Je tiefer man in die Vergangenheit der Bewegung namens »Black Lives Matter« eindringt, desto klarer wird einem: Es gab spätestens seit dem Sommer 2014 zahlreiche Proben für das Stück, das heute auf nationaler, fast weltweiter Bühne gespielt wird. Immer wieder diskutierte man in den USA die mutmaßlichen Verfehlungen von Polizeibeamten im Umgang mit schwarzen Halbwüchsigen und Männern. Bald ging es allerdings auch um Polizisten, die im Dienst getötet wurden. Das Thema erweiterte sich um die Frage, wie weit die Polizei noch in der Lage war, für Ruhe, Recht und Ordnung zu sorgen, wenn sie selbst zur Zielscheibe wurde.
Von den Hütern des öffentlichen Diskurses wurden die beiden Fragen anfangs noch strikt getrennt: Egal unter welchen äußeren Umständen, die Polizei hatte quasi reibungslos zu funktionieren. Dass die Polizei generell dysfunktional gewesen wäre, bestritten allerdings auch ihre Verteidiger. Nur schwer habe sie es in einem Umfeld von überbordender Kriminalität und Rassismus-Verdächtigungen.
Einer der lautesten unter den Verteidigern war und ist David Clarke, bis 2017 Sheriff von Milwaukee im Bundesstaat Wisconsin im mittleren Westen der USA. Clarke – selbst von dunkler Hautfarbe – ist Republikaner und Trump-Anhänger und hätte beinahe einen nachgeordneten Posten in dessen Regierung übernommen. Legendär ist sein Auftritt mit CNN-Anchor Don Lemon im Sommer 2016, als er sich standhaft weigerte, auf die Fragen des Moderators zu antworten, ohne a) eine Gegenfrage zu stellen oder b) gleich den gesamten polit-medialen Komplex der Obama-Jahre in die Mangel zu nehmen.
Es ist ein etwas rauhbeiniger Stil, aber Clarkes Stellungnahme hat nichts von ihrer Aktualität eingebüßt. Es lohnt sich, es auch zwei- und dreimal anzusehen. Es sind im wesentlichen drei Botschaften Clarkes aus dem CNN-Gespräch, die bis heute tragen:
- Es gibt keine Beweise für einen systemischen Rassismus der Polizei in den USA.
- Schwarze sind überproportional in Gewaltdelikte verstrickt, und zwar ebenso als Täter wie als Opfer.
- Die Bewegung um »Black Lives Matter« (BLM) ist getrieben von einer hasserfüllten Ideologie, die den politischen Dialog zwischen den Ethnien und den Parteien, zwischen Polizei und Bürgern vergiftet.
Dabei, und hier kam die persönliche Betroffenheit Clarkes zum Ausdruck, seien es gerade die US-Polizisten, die täglich bemüht sind, die oftmals tödliche Kriminalität unter Schwarzen einzudämmen. Diese drei oder vier Botschaften Clarkes bilden bis heute die Grundlinien einer Entgegnung auf die Anklagen und Ansprüche, die im Umfeld der BLM-Bewegung laut werden.
Der Fall Milwaukee könnte übrigens gerade deshalb paradigmatisch sein, weil er anders war: Im Sommer 2016 war es in der größten Stadt von Wisconsin zu Unruhen gekommen. Der Auslöser war ein tödlicher Schuss, den in diesem Fall ein schwarzer Beamter auf einen schwarzen, illegal bewaffneten Teenager abgefeuert hatte. Es folgten drei Tage Landunter, mit mehr als zehn weiteren Verletzten. So zeigte sich, dass es vielleicht wirklich ein paar generelle Probleme in den USA gab: Kriminalität, illegalen Waffenbesitz und eine überforderte Polizei. Unmittelbar vorausgegangen war dem Interview die Tötung dreier Polizeibeamten durch die gezielten Schüsse eines schwarzen Separatisten in Baton Rouge. Doch keine Unruhen folgten auf diese Todesfälle oder auf den Tod von fünf Polizistin zehn Tage zuvor in Dallas durch die Schüsse eines Attentäters. Die Reaktion auf diese Todesfälle ließ sich nicht mit jener anderen auf den Tod eines Schwarzen in Milwaukee vergleichen. Sheriff Clarke fand das betrüblich.
Der »Ferguson-Effekt«
Etwas sanfter im Stil, doch genauso hart in der Sache vertritt etwa die Juristin und Publizistin Heather Mac Donald die Thesen Clarkes. In einem Interview mit Fox News stellte sie kürzlich fest, dass allein am vorvergangenen Wochenende 14 Menschen in Chicago erschossen wurden, darunter die dreijährige Tochter eines Gangsters, der natürlich das eigentliche Ziel des Schusses war. An nur einem Wochenende wurde auf 106 Personen in Chicago geschossen, und das sind nur die aktenkundigen Fälle. Im laufenden Jahr gab es dort bisher 300 Tote durch Schusswaffen, durch die Polizei starben hingegen drei bewaffnete Gefährder. In zwei Büchern und vielen Artikeln hat Mac Donald den »Mythos des systemischen Rassismus der Polizei« angegriffen, für sie ist das eine »Erzählung der Obama-Ära«. Und sie meint damit wohl genau das: eher ein Märchen als harte Fakten.
Nach ausgiebigen und detaillierten Studien kann Mac Donald zudem sachkundig dagegenhalten. Das Problem der schwarzen Gemeinschaft in Chicago und in den USA ist demnach nicht die Polizei, es sind Kriminelle. Das Argument ist natürlich nicht neu, wird aber im Moment kaum gehört, geschweige denn verstanden. Anfang Juni meldete sich auch Sheriff Clarke wieder zu Wort: Die Abschaffung der Polizei sei eine »Clownerei«, deren größte Verlierer gerade arme Schwarze in ihren von Kriminalität beherrschten Wohnvierteln wären: »Die Polizei ist das einzige, das zwischen ihnen und gewalttätigen kriminellen Beutegreifern steht. Um ihnen so etwas [die Abschaffung der Polizei] anzutun, müsste man die Schwarzen schon sehr verabscheuen.«
Doch die Nachteile für die bereits vielfach benachteiligten Gesellschaftsschichten sind auch ohne eine Abschaffung der örtlichen Polizeien zu erwarten. Nach den Unruhen, die sich 2014 an einen Vorfall in Ferguson im Bundesstaat Missouri anschlossen, sprach Heather Mac Donald als erste vom sogenannten »Ferguson-Effekt«, der sich damals in einem merklichen Anstieg der Kriminalität zeigte. Und ja, es ist eigentlich nur zu logisch: Aktivisten und andere Aufgescheuchte protestieren gegen einen angeblich »systemischen« Rassismus der Polizei und säen so den Geist des Widerspruchs gegen die Sicherheitskräfte. Wenn dann die hohe Politik – wie damals die US-Regierung unter Barack Obama – dieser Botschaft nicht entgegentritt, sondern sie übernimmt und folglich die eigenen Beamten verdächtigt, streut das weiteren Sand ins Getriebe. Die Polizei zieht sich – von der Wut der Proteste zurückgedrängt – zunehmend aus der Überwachung der Rechtsordnung zurück und öffnet so Wege für Kriminelle.
Systemischer »cop hate« bei den Protesten
Durch Wiederholung des Rituals kann sich ein solcher Trend dann verstetigen. Ein FBI-Bericht von 2017 konstatierte eine steigende Feindseligkeit gegen Polizisten. Die wiederholten Proteste nach Ferguson hätten es »sozial akzeptabel gemacht, die Maßnahmen der Sicherheitskräfte in Frage zu stellen und zu diskreditieren«. Seitdem seien »offene Missachtung und Feindseligkeit« gegen die Polizei zur »neuen Norm« geworden. Hinzu kam eine steigende Anzahl von im Dienst getöteten Beamten, bei denen es nicht um Widerstand gegen eine Festnahme ging, sondern schlicht um »Hass gegen die Polizei« (in 28 Prozent der Fälle). Die Beamten wurden also sozusagen im direkten Kampf mit einem Kombattanten, einem Polizeihasser getötet. Das war im Jahr 2016. Das FBI kam am Ende zu dem Schluss, dass die Polizei in den Vereinigten Staaten sich auf dem Rückzug befand: »Polizeibehörden ebenso wie individuelle Beamte entscheiden sich immer öfter gegen eine proaktive Polizeitätigkeit.« Auf Deutsch heißt das offenbar: Man zeigte weniger Präsenz, agierte weniger vorausschauend, zog sich aus Brennpunkten zurück. Wenn man diese langfristige Entwicklung und die jüngste gewaltsame Protestwelle bedenkt, steht Trumps Drohung mit dem Militär in einem verständlicheren Licht da.
Man weiß es inzwischen zur Genüge: Die Polizistenfeindlichkeit der Protestler und Aktivisten ist selbst systemisch geworden. Für Bewegungen wie »Black Lives Matter« ist die generalisierte Ablehnung von Polizisten (englisch »cop hate«) ein zentrales Element ihrer Ideologie. Der Vorwurf, rassistisch zu agieren, muss kollektiv an die Polizei gehen, da er sich sonst in der Individualität des einzelnen Beamten verfangen würde. Damit lebt BLM genau das aus, was es zu bekämpfen behauptet: eine gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, ohne jede Rücksicht auf den einzelnen Polizisten.
Die dazu passende, auch hierzulande bei Linksradikalen beliebte Parole ist »all cops are bastards«, kurz ACAB. Die Mitglieder der ACAB-Bewegungen entledigen sich so einer kognitiven Dissonanz, da sie glauben, einer universalistischen Weltanschauung anzugehören, die für Freiheit und Gleichheit, vielleicht sogar für die Brüderlichkeit unter den Menschen eintritt. Der Ausschluss bestimmter Personen aus diesem Kollektiv müsste begründet werden. Da das nicht möglich ist, wird er unsichtbar gemacht hinter der Verblendung der ACAB-Parole, die den einzelnen Polizisten, der das Gesetz nicht nur vertritt, sondern auch an es gebunden ist, zu einem Cyborg erklärt, einem Automaten, der aus irgendwelchen Tiefen des Staates »rassistische Anweisungen« erhalte, wie einschlägige Websites formulieren.
Eine Befreiungsbewegung?
Über allem schwebt die neue Erzählung der westlichen Geschichte als einer von Unterdrückung und Rassismus. Unterdrückerisch und rassistisch müssen also auch die heutigen Repräsentanten einer Kultur und von Staaten sein, die so viel gesündigt haben. Und dazu gehören natürlich auch die Polizisten als offensichtliche Stellvertreter staatlicher Macht.
Die Ironie daran ist, dass es eben diese Kultur und diese Staaten – zusammen mit ihren uralten, toten weißen Männern und Frauen – waren, die jene Freiheiten erfochten haben, von denen die heutigen Aktivisten profitieren und die sie in ihrem Sinne ausweiten oder modifizieren wollen. Ein Glück, dass sie dafür nicht in China oder einer afrikanischen Oligarchie demonstrieren.
Dabei ist der freiheitliche Charakter der Bewegung tatsächlich alles andere als klar. Denn Vertreter von Black Lives Matter haben immer wieder gegen die freie Meinungsäußerung agiert. Die Bewegung fußt nicht etwa auf einer sorgfältigen Analyse der Fakten, sondern vor allem auf Emotionen und eindeutigen Loyalitäten. Das hauptsächliche Druckmittel dabei dürfte die Furcht sein, aus dem Bannkreis der »linken«, angeblich progressiven Gemeinde ausgeschlossen zu werden. Die immer wieder in Gewaltakte ausartenden Proteste legen in Wahrheit die innere Unsicherheit der Bewegung offen.
Die marxistischen Wurzeln von Black Lives Matter
Unfreiheit verströmt auch die Diskussionskultur von BLM. In der Bewegung herrscht eine strenge Hackordnung, gemäß der alle »Privilegierten« (also Weißen) ein geringeres Äußerungsrecht haben als die »unterdrückten« Minderheiten. Die Meinungsfreiheit ist demnach nach innen bereits durch informelle Maßnahmen beschnitten, dasselbe muss nur noch nach außen hin durch neue Gesetze und Regeln durchgesetzt werden.
Von den »Privilegierten« werden gewisse Gesten der »Gebrochenheit« (Jacob Frey, Bürgermeister von Minneapolis über sein »white privilege«) und der Selbsteinklammerung erwartet: Ihre Erfahrungen zählen nicht so viel wie die der »Unterdrückten«. Außerdem droht in jeder Unterhaltung deren sofortiges Ende, wenn der »Code« verletzt wird und Behauptungen aufgestellt werden, die gegen das Gruppendogma verstoßen (»hate speech«). Gegner der Doktrin werden durch kollektive Machtdemonstrationen eingeschüchtert, die natürlich auch von den Regierenden erwartet werden.
Menschen, die sich näher mit BLM befasst haben, sprechen von einer Bewegung mit neo-marxistischen Wurzeln, die es auf das Ausweiden gesellschaftlicher Unterschiede angelegt hat. Die Kategorien von Rasse und Klasse werden dabei munter durcheinander geworfen, obwohl natürlich keineswegs alle amerikanischen Schwarzen heute arm, bildungs- oder chancenlos sind. So springen die BLM-Theoretiker gern von der angeblichen Polizeigewalt zur ökonomischen »Ungleichheit zwischen den Rassen«, die dann global als »wirtschaftliche Gewalt« gegen Schwarze etikettiert wird.
Auch in der Diskussion um die »Abschaffung« der öffentlichen Polizei spielten diese Vorurteile eine Rolle. Dabei hat sogar der linksgestrickte Nachrichtensender CNN herausgefunden, dass 70 Prozent der Amerikaner relativ zufrieden mit ihrer Polizei sind, auch wenn inzwischen an die 60 Prozent glauben, dass übertriebene Polizeigewalt vor allem schwarze Mitbürger trifft. In einer vor vier Jahren durchgeführten Umfrage glaubte das nur ein Drittel der Befragten. Frappant bleibt, wie sehr die beiden aktuellen Zahlen in unterschiedliche Richtungen weisen.
Im Moment – nach dem blutigen Wochenende von Chicago – zeigen auch schwarze Bürgerrechtler eher mit dem Finger auf die BLM-Bewegung und die »Rechtlosigkeit«, die infolge der Unruhen in allen größeren Städten der USA entstand. Auch in New York sind die Folgen des »Ferguson-Effekts« schon zu sehen: Polizeibeamte sprechen von einem lange nicht gesehenen Anstieg von Einbrüchen und Tötungsdelikten. In der vierten Juni-Woche gab es 63 Schießereien in der Stadt, ein Anstieg um 130 Prozent gegenüber dem Vorjahr, während der Stadtrat insgesamt eine Milliarde Dollar aus dem Polizeihaushalt streichen und für andere Zwecke ausgeben will. Das entspricht einem Sechstel des bisherigen Polizeibudgets.
Im zweiten Teil geht es dann darum, wie Black Lives Matter entstand und welche Blüten die Organisation inzwischen auch diesseits des Atlantiks treibt.