So „ewig“ regiert die deutsche Kanzlerin bereits, dass sie in ihrer langen Amtszeit schon zum zweiten Mal Deutschland in den sechs Monaten einer EU-Ratspräsidentschaft vertritt. Zwar ist sie diesmal nicht mehr zugleich Vorsitzende des Europäischen Rates wie 2007. Denn damals gab es die mit dem Lissabon-Vertrag 2009 eingeführte Position des EU-Ratspräsidenten noch nicht, die heute jeweils für zweieinhalb Jahre vergeben wird. Dieses Amt übt derzeit der Belgier Charles Michel aus. Doch auch damals war es eine Krisen-Präsidentschaft, weil die weitere europäische Entwicklung nach dem Scheitern der EU-Verfassungen bei den Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden auf Messers Schneide stand. Deutschland stellte durch eine Reihe von Zugeständnissen die entscheidenden Weichen für den Lissabon-Vertrag, der dann später von allen Mitgliedsstaaten ratifiziert wurde und trotz deutlicher Bedenken auch die Hürde des Karlsruher Bundesverfassungsgerichts nahm.
Dass dieser Wiederaufbaufonds mit gemeinsam aufgenommenen Krediten der EU finanziert werden soll, ist ein Sündenfall, der gegen das eindeutige Verschuldungs-Verbot in den völkerrechtlich verbindlichen EU-Verträgen verstößt. Weil für Vertragsänderungen aber die Zustimmung in allen nationalen Parlamenten der 27 Mitgliedstaaten notwendig wäre und dieses Verfahren aufwendig und zeitraubend ist, die Corona-Rezession aber Eile erfordert, werden mehr oder weniger elegante Umgehungstatbestände das Ergebnis langer Brüsseler Nächte sein. Diese Nachtrunden, die in Corona-Zeiten mit ihrer kühlen Videokonferenz-Atmosphäre unterbleiben mussten, erleben womöglich bereits am 17. und 18. Juli ihre Wiederauflage, wenn sich die 27 Staats- und Regierungschefs erstmals wieder persönlich treffen.
Kompromisse in der EU werden im Zweifel immer mit Geld erkauft. Da Deutschland als größte und vermeintlich reichste europäische Volkswirtschaft eingestuft wird, ist vor allem deutsche Großzügigkeit gefragt, wenn sich die EU auf einen gemeinsamen Nenner verständigt. Deshalb weiß man auch nie, ob nationale Widerstandslinien gegen bestimmte EU-Vorhaben wirklich aus Überzeugung aufgebaut werden oder in erster Linie als Verhandlungsmasse, die man sich dann mit deutschen Zahlungen abkaufen lässt. Da die deutsche Politik seit vielen Jahren an der Mär vom reichen Deutschland strickt, das so unglaublich vom europäischen Binnenmarkt und der Euro-Währungsunion profitiert, müssen sich die deutschen Regierungsvertreter nicht wundern, wenn in Brüssel und den EU-Hauptstädten immer wieder Forderungen an sie gestellt werden. Dass in den südeuropäischen Krisenländern, vor allem in Italien, aber auch in Spanien, die mittleren Vermögen der Bürger seit Jahren deutlich über denen Deutschlands liegen und auch die Steuerbelastung in beiden Ländern deutlich niedriger ist, macht vor allem der Ökonom Daniel Stelter immer wieder öffentlich.
Doch die Eigenverantwortung der Mitgliedsstaaten für ihre Finanz- und Haushaltspolitik, die einst die Grundlage dafür war, dass Deutschland mit dem Maastrichter Vertrag die Euro-Einführung ermöglichte und sich dafür die „No-Bail-Out-Klausel“ verbindlich zusichern ließ, ist längst Geschichte. Jeder Mitgliedstaat sollte für seine Schulden selbst geradestehen. Ein längst ausgehöhltes Gebot! Statt der eigenen Bevölkerung Reformen zuzumuten, lässt man sich lieber von den reicheren Nordstaaten aushalten, obwohl zumindest die deutschen Bürger im Schnitt über deutlich weniger Vermögen verfügen als Italiener und Spanier. Das ist eine Pervertierung des Solidaritätsgedankens.
Dass die Geschichte des Euro eine „Geschichte des permanenten Rechtsbruchs“ darstellt, monierte einst der frühere Verfassungsrichter Paul Kirchhof. Nicht erst der aktuelle Disput über die Karlsruher BVerfG-Entscheidung zum Anleihekaufprogramm der EZB hat diesen grundlegenden Konflikt erneut ins öffentliche Bewusstsein gebracht. „Pacta sunt servanda“ (Verträge sind einzuhalten) gilt als wichtigster Grundsatz im öffentlichen wie im privaten Recht. In der EU und in der europäischen Währungsunion ist dieser Grundsatz längst suspendiert. Die kommenden Monate werden das erneut sehr anschaulich dokumentieren, auch wenn Deutschland die Ratspräsidentschaft ausübt.