Eigentlich sollte es diesen Text, dieses Plädoyer für mehr Zivilcourage gar nicht geben (müssen). Dass ich diese Forderung nun aber zu Papier bringe zeigt, dass sie notwendig ist, denn die Zivilcourage in unserem Land schwindet dahin. Dabei sollte der Einsatz für unsere Mitbürger doch eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein: Schließlich ist es ja nicht nur im Sinne unseres Grundgesetzes und unserer Demokratie, sondern in aller erster Linie im tiefsten Sinne menschlich, einander zu helfen und sich zu unterstützen. Dennoch sage ich, der Einsatz für die Mitmenschen sollte selbstverständlich sein. Dass es erschreckenderweise – oder vielmehr absehbarer Weise – nicht mehr ist, sagt viel aus über den Zustand unseres Landes und gibt einen Blick auf die zunehmende Erosion unserer Werte frei.
Die Berichte, die in den letzten Tagen und Wochen die Titelseiten und Aufmacher der großen Zeitungen dominieren, sprechen eine deutliche Sprache:
In Kleinmachnow, einer Gemeinde zwischen Berlin und Potsdam, hat ein Mann eine 27- jährige Joggerin abgepasst und vom Weg in ein Gebüsch gezogen. Dort soll der Mann die junge Frau sexuell missbraucht haben. Stattgefunden habe die Vergewaltigung unweit des Panzerdenkmals an der Autobahn A115. Nur mit Glück konnte sich die Frau von dem Täter losreißen und auf dessen Fahrrad ihrem Martyrium entfliehen, die Polizei fahndet nun nach dem Täter.
Ein anderes Beispiel: In Hessen häufen sich die Berichte über die sogenannte Hessenticket-Mafia. Kriminelle Banden verkaufen an den Bahnhöfen und Haltestellen Fünf-Personen-Gruppenkarten, notieren die Namen mit einem radierbaren Kugelschreiber auf dem Ticket und radieren sie nach der Fahrt wieder aus – oder lassen die ahnungslosen Mitfahrer im Regen stehen, wenn sie vor dem Zielbahnhof aussteigen und diese dann bei einer Kontrolle als Gelackmeierte dastehen.
Zugbegleiter werden von den Gaunern beleidigt und bedroht. Einige der Zugbegleiter sprechen von massiven Einschüchterungen und Gewaltandrohungen, wenn sie nicht die Klappe halten würden. Zwar haben Bundespolizei und DB Sicherheit bereits mit einer verstärkten Bestreifung von Zügen und Bahnsteigen reagiert, dennoch bleibt das Grundproblem: Zu viele Menschen sehen weg. Die Zugbegleiter sind doch nicht allein unterwegs in den Zügen: Warum also eilt ihnen niemand zur Hilfe?
Viele weitere Beispiele aus dem Alltag könnten diese Reihe nun unendlich lang fortsetzen: Beispielsweise das Schweigen der Massen, wenn auf dem Schulhof oder im Bus ein abfälliger Spruch gegen den jüdischen oder muslimischen Mitschüler oder das Mädchen mit dunkler Hautfarbe fällt. Oder die Menschen, die wegsehen, wenn aufgedrehte Jugendliche in die Bahn einsteigen, genüsslich ihre Füße auf die gegenüberliegenden Sitze legen, den ganzen Waggon an ihrer „Musik“ auf lautdröhnenden Bluetooth-Boxen teilhaben lassen und sich kein bisschen um die anderen Fahrgäste scheren. Auch hier herrscht zumeist das sprichwörtliche Schweigen im Walde.
Was ich Ihnen eben im Kleinen geschildert habe, lässt sich auch ins Große übertragen: Viel zu oft wird hierzulande weggesehen, statt zu handeln. Egal ob es hierbei um den Kampf gegen Salafismus, Islamismus und Extremismus geht oder um das entschiedene Eintreten für Rechtsstaatlichkeit und eine konsequente Durchsetzung unserer Gesetze, beispielsweise gegenüber kriminellen Banden und Clans.
Wenn wir weiterhin immer nur den Weg des geringstmöglichen Widerstandes suchen und uns lieber wegducken, als proaktiv zu handeln, dann wird das unsere Demokratie lähmen, denn die Demokratie braucht die Freiheit. Wenn wir uns aber immer weiter einschränken, nur um nicht in einen Konflikt zu geraten, dann geben wir diese Freiheit selbst auf, denn dann müssen wir uns fragen, wem wir das Spielfeld überlassen und ob diese neuen Spieler sich an unsere Spielregeln, unsere Verfassung halten werden.
Wir müssen daher nachdrücklich und immer wieder Stärke von Politik und Rechtsstaat einfordern. Damit meine ich nicht die wahnwitzige Überproduktion von Normen und Regulierungen, sondern meine die großen Linien, die die Politik setzen und die Justiz vollstrecken müssen.
Zugleich gilt es aber auch im Kleinen zu handeln, im Alltag hinzusehen statt „wie von Blindheit geschlagen“ weiterzugehen. Dann können wir selbst Anstoß einer nachhaltigen Veränderung sein.
Ebenso wie ich Beispiele für Wegsehen und Ignoranz, für Wegducken und Blindheit genannt habe, möchte ich auch Beispiele für Personen anführen, die hingesehen haben und durch ihre Zivilcourage begeistert haben, für Personen, die uns als Vorbilder dienen können und sollten:
Ein anderes Beispiel für Zivilcourage bietet ein aktueller Fall aus Berlin: Auf einem Spielplatz in Friedrichshain soll ein Mann versucht haben, ein zweijähriges Mädchen unbemerkt von dessen Mutter anzusprechen und zu entführen. Nur weil eine andere Mutter auf die Situation aufmerksam wurde und die Polizei alarmierte, konnte der Mann gestoppt und die mögliche Kindesentführung verhindert werden.
Zivilcourage ist also möglich – und erfordert nicht einmal, dass man sich persönlich in Gefahr bringt, wie es Tuğçe getan hat. Das mindeste, dass wir aber von jedem Bürger dieses Staates verlangen sollten, ist nicht wegzusehen, sondern die Polizei zu rufen, andere auf die Situation aufmerksam zu machen und gemeinsam einzuschreiten, wenn man nicht allein die Stimme erheben möchte.
Dazu möchte ich aufrufen: Nur, wenn wir bereit sind, füreinander einzustehen und füreinander stark zu sein, können wir unsere Demokratie und unsere Freiheit langfristig erhalten. Sonst nämlich ziehen wir uns in die eigene Echokammer zurück und verkommen zu bloßen Statisten. Eine Demokratie bestehend aus Statisten aber, kann keine wehrhafte, kann überhaupt keine Demokratie im eigentlichen Sinne sein. Das also gilt es zu verhindern, im Kleinen wie im Großen.