Am Montag erhielt Andreas Voßkuhle vom Bundespräsidenten seine Entlassungsurkunde als Bundesverfassungsrichter. Damit geht womöglich eine Ära im Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) in Karlsruhe zu Ende, die sich durch das verfassungsrechtliche Bemühen auszeichnete, der immer stärker spürbaren Selbstermächtigung der EU-Institutionen deutliche Schranken zu setzen und die nationale Identität des für Deutschland geltenden Grundgesetzes hochzuhalten. Der letzte europakritische Paukenschlag des Zweiten Senats war Anfang Mai seine vorläufige Absage an das PSPP-Anleihekaufprogramm der Europäischen Zentralbank (EZB). Verbunden war sie mit einer scharfen Rüge des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), der zuvor allzu willfährig der EZB einen generellen Freibrief für ihre Aktivitäten ausgestellt hatte. Voßkuhle, der langjährige Präsident des BVerfG (2010-2020), der diesen Paukenschlag als letzte spektakuläre Amtshandlung verkündete, war der letzte Karlsruher Richter, der bereits am legendären „Lissabon-Urteil“ zum EU-Vertrag mitgewirkt hatte. Das BVerfG gab damals trotz gewichtiger Bedenken zwar grünes Licht für den umstrittenen EU-Vertrag, setzte aber der weiteren Integration Europas strenge Grenzen.
Sehr nachdrücklich postulierten die Richter im Lissabon-Urteil, die Europäische Union sei kein Staat. Das Europaparlament etwa sei zu „maßgeblichen politischen Leitentscheidungen“ nicht befugt. Sollte jemals ein europäischer Bundesstaat entstehen, dürfe Deutschland nicht beitreten, weil damit die Ewigkeitsklausel in Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes gebrochen werde. Nur durch eine neue Verfassung, die nach Art. 146 GG aber zu ihrer Wirksamkeit einer Volksabstimmung bedarf, könnte nach Lesart des BVerfG die staatliche Ordnung Deutschlands aufgegeben werden.
Bisher war das BVerfG, vor allem der Zweite Senat, ein Garant für die Bewahrung der ehernen Garantieklausel des Grundgesetzes und damit der nationalstaatlichen Identität. Diese Rechtsposition ist heute herrschende Meinung. Doch der politische Veränderungsdruck ist enorm, wie sich in den Wochen nach dem letzten Karlsruher Paukenschlag-Urteil gezeigt hat. Trotz des in den EU-Verträgen normierten Verbots einer gemeinsamen Kreditaufnahme der EU wird es dazu kommen. Deutschlands Kanzlerin hatte ihren Segen gemeinsam mit Frankreichs Präsident dazu bereits vor Wochen gegeben. Bei der Videokonferenz der EU-Regierungschefs am vergangenen Freitag war diese Grundsatzentscheidung dem Vernehmen nach bereits unstrittig. Die EZB fühlt sich mit ihrer Politik, die längst ihre Mandatsgrenzen überschritten hat, allein dem EuGH verpflichtet. Das BVerfG und seine Bedenken lassen die europäischen Richter kalt. Selbst Bundesbankpräsident Jens Weidmann lässt in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS) erkennen, dass man „einen angemessenen Weg“ finden wird, um der Bundesregierung und dem Bundestag die vom Verfassungsgericht verlangten „Erwägungen des EZB-Rates zugänglich zu machen“. Wer mit einem Ausstieg der Deutschen Bundesbank aus dem Anleihekaufprogramm rechnet, dürfte sich deshalb verrechnet haben.
Überhaupt stellt sich die Frage, ob nicht auch am BVerfG im Zweiten Senat bald ein anderer Wind weht oder andere, vor allem EU-kompatiblere Akzente gesetzt werden. Manche Mehrheitsvoten in der Vergangenheit ergingen nur mit fünf zu drei Stimmen, etwa die 2014 ergangene Entscheidung über einen Verzicht auf eine Sperrklausel für die Europawahl, aber auch in diesem Jahr bei der Ablehnung eines europäischen Patentgerichts. Für Voßkuhle rückt jetzt mit Doris König eine Richterin zur Vorsitzenden des Zweiten Senats auf, die im Patentgerichts-Urteil zur dreiköpfigen, aber „europafreundlichen“ Minorität zählte. Voßkuhles vakante Richterstelle im achtköpfigen Zweiten Senat besetzt neu die Juristin Astrid Wallrabenstein, die auf dem Ticket der Grünen von Bundestag und Bundesrat einstimmig gewählt wurde. Liest man ihre Zitate in der FAS nach, die just am Tag vor dem Erhalt ihrer Ernennungsurkunde durch den Bundespräsidenten erschienen sind, dann zeigt sie sich in vielerlei Hinsicht „offen“ für mehr europapolitische Flexibilität des deutschen Verfassungsgerichts. Sie relativiert bereits die Forderung aus der Entscheidung zum Anleihekaufprogramm, dass die von der EZB verlangte Erklärung „in einem neuen Beschluss des Rates“ ergeht. Wichtig sei vor allem, dass die Karlsruher Forderungen ernst genommen werden. Was die Hürden des deutschen Grundgesetzes für eine weitere europäische Integration anbelangt, gibt sie sich wieder „offen“, ob „wir bei einer weiteren Entwicklung zu mehr europäischer Staatlichkeit in Deutschland gleich eine neue Verfassung brauchen“. Sie jedenfalls sieht offenbar keinen Grund, dass in Deutschland bereits beim nächsten europäischen Integrationsschritt der Art. 146 GG zieht: Neue Verfassung, testiert durch das deutsche Staatsvolk.
Neue Akzente also auch in Karlsruhe? Europa lässt zentralstaatlich grüßen!