Die Wege in Bad Salzungen sind kurz. Vom Landratsamt an der Erzberger Allee zum Amtsgericht am Kirchplatz sind es gerade einmal 500 Meter und von dort lediglich 400 Meter zur Polizeiinspektion in der Rosa-Luxemburg-Straße. Verbindet man auf der Karte diese drei Punkte, ergibt sich ein Dreieck, und in diesem bürokratischen Dreieck verliert eine Frau ihre Freiheit, die seit 2013 den Rundfunkbeitrag nicht zahlt und deshalb gerade vollstreckt wird. Am 4. Februar 2016, als das Ende ihrer Vollstreckung naht, arbeitet sie in einem Metallbetrieb in der Nähe. Es ist 10:30 Uhr und sie ahnt noch nichts von ihrer Verhaftung: »Ich habe in meiner Halle gerade Platinen bestückt, als der Anruf kam, ich solle ins Hauptgebäude kommen. Dort stand der Gerichtsvollzieher mit zwei Polizisten und hat mich gefragt, ob ich jetzt bereit wäre, eine Vermögensauskunft abzugeben.« Doch Sieglinde Baumert weigert sich, denn so könnte ihr der Rundfunkbeitrag vom Konto gepfändet werden. Später nennt sie den Grund für ihr Handeln: »Mit meiner Unterschrift würde ich die Rechtmäßigkeit der Zwangsgebühren bestätigen. Das will ich nicht. Ich kann nicht verantworten, dass ich diesen Rundfunk mitfinanziere.«
Erst einmal wird die Beitragsrebellin auf die Polizeiwache in Bad Salzungen gebracht und von dort direkt in das Chemnitzer Frauengefängnis. »Ohne Handschellen, trotzdem gab es perplexe und schockierte Gesichter« unter den Arbeitskollegen. Haft als Streik gegen den Rundfunkbeitrag, so etwas hat das Land noch nicht gesehen – und noch bemerkt es ja auch kaum keiner. Sieglinde Baumert verschwindet erst einmal von der Bildfläche.
Die ARD und ihr Haftskandal
Der Rundfunkbeitrag ist mehr als nur eine Zwangsabgabe. Viele Bürger sehen in ihm eine Art Wohnsteuer, die wir ein Leben lang an ARD und ZDF zahlen müssen. »Das kann nicht richtig sein, das ist der falsche Weg«, vermeldet da bei vielen die innere Stimme. Doch wie weit würden sie für ihre Überzeugung gehen? Sieglinde Baumert wagt, was nur wenige wagen: Sie bezahlt keinen Rundfunkbeitrag mehr, wird erst zwangsvollstreckt, soll dabei ihr gesamtes Vermögen offenlegen, und sitzt dann in einer Erzwingungshaft. Ganz drastisch formuliert: Dabei wird ein Mensch in einer Zelle weichgekocht, sein freier Wille und sein Widerstand werden damit gebrochen. Gesetze erlauben solch eine Maßnahme längstens für 6 Monate. Die Beitragsrebellin darf ihre Zelle aber bereits nach 61 Tagen räumen. Nicht, weil sie aufgibt. Nein, der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR) ist es, der diese Beitragsrebellin in die Vollstreckung geschickt hat, aber am Ende aufgibt.
Im März 2016 erhält der Journalist Lutz Stordel einen Hinweis auf den Haftmarathon: »Der Tipp kam aus der Redaktion des SAT.1 Frühstücksfernsehens. Ich war überrascht, dass kein anderes Medium bis dato auf diese Geschichte gestoßen war.« Es geht ja auch bloß um eine Frau, die den Rundfunkbeitrag bis zu einem Punkt verweigert, den keiner für möglich hält. Erkennt Stordel sofort die Tragweite der Geschichte? »Mir war bewusst, dass die Geschichte Wellen schlägt. Und weil sie so außergewöhnlich war, hat sie mich interessiert. Dass ein Beitrag in unserer newsgefluteten Zeit aber keine Mauern zum Einsturz bringt, ist genauso klar.« Lutz Stordel möchte nicht für oder gegen etwas schreiben. Er spürt einfach, dass diese Geschichte erzählt werden muss. Wie nimmt er aber Kontakt auf – zu einer Frau, die in der Zelle sitzt? »Ich habe oft in Gefängnissen gedreht. Grundsätzlich ist es aus meiner Erfahrung möglich, Kontakt zu jedem zu bekommen, wenn denn der Inhaftierte will.«
Sieglinde Baumert möchte mit Lutz Stordel sprechen, das Gefängnis erteilt auch eine Besuchserlaubnis. Der Journalist schlägt ein Fernsehinterview vor, doch das möchte sie nicht. Damit hat sich der Beitrag für den Nachrichtensender Welt/N24 eigentlich erledigt. Stordel fährt trotzdem nach Chemnitz – ohne sein Kamerateam. Er gibt sein Handy an der Gefängnispforte ab, wartet mit dem Fotoapparat, überprüft das Diktiergerät, und er fragt sich, was das wohl für ein Mensch ist: »Und dann wird eine ganz normale Frau in den Besucherraum gebracht. Sieglinde Baumert erzählt, anfangs etwas nervös, ihre Geschichte – oder das, was sie als Geschichte preisgeben will.«
Diese Geschichte ist eigentlich sehr einfach. Der Text von Lutz Stordel muss später bloß Antworten auf eine einzige Frage liefern: Was treibt einen Menschen an, so weit zu gehen? Und tatsächlich kann der Journalist eindrückliche Zitate von Sieglinde Baumert einfangen: »Solange man mir meine Freiräume lässt, bin ich friedlich. Aber wenn man mich bevormunden will, dann ist meine Grenze erreicht.« Die Freiheit, eine Zwangsabgabe an ARD und ZDF nicht bezahlen zu müssen, findet die Beitragsrebellin ausgerechnet im Gefängnis.
Das große Vollstrecken der ARD lässt den Bürgern sowieso keine Wahl mehr, wir können nur verlieren – immer. Warum dann also nicht ein Zeichen setzen? Die ARD hat beinahe alles auf ihrer Seite: die Politik, das Recht, die Bürokratie, den staatlichen Zwang – nur die Menschen, die hat sie nicht mehr auf ihrer Seite. Und das können hier alle sehen. Wenn der freie Wille beim Rundfunkbeitrag schon auf diese Weise gebrochen werden muss, dann kann sich die ARD nur noch totsiegen. Einfach, indem jeder erkennt, wie und mit welchen Mitteln sie inzwischen siegen muss. Wenn ich eines durch die Haft von Sieglinde Baumert gelernt habe, dann das: Es mangelt nicht an Weisheit, es mangelt an Taten.
Worte bleiben immer nur Worte. Sie können von der Leidenschaft eines Menschen nur berichten, aber oft sind diese Worte schnell wieder vergessen. Nach einer Stunde hat Lutz Stordel genügend Worte gesammelt, das Interview ist beendet. Er muss jetzt recherchieren und den Text schreiben. Ein Wärter will Sieglinde Baumert gerade wieder zurück in ihre Zelle bringen, da äußert der Journalist eine letzte Bitte: ein Foto. Viele werden dieses Bild später sehen, nur wenige können es wieder vergessen: Sieglinde Baumert lächelt sanft in die Kamera. Das ist also das Gesicht einer Beitragsrebellin. Sie lächelt und trägt dabei blaue Anstaltskleidung – die Haare sind raspelkurz geschnitten, ganz offensichtlich mit einer Schermaschine. Das Fenster ist weit geöffnet, aber die massiven Gitterstäbe lassen kaum Tageslicht herein und Stordel muss mit dem Blitzlicht nachhelfen. Das Bild zeigt im Hintergrund Beton, Flutlichtmasten, Metallzäune und vor allem Stacheldraht. Das Bild friert aber auch den vielleicht wichtigsten Moment im Leben eines besonderen Menschen ein – es braucht keine Wörter, die unser Kopfkino erst einmal mühsam in Gang setzen, dieses Bild weckt sofort Emotionen. Lutz Stordel weiß das: »Dieses Foto druckt am Tag nach der Veröffentlichung ein Großteil der deutschen Presse nach, der Widerstand gegen die Zwangsgebühren hat ein sympathisches Gesicht bekommen.«
Das Interview mit Sieglinde Baumert findet am Mittwoch, dem 30. März 2016, statt. Bereits am Freitag, dem 1. April, wird der Haftbefehl schriftlich zurückgezogen. Das ist erstaunlich, denn der Text erscheint erst am 3. April in der Welt am Sonntag mit der Schlagzeile: »Sie hat den Kanal voll«. Am Montag veröffentlicht die Zeitung eine längere Fassung auf der Website und dann geht alles ganz schnell. Zu Axel Springer gehört nicht nur die blaue Welt-Gruppe; bekannter ist die rote Bild-Gruppe: Die Boulevard-Spezialisten werden im Berliner Verlagshaus mit den Zutaten Haft und Rundfunkbeitrag sehr bald volksnahe Schlagzeilen texten. Es wird zum Selbstläufer. Andere Journalisten schreiben ab oder erzählen die Geschichte nach: die Geschichte einer Frau, die keinen Rundfunkbeitrag zahlt und deshalb im Gefängnis sitzt. Am Montag sitzt diese Frau aber schon gar nicht mehr. Sie kommt gerade frei. Früher mussten Zeitungsjungen erst einmal schreiend durch die Straßen rennen, damit die Menschen erfuhren, was gestern neu war. Heute glühen die sozialen Netzwerke, und am Ende gewittert sich ein Sturm der Entrüstung über den Rundfunkanstalten ab.
Ein Tatort, aber kein Täter
Das Imperium ist unaufmerksam: ein Schuss, ein Treffer, ein Haftskandal. Das ist der Image-GAU für den Rundfunkbeitrag und auch ein Indiz dafür, wie wenig sich der Rundfunk mit den Beitragszahlern beschäftigt, die er gerade zwangsvollstrecken lässt. Das ist aber vor allem ungerecht. Viele Bürger fragen sich nun ganz instinktiv: Seit wann muss man den Rundfunkbeitrag mit seiner Freiheit bezahlen? Irrtum, wir dürfen diese Zwangsabgabe nicht absitzen. Wir müssen auch danach zahlen, immer, ein Leben lang. Ins Gefängnis kommen wir deshalb, weil wir nicht zahlen und auch unsere Vermögensverhältnisse nicht offenlegen, damit der Rundfunkbeitrag gepfändet werden kann. Natürlich fühlt sich das nicht weniger ungerecht an, aber so sehen eben die Feinheiten im Paragrafendschungel aus.
Hinter den Kulissen passiert aber einiges. Schließlich zieht sich der Haftbefehl einer Beitragsrebellin nicht von selbst so rasend schnell zurück. In den Tagen, bevor alles öffentlich wird, bevor der Bericht in der Welt am Sonntag erscheint, müssen Telefondrähte geglüht haben und zwischen den Krisensitzungen hatten auch die Bürosessel keine Chance abzukühlen. Informationen gibt es im April 2016 allerdings nur aus dem Amtsgericht, in dem der Haftbefehl ausgestellt wurde. Genau an diesem Punkt bleibt die öffentliche Berichterstattung auch stehen. Die Journalisten geben auf. (…)
Menschen einzusperren, um ihren Willen zu brechen – das markiert das Ende der Fahnenstange. Etwas Schlimmeres kann uns nicht mehr angetan werden. Wäre es dann nicht das oberste Gebot, dabei absolute Transparenz zu wahren? Es wird noch einen weiteren Haftfall geben und noch einen und noch einen – viele Einzelfälle. Wir müssen endlich wissen, wie Bürger, die den Rundfunkbeitrag nicht zahlen, verhaftet werden.
Die ARD erklärt die Haft der Beitragsrebellin
Sieglinde Baumert geht erst ins Gefängnis, dann an die Öffentlichkeit und besiegt so die Öffentlich-Rechtlichen. Sie ist eine Frau mit einer Botschaft: Haftzellen für Beitragsrebellen. Das ist einfach und gnadenlos – die ARD muss jetzt einiges erklären. Wie reagiert Deutschlands Meinungsgigant darauf? Mit Arbeitsverweigerung.
Tagelang sieht die ARD dabei zu, wie andere Medien eine Schlagzeile nach der anderen schreiben, wie sich der Proteststurm im Land abgewittert. Niemand hat einen ARD-Brennpunkt in eigener Sache zur Freilassung einer Beitragsrebellin erwartet. Doch wenn Sender schweigen, die sich fürs Informieren bezahlen lassen, dann sagt das auch sehr viel aus. Vielleicht ist es Ratlosigkeit, vielleicht eine Strategie. Die große Empörungswelle soll erst einmal abebben. Schweigen ist nicht immer schlecht, hier gefährdet es aber die Glaubwürdigkeit – und das ist ein Schnitt in die Achillesferse der ARD. Der Medienkoloss wird schon seit Jahren infrage gestellt. In Sachen Glaubwürdigkeit brennt es im Fundament, es flammt immer wieder auf, der Rundfunkbeitrag wirkt dabei wie ein Brandbeschleuniger. Jetzt werden auch noch Bürger verhaftet, die diese Zwangsabgabe nicht mehr zahlen wollen. Wenn die ARD eine Krisenstrategie hat, dann muss sie verdammt gut sein, denn ich bemerke sie nicht einmal.
Vielleicht erkennt auch die ARD, dass eine Strategie zu gut ist, wenn sie unsichtbar bleibt. Kaum einen Monat später folgt die beitragsfinanzierte Informationsoffensive. Vorhang auf: Die ARD erklärt ihren Haftskandal – wenigstens ein bisschen, wenigstens irgendwo im Internet. ZAPP, das Medienmagazin des NDR, bringt im Mai 2016 eine Stellungnahme des Amtsgerichts Bad Salzungen zum Haftbefehl, auch der MDR kommt als Gläubiger von Sieglinde Baumert zu Wort. Heute sind solch informative Zeiten längst vorbei. Der Name Sieglinde Baumert taucht im ARD-Universum nicht mehr auf. Er wurde gelöscht. Viele Dokumente gibt es einfach nicht mehr, auch die ZAPP-Berichterstattung zur Haft ist aus dem Internet verschwunden. Spurlos und restlos.
Leicht gekürzter Auszug aus: Markus Mähler, AbGEZockt. Warum Millionen Deutsche keinen Rundfunkbeitrag zahlen und wie Sie sich wehren können. FBV, 352 Seiten, 17,49 €.
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