, oder?

Sie haben vollkommen Recht, es ist nicht nur ermüdend, manchmal nervt es einfach auch, dass man immer so hellwach aufpassen muss, dass man nicht schon vom Wording her von so Reschke- und Restle-Leuten im Öffentlich-Rechtlichen kampagnenmäßig über den Tisch gezogen wird. Wir haben sehr viele genommen! Im internationalen Vergleich habe ich ein absolut gutes und reines Gewissen. Und ich finde, wir können jetzt realpolitisch und ganz pragmatisch angehen, dass die, die heute hier sind, entsprechend betreut und irgendwann wirklich integriert sind. Wir müssen anfangen, die Migrationsprobleme, die wir hier haben, zu lösen. Und dafür brauchen wir Zeit und Ruhe. Und was viele vergessen auch auf der rechten Seite: Momentan kommen ja wirklich relativ wenig und das finde ich gut! Wir müssen anerkennen: Hey, das die Türkei illegale Zuwanderung im großen Stil über die türkisch-griechische Festlandgrenze forciert, das hat Europa nicht zugelassen. Und das ist eine gewisse Härte, die ich mir erwünscht habe.

Na ja, zunächst war es ja nicht die EU, sondern die griechischen Bauern, die sich quasi mit ihren Treckern und der Mistgabel an den Grenzfluss Evros gestellt hatten … Darf ich Sie mal mit einer Ausage von Jakob Augstein konfrontieren, die ist schon etwas älter. Der sagte einmal in etwa: Wer von Afrika nach Europa flüchtet, der gewinnt automatisch dreißig Jahre Lebenszeit, gemessen an der jeweiligen Lebenserwartung, wer würde es nicht genauso machen? Fragte also Augstein.

Das ist ja eine Frage, die immer wieder so Kindergottesdienst-artig auf den Punkt bringt, was ich eben schon zugestanden habe: Ich kann jeden Menschen in Somalia, im Südsudan, in Nordnigeria, in Idlib usw. ich kann jeden und jede ­– vor allen Dingen Frauen aus heftigeren islamischen Ländern – verstehen, die zu uns kommen wollen. Aber zur Aufrichtigkeit gehört eben auch, das Signal auszusenden: Ich kann verstehen, dass ihr kommen wollt. Aber kommt bitte nicht. Vor allem nicht illegal. Ihr dürft euch gerne bewerben, dafür haben wir doch so tolle Strukturen. Wenn ihr ein Punktesystem erfüllt, wenn ihr unsere Sprache gut drauf habt, wenn ihr IT-Ausbildungen habt, die wir brauchen usw. da hat doch keiner ein Problem damit. Gerne etwas Geld mitbringen und dann auch gerne moderat in unserem Land anpassen, integrieren! So machen das doch Kanada & Australien und andere Länder seit Jahrzehnten.

Gut, aber wenn ich weiß, dass ich mein Leben um dreißig Jahre verlängern kann, wenn ich aber leider keine IT-Ausbildung habe und mir zum Deutsch lernen vom Bildungsniveau her die Mittel fehlen, dann mache ich mich trotzdem auf den Weg …

Ja natürlich, ich kann das sogar verstehen. Aber ich bin dafür, dass man das verhindert. Weil wir auf keinen Fall weiter überfordert werden dürfen.

Das heißt, die Welt ist kein paradiesischer Ort …

Ich habe ein gutes Gewissen. Ich habe seit zehn Jahren ein Paten-Mädchen im Niger über eine private Hilfsorganisation, die ich unterstütze. Ich finde, dass unsere Bundesrepublik eine ganze Menge gute und faire Sachen anschiebt. Wir haben einen CSU-Entwicklungshilfeminister, der könnte bei den Grünen sein. Der kümmert sich wirklich ganz aufrichtig und versucht Gelder loszueisen. Es ist eine Lüge und Gemeinheit, wenn man da so tun würde, als wenn wir da überhaupt keine Verantwortung hätten oder uns dieser gar nicht stellen würden.

Aber das alles ändert doch nichts daran, dass dem Afrikaner am Ende dreißig Jahre fehlen. Würden Sie mir zustimmen, dass die Welt an sehr vielen Stellen kein guter Ort ist, dass wir das aber alleine nicht lösen können, meinten Sie es so?

Nicht nur das, ich gehe sogar noch weiter und finde das nicht zynisch: Ich halte mich wirklich für quasi selbstbewusst rational, in dem ich weiß: Es gibt keine garantierte Gleichheit. Ich kann nicht den Anspruch haben. Das wäre realpolitisch eine Illusion. Nichts dagegen, in der UN Ziele zu formulieren bzgl. Chancengleichheit usw. Aber ich brauche mir nicht einbilden, das von Deutschland aus mal eben organisieren zu können; wir dürfen uns nicht ideologisch-moralisch überfordern!

Nun gut, Ihnen geht es gut, Sie sind ein Wohlstandskind …

Aber ich habe doch zugestanden, dass ich jeden verstehen kann, der zu uns kommen will. Aber für mich ist es aufrichtig, wenn ich auch gleichzeitig zugebe bzw. durchsetze: Ich lass dich hier nicht (mehr) illegal rein. Ich lasse dich konsequent immer wieder nach Afrika zurückbringen.

Sie sind ein Kind der 1990er Jahre. Wann ging es jungen Menschen in Deutschland je besser – über alle Generationen hinweg. Kann man noch mehr erleben, als in dieser friedlichen Zeit angeboten wurde samt Wiedervereinigung? Eigentlich sind wir doch Goldjungs.

Also das sowieso. Ich bin überhaupt ein sehr dankbarer und positiv denkender Mensch. Ich bin dankbar, dass ich hier leben darf. Ich bin dankbar, dass ich die deutsche Einheit erleben durfte als ein Kind, das ein Viertel Schlesier ist und ein Viertel Ostpreuße. So bin ich beispielsweise auch enttäuscht, dass der wohlwollende Blick nach Osten, den ich versuche zu haben, dass man dafür heute immer gleich als Putin-Versteher tituliert wird. Klar wären demokratische Reformen für Russland wünschenswert! Gerade durch die deutsche Einheit aber fühle ich mich mit den Russen auch freundschaftlich verbunden. Ich liebe das Schlaflied Bajuschki Baju: Echter Slaven-Soul! Wir wissen alle, die Russen hatten die meisten Toten im Zweiten Weltkrieg – trotzdem haben Gorbi und Schewardnadse die deutsche Einheit möglich gemacht. Was für ein Beweis von Weisheit: Hier, ich gebe dir die Hand, ich gebe dir das DDR-Territorium zurück. Das haben wir erfahren! So eine friedvolle Geste, das ist ganz großartig. Und kurz danach klopft schon die Nato in Russland an die Tür. Und heute? Was Russland angeht, müssen wir uns diesen guten alten Spruch zwischen Mann und Frau vergegenwärtigen: Es gehören immer zwei dazu. Man kann nicht nur den Russen die Schuld geben für den erneuten kalten Krieg.

Ihr Auftritt in den sozialen Medien eckt oft mit der medial abgebildeten Meinung an. Sie könnten es viel einfacher haben. Also was treibt Sie dazu?

Ich denke mal, dass das eine Art Gerechtigkeitsbedürfnis sein könnte. Ich bin 1967 geboren und ich habe mein Land gern. Ich finde das legitim in der heutigen Zeit, auch mal an uns zu denken. Und wir müssen mal in Frage stellen, ob wir alles immer moralisch-radikal sehen können. Ich fühle mich geradezu gejagt von Standpunkten von EKD-Chef Bedford-Strohm und der evangelischen Kirche usw., weil ich eben selber so sozialisiert bin: Mein Vater ist Pastor, meine Mutter ist Lehrerin. Und ich stelle diese Maximalmoral wirklich in Frage. Ich stehe zu den Menschenrechten, alles gut. Aber ich möchte das Recht haben, realistisch sein zu dürfen. Und wenn ich beispielsweise in Bezug auf Barmherzigkeit argumentieren will: Ich will mich auch dafür verantwortlich fühlen, dass unser Land weiterhin wirtschaftlich erfolgreich bleibt, damit wir auch in Afrika gute Sachen finanzieren können. Das ist für mich ein ganz konkretes Argument. Dass Bedford-Strohm und die evangelische Kirche sich so auf die Position der NGOs und Rackete eingelassen haben, das finde ich hochgradig fragwürdig.

Was für Diskussionen laufen denn da in Ihrem Elternhaus? Welchen Einfluss haben Sie auf Ihren Pastorenvater? Im Gespräch ist ja bisher eher sein Einfluss auf Sie deutlich geworden.

Wir sind heute auch außerhalb von Facebook alle viel zu polarisiert. Das ist traurig. Relativ schnell, da nehme ich mich selbstkritisch mit rein, eskalieren wir in Debatten und Diskussionen.

Können Sie festmachen, an welchen Stellen es eskaliert?

Manchmal bin ich mit meinem Vater in aller gebotenen Ruhe am diskutieren. Er anerkennt dann auch: Natürlich können wir nicht jeden nehmen, da müssen wir auch pragmatisch mit umgehen. Aber nach zwei Stunden Gespräch passiert es dann, dass er noch mal provokant sagt: Aber Du möchtest sie eher ertrinken lassen. Das wirft er mir wirklich an den Kopf. Das meint er vielleicht gar nicht böse, aber das ist leider, was bei ihm hängenbleibt, wenn er sich meine Einstellung zu diesem Thema anhört.

Aber ist das nicht auch von ihm eine Form der Vergewisserung, dass er noch Teil des Mainstream ist nach einem Gespräch mit Ihnen? So wie Händewaschen, als wenn man sich zu nahe gekommen ist?

Das ist es definitiv auch, aber es ist eben auch diese Sozialisierung in Kampagnen-Denken. Ich finde das ja völlig abgefahren, mein Vater ist Baujahr 1939. Der hat in den späten 1970ern auch einen langen Bart gehabt. Ich finde richtig, was die gemacht haben, als die gesagt haben: Unter den Talaren der Muff von tausend Jahren. Ich finde das richtig, dass die gegen Filbinger (Red.: Ministerpräsident von Baden-Württemberg mit NS-Vergangenheit) waren usw. Nur ich finde eben nicht richtig, wenn sie heute 2020 nicht fair und seriös über diese Problematik diskutieren, dass es hier in Deutschland nun mal sehr attraktiv ist für die ganze ärmere Welt. Und dass wir es aus realpolitischer Perspektive nicht zulassen dürfen, dass wir überfordert werden mit einer nicht enden wollenden Migrationsbewegung. Ich bin in der Sache Fan der Arbeit des österreichischen Bundeskanzlers. Ich bin Sebastian Kurz dankbar für sein damaliges Engagement, die Balkanroute zu schließen. Diese politisch-realistischen Handlungen dienen dazu, in der Situation zu bleiben, in einem Land zu leben, wo man dann auch global helfen kann. Das ist im Wesentlichen meine Grundposition. Ich finde, es sollte zur Aufrichtigkeit solcher wohlhabender Leute aus dem Links-Öko-Moral-Spektrum gehören, zu sagen: Wenn wir unsere Refugees-Welcome-Haltung bedingungslos durchziehen, dann werden wir unseren Wohlstand nicht aufrechterhalten können. Ich bin extra nach Duisburg-Marxloh gefahren, ich kenne Berlin-Neukölln, habe sogar eine Wohnung dort, ich kenne Ecken in Deutschland, wo ich sagen muss: Ich empfehle meinem Land nicht, dass es noch weitere Ecken gibt, die so sind. Und das ist nicht arrogant gemeint. Ich habe ja nichts gegen den einzelnen Menschen!

Ich gebe Ihnen dazu mal einen Satz und Sie überlegen bitte, ob Sie eine Idee haben, von wem der sein könnte: „Dass die Kriminalität unter Ausländern größer sei, als unter den Deutschen, stimmt bedingt. In den Kategorien Mord und Totschlag, Zuhälterei und Raub liegen ihre Quoten unverhältnismäßig hoch.“

Das wird so von allen seriösen Leuten zugegeben. So sind ja nun Mal die Statistiken.

Das Zitat stammt aus den 1960er Jahren von der damaligen Journalistin und dem späteren RAF-Gründungsmitglied Ulrike Meinhof, einer Ikone der Linken bzw. der Linksradikalen.

Soweit müssen wir gar nicht zurückgehen, ich würde beispielsweise gerne Sahra Wagenknecht einen Orden anstecken, dass sie die Eier hatte, in dieser Zeit sich so zu positionieren, was ihr ja quasi die Karriere innerhalb der Linken ruiniert hat. Ich habe mich beispielsweise auch darüber empört, dass ein Hans-Georg Maaßen aus dem Amt gemobbt wurde. Mir ist Gerechtigkeit wichtig. Gerade jährt sich auch dieser G-20-Mist, ich habe das beobachtet, ich war fassungslos, was da los war. Ich habe vorher die taz gelesen, wo ich das Gefühl hatte, da wurde sogar subtil Gewalt schön gesprochen. Ich sehe das alles noch vor mir, wie die da die Stadt zerlegten und auch Polizisten gefährdet haben usw.

Sie waren lange SPD-Mitglied, warum sind Sie überhaupt eingetreten und weshalb nun ausgetreten?

Das ist tatsächlich angesichts der Flüchtlingskrise von 2015 eskaliert. Ich hatte gemerkt, das ich in der SPD mit meiner realistischen Mitte-Sichtweise keine ausreichende Schnittmenge mehr habe. Ich bin ja in vielem mit der SPD nach wie vor konform, ich finde es toll, das man sozial denkt, ich möchte, dass es keine Studiengebühren gibt, ich möchte, dass die integrierten Gesamtschulen weiter gut gefördert werden, aber ich bin absolut dagegen, zwingend Gymnasien abzuschaffen. Es ist wohl so: Ich habe einfach irgendwann anerkannt: Ich bin in vielem nicht mehr so links, das ist ja auch eine typische Sache des Alters. Jetzt habe ich eine neue Partei gegründet, die heißt ´Die Haie – Partei mit Biss‘.

Warum?

In aller Deutlichkeit? Weil mir bei den Etablierten die moralische Fresse zu groß aufgerissen wird. Wir haben verkrustete Strukturen in Deutschland, wir müssen auch neue Strukturen, zum Beispiel wählbare und gemäßigte Parteien schaffen, da müssen auch mal neue Leute eine Chance bekommen … !

Aber kann das Problem nicht das Parteiensystem selbst sein? Muss man da schon wieder mit der nächsten Partei kommen? Sahra Wagenknecht hat es ja auch deshalb mit einer Bewegung versucht, die allerdings auch krachend gescheitert ist. Möglicherweise, weil sie in diese Bewegung ihren Big Point, nämlich die Migrationskritik nicht ausreichend einbringen konnte oder wollte. Also warum noch eine Partei?

OK, legitime Frage: Aber ich hatte da einfach Bock drauf, weil ich gemerkt habe, dass es keine Partei gibt, in die ich mit wehenden Fahnen übergetreten wäre. Und, wirklich wahr, es gab von Peter Fox diesen Song: „Wenn’s dir nicht gefällt, mach neu!“ Und ja, das stimmt doch eigentlich. Das war mein Initial. Es muss mehr Durchlässigkeit in der Politik geben. So einen wie Schäuble beispielsweise, den sehe ich da gefühlt mein ganzes Leben, seine Tochter ist heute ganz wichtig bei den Öffentlich-Rechtlichen und ein Landesminister hängt da ja auch noch mit drin. Das ist mir einfach lästig. Es ist mir – um mal ein sehr scharfes Wort zu nehmen – zu mafiös-verseilschaftet. Das ist auch ein Hauptgrund, warum ich aus der SPD ausgetreten bin, ich fühlte mich von den Öffentlich-Rechtlichen nicht mehr vertreten, ich fühlte mich von denen belehrt und erzogen, ich bin aber zu erfahren, das immer zu verdrängen, dass ich diese Kampagne dahinter nicht sehe. Ich sehe das leider und es tut mir weh. Deshalb finde ich es ja auch so toll, dass neue Formate entstanden sind. Ich bin ja auch Abonnent von Tichys Einblick. Und diese Linie des Journalisten Claus Strunz gefällt mir auch. Broder finde ich gut, auch Fleischhauer oder auch mal Dieter Nuhr, den Kabarettisten Uwe Steimle oder in Ausschnitten den jungen Youtuber Neverforgetniki – da fühle ich mich mitunter gut abgeholt von diesen Farbtupfern, das freut mich. Hingegen diese Restle/Reschke-Sicht, die kriege ich schon von NDR-Info den ganzen Tag in den Kopf geschlagen. Ich bin überzeugt, das wir ein echtes Problem haben mit der so genannten Vierten Gewalt. Wir sollen immer Vielfalt wollen in vielen Bereichen, hier könnten sie mal zeigen, dass es wirkliche Vielfalt gibt. Ich möchte endlich auch konservative Leute im Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk sehen und hören. Cora Stephan, die ich nicht als konservativ, sondern nur als klug und fair einschätze, wenn ich sie beim NDR höre bei „Die Meinung“, da bin ich begeistert. Stephan hat leider sehr selten mal einen Beitrag, da mache ich dann immer einen Luftsprung.

Hat die Frau da eine Alibi-Funktion beim NDR?

Das kommt mir tatsächlich so vor, wenn sie da einmal in drei Monaten etwas sagen darf und sonst gar nicht. Die Verteilung ist ungerecht, das muss wirklich mehr werden.

Sie sind sehr regional verortet und stellen viele stimmungsvolle Bilder ins Netz, die oft auch etwas Sehnsuchtsvolles haben. Wie sieht es bei Ihnen mit Heimat aus?

In meiner Erziehung, in meiner Jugend, in meiner Schule war das Recht zur Heimatliebe ja unter dem Eindruck der Schrecknisse der NS-Zeit in den 80s gefühlt fast verboten. Diese Liebe zu Europa, zu Deutschland und zu meiner Region musste ich mir eher selbst erarbeiten. Ich zelebriere das sogar vorsätzlich mittlerweile, das gibt mir unglaublich viel. Ich lese Ritterbücher, ich lese wie die Römer hier am Start waren und was da los war, ich lese gerade ein Buch über die Himmelsscheibe von Nebra, ich finde das einfach spannend, woher komme ich?! Ich bin geschichtlich und mit ganzem Herzen an meiner Heimat, dem Braunschweiger Land interessiert, ich bin in Osterode am Harz geboren, ich bin da richtig mit Soul dabei – und jetzt kommt extra dieses amerikanische eher schwarze Musikwort, immerhin bin ich Profi-Jazz-Musiker: mit Soul und Spirit liebe ich meine Heimat!

Danke Ihnen für das Gespräch!


Vita

Geboren 1967 und aufgewachsen in einem Lehrerin / evangelischen Pastoren-Haushalt in Braunschweig kam Jan-Heie Erchinger früh mit Diskussionen über Moral in Berührung. Nach abgeschlossenem Studium als Lehrer für Mathematik, Musik und ev. Religion begann seine musikalische Karriere mit Smooth Jazz in den USA (Blue Knights). In den 1990er wurde er Keyboarder der Jazz-HipHop Formation Jazzkantine, mit der er in 17 Jahre über 1500 Konzerte absolvierte. In die SPD trat er ca. 1995 ein. 2017 gab er im Rahmen der Diskussionen zur Flüchtlingskrise sein Parteibuch wieder ab. 2019 gründete er eine eigene Partei. Jan-Heie Erchinger arbeitet weiter als Musiker, betreibt eine eigene Musikschule und hat einen Lehrauftrag für ´Musik in der Sozialen Arbeit´.

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