Auf der offenen Bühne der Öffentlichkeit ist von deutschen Alpha-Ökonomen derzeit wenig Kritik am Handeln der Bundesregierung zu vernehmen. Im Gegenteil: Clemens Fuest zum Beispiel, Präsident des ifo-Instituts, sagte im Deutschlandfunk, das Paket sei „durchdacht, ausgewogen und wirklich sinnvoll“.
Umso erstaunlicher ist da ein nicht zur Veröffentlichung bestimmtes, aber nun doch öffentlich gewordenes Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats im Bundesfinanzministerium. Es wurde vor der entscheidenden Sitzung des Koalitionsausschusses vom 3. Juni, bei dem das 170-Milliarden-Konjunkturprogramm beschlossen wurde, verfasst. Das Papier, das dem Handelsblatt vorliegt, hat nur fünf Seiten, die es aber in sich haben. Denn die Autoren, darunter Fuest, raten von dem ab, was die Bundesregierung beschlossen hat: eine Ankurbelung der Nachfrage durch klassische Konjunkturpolitik.
„Angesichts der vielfältigen Unsicherheiten, unter denen die Politik gegenwärtig agieren muss, empfiehlt der Wissenschaftliche Beirat, hinsichtlich weiterer Maßnahmen aktiver Konjunkturpolitik zurückhaltend zu agieren“, steht da laut Handelsblatt. Denn: „Trotz der Schwere der Krise handelt es sich bislang um keinen typischen Fall einer Krise, die die üblichen konjunkturpolitischen Maßnahmen erfordert.“ Der Adressat, Bundesfinanzminister Scholz, hat den Rat bekanntlich ignoriert und mit dem Rest der Bundesregierung ein gewaltiges Programm der Nachfrage stärkenden Konjunkturpolitik aufgelegt, das er als „klassisch sozialdemokratisch“ charakterisiert: im Kern eine Absenkung der Mehrwertsteuer von 19 auf 16 Prozent und ein einmaliger Familienbonus in Höhe von 300 Euro je Kind.
Und weil das so ist, warnten die Scholz-Berater vorher: Die Coronakrise sei „in erster Linie, aber nicht ausschließlich eine angebotsseitige Krise. Daher muss es vordringliches Ziel der Politik sein, so gut wie möglich diese angebotsseitigen Probleme zu vermindern“. Die Ökonomen des Beirats haben offenbar genau das befürchtet, was dann ein paar Tage später eintrat, und sie warnten: „Eine konjunkturpolitische Erhöhung der Kaufkraft würde sich angesichts der bestehenden strukturellen Veränderungen vermutlich auf die Produkte richten, die ohnehin knapp sind, also eher die bestehende Überhitzung in diesen Sektoren verstärken.“
Das Bekanntwerden der Analyse der beratenden Ökonomen im Finanzministerium einerseits und das weitgehende Fehlen grundsätzlicher Ökonomen-Kritik, ja sogar Lob nach Bekanntwerden des Konjunkturprogramms andererseits lehrt zumindest zweierlei. Erstens: Falls es einmal eine Epoche der bundesdeutschen Wirtschaftspolitik gab, in der Ökonomen großen Einfluss auf sie ausübten, so ist sie offensichtlich spätestens jetzt vorbei. Zweitens: Prominente Ökonomen scheinen heutzutage keinen allzu großen Drang zu verspüren, die politischen Akteure öffentlich zu kritisieren, auch wenn diese anders regieren, als sie es sich zunächst hinter verschlossenen Türen gewünscht hatten.