Lesen und staunen: Die Bundeskanzlerin hat Hof gehalten für die Süddeutsche und ein weiteres halbes dutzend europäischer Zeitungen, und die Medien in Deutschland überschlagen sich über diese Großtat ihrer Sonnenkönigin Angela Merkel.
Und warum staunen? Weil jene Botschaft, welche die Kanzlerin angetreten ist, vor den geladenen Medien zu verbreiten, verwirrt. Der Stern beispielsweise hat ein Abo bei der Süddeutschen, also das Interview hinter der Bezahlschranke gelesen und titelt anschließend: »Merkel ruft Deutschland zu „Akt der Solidarität“ mit EU auf«.
Das Handelsblatt schrieb Ende Mai 2020 von „frischen Milliarden“, mit denen „Europa gestärkt“ werden soll. Angela Merkel tritt jetzt an, irgendeinen rechtfertigenden moralischen Überbau für diesen Wahnsinn zu kreieren, kurz bevor sie für ein halbes Jahr auf dem EU-Ratsvorsitz thront. Eigentlich hätte Erdogan Merkel seinerzeit den goldenen Thron, auf dem sie in Ankara saß, gleich als Geschenk mit nach Berlin ins Kanzleramt geben sollen, passender hätte man Merkels System der EU-europäischen Hofberichterstattung kaum abbilden können als mit ihr selbst auf diesem Thron und die genehmen europäischen Zeitungen samt Süddeutscher Zeitung ihr zu Füßen um das Gesagte dann vor dem gemeinen Leser noch hinter einer Wall zu verstecken.
Es muss also nicht nur gelesen, es soll obendrein noch bezahlt werden, was selbstverständlich in eine ordentlich zugängliche Pressekonferenz gehört hätte. Kritisch nachgefragt und zusätzlich schriftlich niedergelegt für alle interessierten Medien. Anne Will und ARD wurden dieses Mal nicht dienstverpflichtet, die öffentlich-rechtlich finanzierten Studios für die Chefin zu öffnen zur Sessel-Ansprache an die Nation – einfach zu geringe Reichweite.
Dem Handelsblatt hatte Merkel ihre Kampagne für die EU im Vorfeld quasi schon diktiert, als das Blatt die Begeisterung für die EU in einem bezeichnenden Satz zusammenfasste: „Für die Mehrheit der Menschen außerhalb der europäischen Grenzen ist Europa heute die attraktivste Region der Welt.“
Angela Merkel sagt im Interview, es sei jetzt in der Corona-Krise geboten, „dass Deutschland nicht nur an sich selbst denkt, sondern zu einem außergewöhnlichen Akt der Solidarität bereit ist.“
Doch, wer solche Sätze seinem Wahlvolk entgegenschleudert, der ist sich seiner Macht auf eine Weise sicher, dass schon diese Aufforderung zutiefst antidemokratische Züge trägt. Wer dem wahrscheinlich solidarischsten Volk des Kontinents vorhält, bisher nur an sich selbst gedacht zu haben, der agiert so unverfroren, dass einem schwindelig wird über den Zustand der Demokratie in diesem Land, wo daraufhin kein Aufschrei oder gigantisches Gelächter zwischen Hamburg und München zu vernehmen ist.
Wenn aber schon die Bundeskanzlerin einen „außergewöhnlichen Akt der Solidarität“ von ihren Deutschen fordert, dann wird es richtig teuer. Obszön teuer. Es fällt in die Zeit der deutschen EU-Ratspräsidentschaft, die Corona-Billion über die EU-Staaten auszugießen. Und die Bundeskanzlerin bereitet ihr Volk jetzt schon darauf vor, dass die dicksten Kamellen aus dem Wideraufbaufond genannten Geldregen anderswo niederprasseln werden.
Aber noch verwirrender: Die merkelsche Rechtfertigung für den Anschluss des deutschen Steuerzahlers an diese immer brutaler und gröber abpumpende EU-Melkmaschine ist nicht einmal nur wirtschaftlicher Natur, es geht ihr um den Machterhalt der europäischen politischen Klasse: „Der Wiederaufbaufonds kann nicht alle Probleme Europas lösen. Ihn nicht zu haben, würde aber alle Probleme verstärken. Eine sehr hohe Arbeitslosigkeit in einem Land kann dort politische Sprengkraft entwickeln.“ Die Gefährdung der Demokratie wäre nach Merkel dann größer. Sie verwechselt eine Gefährdung der Demokratie einmal mehr einer Gefährdung der Macht der Etablierten.
Merkel äußert gegenüber der Süddeutschen und weiteren fünf europäischen Zeitungen, sie setze darauf, „dass die Mitgliedstaaten in einer so außergewöhnlichen Situation ein hohes Interesse an Gemeinsamkeiten haben.“ Ja, es klingt wie eine Drohung, dass im anderen Falle das deutsche Schulden-Portemonnaie dann eben vor dem Zugriff zuschnappen könnte. Vorteil für Merkel: Hatte sie in der von ihr selbst forcierten Massenzuwanderung ab 2015 noch ähnlich aber erfolglos agiert, kann man ihr das Corona-Virus kaum vorhalten. Die Art und Weise des deutschen Lockdowns dann allerdings schon.
Aber so frech das Ansinnen, so altbacken und abgestanden das Mantra, mit dem Merkel die Deutschen bei der Kandare halten will: „Was gut für Europa ist, war und ist gut für uns.“ Das Merkels Politik für Europa von vielen Europäern nicht mehr als gut für ihr Land empfunden wurde, führte zur Flucht der Briten aus diesem so schwer kontaminierten EU-Pakt, ebenso, wie es einen tiefen Spalt geschlagen hat zwischen dem Westen und Osten und dem Norden und Süden Europas.
Zur Audienz zugegen waren neben der Süddeutschen Zeitung: La Stampa (Italien), La Vanguardia (Spanien), Le Monde (Frankreich), Polityka (Polen) und der Guardian aus Großbritannien.
Der Bericht der Süddeutschen zum Interview ist in Sachen kritischer Berichterstattung ein Komplettversagen mit Vorsatz. Das Blatt, das in einem Rechercheverbund bereits mit den Öffentlich-rechtlichen gemeinsame Sache macht, nennt dieses Treffen der Zeitungen im merkelschen Audienzsaal tatsächlich und wortwörtlich eine „europäische Bühne“.
Es wird noch grotesker: Selbst Zeitungen, die nicht eingeladen waren, zu Füßen der Majestät ihre Aufnahmegeräte anzuschalten, machen den Eindruck, als würden sie sich schon für den nächsten Durchgang bewerben:
Ausgerechnet die Neue Züricher Zeitung (NZZ) begleitet diese bizarre Audienz wohlwollend vom Katzentisch aus. Die NZZ lud dafür einen deutschen selbsternannten Zukunftsforscher ein, öffentlich aus der Glaskugel zu lesen. Das Blatt selbst jubelte mit Blick auf Merkel davon, dass sich die EU schon bald nach Beginn der Corona-Krise „alter und neuer Stärken besonnen“ hätte. Europa sei „solidarisch und widerstandfähig“ darf der Zukunftsforscher aus irgendeinem dieser wie auch immer subventionierten Thinktanks heraus erzählen, langfristig könne der Kontinent zum „„best place to be“ werden; freier als China und solidarischer als die USA.
Freier als China? Na das wäre ja mal was. Sind die Medien einschließlich NZZ eigentlich vollkommen gaga geworden? Anstatt sich entsprechend ihrer Aufgabe kritisch mit den Regierenden auseinanderzusetzen, flankieren sie diese Merkel-Audienz noch mit so einem hochoffensichtlichen Unsinn?
Wovon wird diese fortschreitende Demokratieverdrossenheit der Kanzlerin also fast noch übertroffen? Von der Schamlosigkeit der sich um sie versammelten Hofberichterstattung.