Tichys Einblick

Bilderstürme, Fußwaschungen und Kniefälle: Die Rückkehr des Religiösen

Die antireligiöse Entziehungskur, die die alte Linke dem Volk verordnet hatte, endet nun offenbar mit einer neuartigen Ersatzdroge. Gott bleibt tot, aber die neue Linke liebt sakrale Handlungen.

Edwin Andrade

Geschichte wiederholt sich nicht, aber Ähnlichkeiten sind manchmal unübersehbar. Das Schicksal vieler Statuen in den USA, in Großbritannien und anderswo erinnert an das, was im vierten Jahrhundert im Römischen Reich reihenweise geschah, als sich das Christentum endgültig als neue und höchst intolerante Staatsreligion durchsetzte. Edward Gibbon beschreibt zum Beispiel in seinem „Verfall und Untergang des Römischen Reiches“ das Ende der Serapis-Statue in Alexandria: „Ein furchtloser, vom Glaubenseifer beseelter und mit einer schweren Streitaxt bewaffneter Soldat erklomm die Leiter, und sogar die christliche Menge bangte um den Ausgang des Zweikampfes. Er führte einen kräftigen Hieb gegen die Wange des Serapis; sie fiel zu Boden … Der siegreiche Soldat wiederholte seine Streiche, das riesige Götzenbild stürzte und barst in Stücke, und man schleifte die Gliedmaßen des Serapis mit Schimpf und Schande durch die Straßen Alexandrias.“

Nun wurde Edward Colston sicher nie als Götze verehrt, aber der Eifer jener Demonstranten, die die Statue des Politikers und Sklavenhändlers des 17. Jahrhunderts in Bristol vom Sockel stürzten, das Bronzebildnis mit Füßen traten und schließlich im Hafenbecken versenkten, war vermutlich nicht geringer als der der Christen im spätantiken Alexandria.

Vergleichbare Aktionen fanden auch in den USA statt. In Minnesota wurde unter dem Jubel von Demonstranten eine Statue des Amerika-Entdeckers Christoph Kolumbus gestürzt. Denkmäler des Südstaatengenerals Robert E. Lee und des Präsidenten Andrew Jackson wurden mit Graffiti verschmiert. In Belgien solche des Königs Leopold II. Das Denkmal des britischen Kriegs-Premiers Winston Churchill in London wurde, nachdem es mit dem Spruch „…was a Racist“ besprüht worden war, nun in eine Art Schutz-Karton eingepackt. 

Die Demonstrationskulturen der Gegenwart produzieren sicher nicht zufällig Bilder – im konkreten aber auch im übertragenen Sinn – mit quasi-religiösem Symbolwert, der über konkrete politische Aussagen hinausgeht und an viele andere Bilderstürme nicht nur der westlich-europäischen Geschichte erinnert. In den Ruinen von Persepolis und anderen Relikten des vorislamischen Persiens kann man noch heute zahlreiche Zeugnisse des Bildersturms der islamischen Eroberer sehen: herausgemeißelte Köpfe von Großkönigen. Der drastischste islamische Bildersturm war 2001 die Sprengung der Buddha-Figuren von Bamiyan durch die Taliban. Dieses Kulturverbrechen der islamistischen Gotteskrieger, denen die Beseitigung der Buddha-Gesichter im 19. Jahrhundert noch nicht genügt hatte, hat bezeichnenderweise in der westlichen Öffentlichkeit aber keine allzu tiefen Spuren hinterlassen. Missliebige Denkmäler zu zerstören, ist jedenfalls, wie die jüngsten Ereignisse belegen, keinesfalls tabu im gegenwärtigen Westen.

Die Übergänge zwischen religiösem oder ideologischem Puritanismus und säkularer Erinnerungspolitik sind wohl ebenso fließend wie die Beziehungen zwischen Religion und Politik immer eng verwoben waren. Auch die Damnatio Memoriae im alten Rom, die Verdammung des Andenkens an frühere Kaiser, die deren Nachfolger vielfach verhängten und danach sogar deren Münzen aussortieren ließen, hatte schon einen religiösen Beigeschmack. Denn schließlich beanspruchten viele Kaiser seit Caesar, dass sie heilig („divus“) seien.

Die Renaissance der (quasi)-religiösen Symbolhandlungen bei aktuellen sozialen Bewegungen geht aber weit über den Bildersturm hinaus. Man trifft da überall auf die Symbolsprache der christlichen Religion. Der Kniefall der „Black Lives Matter“-Demonstranten gehört etwa dazu. Es ist eine Geste, die Katholiken in der Kirche zelebrieren und die auf unzähligen historischen Bildern gezeigt wird. Zum Beispiel auch von Kolumbus, als er amerikanischen Boden betrat und von Willy Brandt am Denkmal des Warschauer Ghetto-Aufstands 1970. Es ist eine religiös aufgeladene Allround-Geste (eigentlich der Demut vor Gott, aber so genau nehmen das viele heute Knieende nicht mehr), die nach dem Triumph ebenso angebracht sein kann wie zum Bezeugen von Scham.

In North Carolina haben weiße Demonstranten und offenbar auch Polizisten schwarzen Demonstranten die Füße gewaschen. Auch das ist ein eindeutig christlicher, ja sogar unmittelbar von Jesus bezeugter ritueller Akt. Er hat ihn, glaubt man der Bibel, beim letzten Abendmahl an seinen Jüngern vollzogen, aber auch an der „Sünderin“ Maria Magdalena. Diese Geste könnte man allerdings auch als ziemlich vermessen interpretieren, denn der Fußwäscher ist eben seit Jesus derjenige, der dem Besitzer der Füße eigentlich übergeordnet ist, sich ihm aber durch diese Geste zeitweilig unterordnet. Nicht zufällig wäscht auch der Papst rituell fremder Leute Füße. 

Religiös konnotierte Bilder produziert auch die Klimaschutz-Bewegung. Greta Thunberg selbst könnte ihren Anhängern als eine ähnliche Lichtgestalt erscheinen wie die (später heilig gesprochene) Jungfrau von Orléans den Franzosen des 15. Jahrhunderts. Die Reinheit und Sündenfreiheit des Kindes Greta, ihre prophetenhaften Anfänge als – zunächst – einsame Predigerin mit dem Plakat „Skolstrejk för Klimatet“, der schließlich Hunderttausende weltweit nacheifern: Die gesamte Klimaschutz-Schulstreik-Bewegung erinnert bisweilen an den Kinderkreuzzug des Jahres 1212, als Tausende junge, arme Menschen den Visionen eines Jungen aus Köln namens Nikolaus ins gelobte Land folgten. Sie kamen übrigens nicht im heiligen Land an, sondern wurden zum großen Teil von verbrecherischen Schiffseignern als Sklaven an die Sarazenen verkauft. Damals wie heute ging es jedenfalls um so gut wie alles oder nichts: Für die Gläubigen des Mittelalters war das das Seelenheil, für die Menschen der Gegenwart das Weltklima. 

Das ist eben das Ergebnis der Sakralisierung politisch-gesellschaftlicher Bewegungen: Kompromisse und Abwägungen finden nicht mehr statt. Eine Frage, die religiös aufgeladen wird, ist ein für alle mal beantwortet. Zumindest für diejenigen, die die Religion praktizieren.

Die Kirchen selbst arbeiten an der Sakralisierung der Greta Thunberg zu einer Prophetin, vergleichen sie sogar mit Jesus Christus, wie etwa der Berliner Erzbischof Heiner Koch: „Mich erinnern die Freitagsdemos ein wenig an die biblischen Szene vom Einzug Jesu in Jerusalem.“ Der Vergleich war nicht einmal besonders abwegig. Erstaunlich ist allerdings, dass der Kirchenfürst offenbar nichts Blasphemisches dabei fand, sondern ergänzte, „dass unsere Gesellschaft und auch unsere Kirche von Zeit zu Zeit echte Propheten braucht, die auf Missstände und Fehlentwicklungen hinweisen und Lösungswege vorschlagen.“ Greta also eine „echte Prophetin“? Offenbar.

Unverschleiert ist bereits die Sakralisierung des getöteten George Floyd vollzogen. Bei der Trauerfeier wurden Bilder des Verstorbenen mit Heiligenschein und Engelsflügeln in der Kirche ausgestellt. Seine letzten Worte – „I can’t breathe“ wurden in dem Gottesdienst zum Gebet gemacht. Der Geistliche nannte ihn in der Trauerfeier einen „Märtyrer für den Wandel“. Auch der sonst ganz und gar säkulare Spiegel konnte sich des Reizes solcher Sakralisierung offenbar nicht erwehren und betitelte damit seinen Bericht. 

Es gab eine Zeit, da dachte man, die Religion sterbe aus. Seit es eine politische Linke gibt, also ab dem späten 18. Jahrhundert, sahen die progressiven Kräfte der europäischen Politik und Publizistik ihre Aufgabe auch darin, den Aufruf Voltaires umzusetzen: „Écrasez l’infame“ – „Zermalmt das Niederträchtige!“. Gemeint war die christliche Religion, die Kirche in ihrem Bündnis mit den Fürsten und allem, was als „reaktionär“ galt. Marx lieferte dann den zweiten großen Leitspruch dieses Kampfes. „Religion ist das Opium des Volkes!“ 

Doch die lange Entziehungskur, die die alte Linke dem Volk verordnete – womit sie nicht nur in der DDR ziemlich erfolgreich war – endet nun offenbar mit einer neuartigen Ersatzdroge. Die heutige Linke scheint in dem Maße, in dem sie nicht mehr gegen ein herrschendes Establishment ankämpft, sondern selbst eines geworden ist, wieder Gefallen an der Religion zu finden. Nicht an der alten Religion selbstverständlich. Und auch nicht an einem transzendenten Gott oder jenseitigen Heilshoffnungen, für die die großen linken Befreiungsdenker und Revolutionäre zu allen Zeiten unempfänglich waren und bleiben. In dieser Hinsicht bleiben Voltaire, Marx und Co durchaus erfolgreich: Mit dem Jenseits ist kein Staat mehr zu machen, zumindest nicht unter Europäern. Gefallen und großen Nutzen findet die neue Linke aber an den ganz und gar immanenten, weltlichen, ideologisch und machtpolitisch instrumentalisierbaren Aspekten der Religion: an geheiligten, und damit dem rationalen Diskurs und jeder Kritik enthobenen, dafür umso mehr die Gefühle erhebenden, gemeinschaftlichen Ritualen. 

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