Tichys Einblick
17. Juni 1953 – Soll er vergessen werden?

Skandalös: Immer noch keine Gedenkstätte für die Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft

Entreißen wir dieses Datum für heute dem Vergessen, selbst wenn wir befürchten müssen, dass auch zukünftig mehr als 80 Prozent der Schulabsolventen und selbst der sogenannten Bildungsbürger mit diesem Datum wenig bis nichts anfangen werden können.

In Zeiten eines um sich greifenden, politisch durchaus gewollten historischen Analphabetismus und einer fortschreitenden Weichzeichnung der DDR-Diktatur muss man sich nicht wundern, wenn der 17. Juni 1953 aus dem kollektiven Gedächtnis und aus der offiziellen Geschichtspolitik verschwindet.

Entreißen wir dieses Datum für heute dem Vergessen, selbst wenn wir befürchten müssen, dass auch zukünftig mehr als 80 Prozent der Schulabsolventen und selbst der sogenannten Bildungsbürger mit diesem Datum wenig bis nichts anfangen werden können.

16. Juni 1953

Die SED-Regierung hatte mit Beschluss vom 28. Mai 1953 die Arbeitsnorm als staatlich vorgegebenes Arbeitspensum um 10,3 Prozent erhöht. Bei gleichbleibendem Lohn! Am Morgen des 16. Juni 1953 forderten Bauarbeiter an einer Baustelle des Krankenhauses Friedrichshain demonstrativ eine Rücknahme der Normenerhöhung. Arbeiter von Baustellen an der Stalinallee solidarisierten sich mit ihren Kollegen. Schnell waren 10.000 Demonstranten zusammengekommen. Sie forderten freie Wahlen und riefen für den 17. Juni den Generalstreik aus. Die gleichgeschalteten Gewerkschaften freilich standen an der Seite der SED. Gleichwohl hatten die Demonstranten nach dem Tod des Sowjetdiktators Stalin (5. März 1953) etwas Mut zum Protest geschöpft. Der West-Sender RIAS (Rundfunk im amerikanischen Sektor) berichtete stündlich über die Proteste und wies auf die für den nachfolgenden Morgen in Ostberlin geplanten Demonstrationen hin.

17. Juni 1953

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Bereits in der Nacht zum 17. Juni waren die Sowjettruppen in erhöhte Gefechtsbereitschaft versetzt worden. Um 6 Uhr versammelten sich Tausende, und ständig trafen neue Demonstrationszüge ein. Gegen 11 Uhr war die Zahl der Demonstranten vor dem Haus der Ministerien auf über 100.000 Personen angewachsen. Um 11 Uhr wurde die rote Fahne vom Brandenburger Tor geholt und zerrissen. Ab sofort ging es auch um folgende Forderungen: „Freie Wahlen“, „Abzug der Russen“, „Nieder mit Walter Ulbricht“, „Nieder mit der deutsch-sowjetischen Freundschaft“, „Wir brauchen keine SED“, „Wir brauchen keine Volksarmee“, „Nieder mit der Regierung Grotewohl“. Im Verlauf des Tages drohte der SED die Macht zu entgleiten.

Gegen Mittag trafen russische Truppen in der Leipziger Straße und am Potsdamer Platz ein. Erste Tote waren zu beklagen, als Unter den Linden russische Fahrzeuge in eine Menschenmenge hineinfuhren. Sowjetische Panzer und Truppen der kasernierten Volkspolizei begannen, die Umgebung des Regierungssitzes unter Einsatz von Schusswaffen zu räumen. Die in Ost-Berlin gestarteten Unruhen griffen rasch auf die ganze DDR über. Rund 600 Betriebe legten in der DDR ihre Arbeit nieder, z.B. in Leipzig und Dresden. Um 13.00 Uhr wurde durch „Befehl des Militärkommandanten des sowjetischen Sektors von Berlin“ in 167 von 217 Stadt- und Landkreisen der DDR der Ausnahmezustand verhängt. Am Abend wurden ca. 20.000 sowjetische Soldaten und 15.000 Angehörige der „kasernierten Volkspolizei“ (KVP) eingesetzt.

Die Zahl der beteiligten Demonstranten schwankt zwischen 400.000 und 1,5 Millionen. Mehr als 13.000 Menschen wurden festgenommen. Tote gab es mindestens 55. Die DDR machte den Westen für den Aufstand verantwortlich und bezeichnete den Aufstand als faschistischen Putschversuch. Sogar ein Bertolt Brecht ließ entsprechende Ergebenheitsadressen Richtung SED los. Um weitere Konflikte zu verhindern, war die SED nachfolgend bereit, die Normerhöhungen rückgängig zu machen, die Löhne anzuheben und die Nahrungsmittelindustrie anstelle der Schwerindustrie zu fördern.

Erinnerungskultur heute?

Das Berliner Abgeordnetenhaus verschleiert die Täter des 17. Juni 1953
Die Erinnerung an den 17. Juni 1953, der von 1954 bis 1990 der (bundes-)deutsche Nationalfeiertag mit dem Namen „Tag der deutschen Einheit“ war, verblasst indes. Sucht man in Berlin nach Orten der Erinnerung an den 17. Juni, muss man ein Gedenktafeln-Hopping betreiben. Zugleich übrigens gibt es in Berlin mehr als zehn Gedenkstätten für Rosa Luxemburg. Nun ja, es gibt die viereinhalb Kilometer lange „Straße des 17. Juni“ zwischen dem Ernst-Reuter-Platz und dem Brandenburger Tor. Dort finden sich übrigens fast unmittelbar einander gegenüberliegend ein Denkmal für die Opfer der Mauer und das Sowjetische Ehrenmal. Dazu gibt es die eine oder andere kleinere Gedenktafel zur Erinnerung an die am 17. Juni 1953 Getöteten, zum Beispiel ein Mahnmal auf dem Friedhof an der Seestraße 92/93 in Wedding, wo acht Opfer des Aufstands beigesetzt sind. Dort hatte am 17. Juni 2019 die Gedenkfeier im Beisein von Bundesinnenminister Seehofer und Berlins Regierendem Bürgermeister Michael Müller stattgefunden. Für 2020 hat die Bundesregierung die entsprechende alljährliche Gedenkveranstaltung zur Erinnerung an den Volksaufstand wegen der Corona-Pandemie abgesagt.

An Instinktlosigkeit und Peinlichkeit nicht zu übertreffen ist freilich das Gewürge um die Errichtung eines Denkmals für die Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft. Opferverbände und DDR-Bürgerrechtler mahnen ein solches Denkmal seit Jahren an. Am 2. Oktober 2015 hatte der Deutsche Bundestag sogar einen entsprechenden CDU/CSU/SPD-Antrag angenommen (BT-Drucksache 18/6188 vom 29. September 2015). Dort heißt es wörtlich: „In Deutschland gibt es … trotz umfangreicher konzeptioneller Vorarbeit seitens der Opferverbände bislang noch kein zentrales Denkmal zur Mahnung und Erinnerung an die Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft. Zusammen mit dem deutschlandweit begangenen Gedenktag am 17. Juni wäre dies ein wichtiger Teil einer Erinnerungskultur an die SED-Diktatur, der sich zugleich in die Gedenkstättenkonzeption des Bundes einordnen muss.“ Der Bundestag forderte die Bundesregierung zugleich auf, „das Gedenkstättenkonzept des Bundes … weiterzuentwickeln und dabei im Besonderen eine … Initiative des Deutschen Bundestages für ein Denkmal zur Mahnung und Erinnerung an die Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft an einem zentralen Ort in Berlin vorzubereiten und zu begleiten“. Am 15. Februar 2017 befasste sich der Ausschuss für Kultur und Medien des Bundestages mit einem solchen Mahnmal, etwa zu Fragen nach Standort, Trägerschaft etc.

Dummheit oder Absicht?
17. Juni: DGB und Verdi bejubeln Diktaturen
Zwischenzeitlich liegt ein Antrag der Regierungsfraktionen vor, in dem die Bundesregierung aufgefordert wird, „dem Deutschen Bundestag ein Konzept für ein Denkmal zur Erinnerung und Mahnung an die Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft in Deutschland vorzulegen“ (BT-Drucksache 19/10613 vom 4. Juni 2019). Dort heißt es: Der Bundestag fordert die Bundesregierung auf, „…die Gedenkstättenkonzeption des Bundes kontinuierlich weiterzuentwickeln, denn bislang fehlt ein authentischer Ort, der sich gezielt der Darstellung und Erforschung von Widerstand und Opposition in der Sowjetischen Besatzungszone und DDR widmet.“ Aber außer Sitzungsspesen bislang nichts gewesen. Doch Stop! Es soll eine Machbarkeitsstudie in Auftrag gegeben werden. Kostenpunkt: 250.000 Euro! Ansonsten schießt die SPD im Hintergrund quer; sie will auch die Opfergruppen der NS-Vernichtungspolitik im Osten einbeziehen. Und die zuständige Kulturstaatsministerin Monika Grütters? Sie wirkt wie abgetaucht; in ihrem Ressort ist gerade mal eine einzige Sachbearbeiterin für die Gedenkstätte zuständig.
War die DDR doch eine „commode Diktatur“?

All dies ist mehr als symptomatisch für den Umgang dieser Bundesregierung und großer Teile der (Geschichts-)Politik in Deutschland mit der DDR. Kein Wunder: Der damalige Noch-Nicht-Ministerpräsident Thüringens (Ramelow, LINKE) wollte die DDR 2009 nicht als Unrechtsstaat bezeichnet wissen; er bezweifelte öffentlich, dass es an der Grenze einen Schießbefehl gab. Der von 2008 bis 2017 amtierende Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern Erwin Sellering (SPD) fand es im Frühjahr 2009 falsch, die DDR als totalen Unrechtsstaat zu verdammen. Für Wolfgang Thierse, den ehemaligen Bundestagspräsidenten (SPD), waren die Kindergärten, die Schulen und das Gesundheitswesen die „sympathischen Elemente“ der DDR. Dass die DDR ein Staat hinter Gittern war; dass an der Grenze zwischen Deutschland und Deutschland mindestens eintausend Menschen ihr Leben lassen mussten – all dies hielt einen Nobelpreisträger Günter Grass  (+2015) nicht davon ab, die DDR als eine „commode Diktatur“ zu bezeichnen.

Zugleich hievt die Thüringer CDU Anfang Februar 2020 durch passives Wahlverhalten und auf Anordnung von CDU-Kanzlerin Merkel einen Vertreter der Ex-SED in den Amtssessel des Ministerpräsidenten von Thüringen, um wenige Wochen später mit CDU-Stimmen eine vormalige SED-Bonzin und unbelehrbar DDR-Überzeugte in das Amt einer Verfassungsrichterin in Mecklenburg-Vorpommern zu wählen.

Bei so viel Geschichtsklitterung muss all dies niemanden mehr wundern!

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