„In der Außenpolitik geht es nicht um das Pflegen von Freundschaften, sondern um das meist temporäre Wahrnehmen gemeinsamer Interessen; die zudem immer wieder der Überprüfung und der Vergewisserung ihrer Belastbarkeit bedürfen.“
Diese Definition Henry Kissingers, eines der größten amerikanischen Diplomaten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, sollte über dem Portal jedes Außenministeriums der Welt in Stein gehauen sein.
Mit dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums zum Ausgang des 20. Jahrhunderts entfielen mit der kommunistischen Bedrohung zugleich auch die Notwendigkeit des Zusammenhaltes der Europäischen Union und auch der NATO. Das neue Russland stellt ungeachtet mancher völkerrechtlicher Flegeleien und seiner anhaltenden Fremdheit verglichen mit dem durch die Aufklärung geprägten Westen keine ideologisch-missionarische Gefahr mehr dar. Niemand kann ernsthaft glauben, dass Putin von glanzvollen Siegesparaden „Unter den Linden“ oder auf den „Champs-Elysées“ träumt. Allein der marode Zustand seines Landes verbietet jederlei Aktivitäten dieser Art. Das bedeutet aber nicht, dass Moskau keine Interessen hat. Nur müssen diese den europäischen Befindlichkeiten nicht grundlegend entgegenstehen. Ein kühler Blick auf den Zustand der EU muss zu dem Ergebnis führen, dass der Traum eines einigen und gemeinsam handelnden Europa längst zur tragischen Illusion geworden ist.
Doch was bleibt vom transatlantischen Verhältnis? Die USA sind die einzig verbliebene Großmacht auf der Welt. Mit Chinas unverhohlenem Anspruch ihnen diesen Rang zumindest abzulaufen, ist Washington die zentrale Herausforderung des 21. Jahrhunderts erwachsen. Von besonderer Bedeutung ist dabei, dass Peking seine Rolle nicht nur als wirtschaftliche Führungsmacht, sondern auch als gesellschaftspolitisches und damit totalitäres Modell für alle ansieht und dabei schon jetzt vor territorialen Ansprüchen z.B. im Südchinesischen Meer nicht zurückschreckt. Angesichts schwindender natürlicher Ressourcen bei gleichzeitig ständig wachsender Weltbevölkerung geht es bei diesem Ringen für beide Kontrahenten tatsächlich um alles. Wenn die Welt nicht zu einem für beide akzeptablen Kompromiss findet, scheint ein gewaltsamer Konflikt fast unausweichlich.
Doch Vorsicht: gegen die deutschen Interessen muss eine solche Politik keineswegs sein. In einer Symbiose der Abhängigkeit Russlands von deutscher Technologie und Wirtschaftskraft bei gleichzeitiger Versorgung des riesigen russischen Marktes im Gegenzug zu garantierten Rohstofflieferungen könnte für Deutsche und Russen eine Win-win-Situation entstehen. Die USA könnten in diesem Fall sogar den Schulterschluss mit Russland suchen. Ihren Anspruch auf Präsenz in Europa aufgeben und dafür russische Neutralität im Konflikt mit China einfordern. Europa würde sich in diesem Fall zwar mit seiner eingeschränkten Souveränität abfinden müssen, könnte sich aber ungestört seinen Geschäften hingeben. Insbesondere für die Deutschen mit ihrer aus der Geschichte begründeten pazifistischen, ja fast femininen Mentalität sogar erstrebenswert. Ein Leben in Frieden und Passivität – nur eben zaghaft, still und leise aus dem Nebenzimmer der großen Bühne.