Nachdem die Präsidentschaftswahlen in Polen aufgrund der Corona-Pandemie auf den 28. Juni verschoben wurden, geht der Wahlkampf nun in seine entscheidende Phase. Der bisherige Staatschef Andrzej Duda führt derzeit in allen Umfragen und hat gute Aussichten auf eine zweite Amtszeit. Und dies, obwohl sich der Kandidat der konservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) seit Jahren einem Schwall wütender Anfeindungen seitens der Opposition ausgesetzt sieht.
Bereits vor Dudas Amtsantritt im August 2015 und noch bevor die heute regierende PiS eine einzige Reform autorisieren konnte, hatten Politiker der Bürgerplattform (PO) sowie des Linksbündnisses (SLD) zum Angriff geblasen und dafür lautstark um eloquente Unterstützung aus Brüssel geworben. Die meisten EU-Abgeordneten haben das Narrativ der polnischen Opposition unreflektiert übernommen und wittern seitdem allen Ernstes die Gefahr einer von dem PiS-Vorsitzenden Jarosław Kaczyński abgesegneten „Diktatur“. Auch einige deutsche Warschau-Korrespondenten strapazieren seit 2015 den narrativen Kniff, der Regierungsparteichef sei der eigentliche Staatslenker und habe nichts anderes im Sinn, als die Demokratie zu beerdigen.
In Ermangelung greifbarer Fakten fallen die Gerüchte über Kaczyński immer wilder aus, wobei sich einige Autoren nicht selten in aberwitzige Spekulationen versteigen. Jede regierungskritische Demo wird zu einem „polnischen Majdan“ aufgebauscht, die kontroverse Justizreform die PiS als Ausgeburt des Bösen dargestellt. Das Problem an dieser Auslegung ist, dass die Konservativen nach wie vor regieren, und dies nicht mittels „diktatorischer Vollmachten“, sondern dank eines demokratischen Mandats. Und auch dem Staatsoberhaupt Duda scheinen nach der ersten Amtsperiode immer noch die Wählerherzen zuzufliegen. Warum entscheidet die Mehrheit der Polen bei den Urnengängen anders, als es die heimische Opposition und die westlichen Medien wahrhaben wollen?
Krisenresistente Wirtschaft
Bereits vor über zehn Jahren, als die Pleite der US-amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers auch Westeuropa in eine Rezession stürzte, erwies sich die polnische Wirtschaft als überraschend widerstandsfähig. Damals verzeichnete Polen gar einen Wachstum um 3 Prozent. Wie lässt sich aber eine solche Krisenresistenz in einer epidemischen Notlage erklären? Zunächst einmal damit, dass die Tourismusbranche, welche derzeit etwa die wirtschaftlichen Muskeln Italiens oder Spaniens erschlaffen lässt, in Polen kaum eine vergleichbare Rolle spielt. Stattdessen genießt das Land eher den Ruf, europäischer Vorreiter im Bereich der Digitalisierung zu sein. Der innovative polnische Forschungsgeist ließ in den letzten Jahren unzählige Start-ups aus dem Boden schießen, die längst in der seriösen Wirtschaft angekommen sind (z. B. Asseco). Darüber hinaus nahm Polen im Zuge der Renationalisierung des Bankensegments eine wichtige Rolle in der Einführung von digitalen Bezahlmodellen ein. Die IT-Branche und der Innovationssektor haben indes von der Pandemie zweifellos profitiert. In Zeiten unterbrochener Lieferketten kommt der polnischen Wirtschaft gewiss auch zugute, dass sie sich seit Jahren auf viele eigenen Standbeinen stützt und nicht haltlos dem Druck als „Exportnation“ ausgeliefert ist. Überdies hat die PiS-Regierung seit 2015 eine Reihe von Sozialreformen verabschiedet, die viele Gesellschaftsschichten aus bitterster Armut befreit und die Konjunktur angekurbelt haben. So wurden Rentenleistungen ausgeweitet und erstmals seit 1989 das Kindergeld eingeführt. Und es grenzt wahrlich an Torheit, dass die linke Opposition seit Jahren versucht, gerade diese Reformen als taktisches Machtinstrument der PiS zu denunzieren.
Ungeachtet der Pandemie und feindseliger Schnellschüsse bleibt das osteuropäische Land wohl auch künftig attraktiv für ausländische Investoren. Erst Anfang Mai ist der US-Riese Microsoft mit einer Milliarden-Investition in Polen eingestiegen, die u.a. auch im deutschen Interesse sein dürfte. Wenn man sich dann noch vergegenwärtigt, dass die Staatsverschuldung jenseits der Oder dauerhaft unter 50 Prozent liegt, dann darf man sich als Pole eine Prise Zukunftsoptimismus abtrotzen lassen. Tatsächlich schaut auch die Regierung in Warschau entschlossen nach vorn und plant weitere Großprojekte. Bis 2022 soll an der Weichselnehrung ein Kanal entstehen, um nicht mehr auf den russisch kontrollierten Ostseezugang bei Baltijsk angewiesen zu sein. Ein neuer moderner Zentralflughafen (CPK) soll die bisherigen Warschauer Airports Chopin und Modlin ablösen, da sie langsam an ihre Kapazitätsgrenzen stoßen. Bald soll der erste Spatenstich erfolgen, die Inbetriebnahme ist für 2027 geplant. Die Realisierung des Prestigeprojekts auf einem rund 3000 ha großen Gelände soll umgerechnet 8 Milliarden Euro kosten. Zu dieser guten Wirtschaftslage tragen zweifellos auch die Strukturhilfen aus der EU bei. Allein in der zurückliegenden Haushaltsperiode wurde Polen mit etwa 80 Milliarden Euro bezuschusst. Von dem jüngst in Straßburg vorgestellten „Wiederaufbauprogramm“ wandern wohl weitere 40 Milliarden nach Warschau. Doch angesichts der aus der EU vernehmbaren Töne wäre die Frage angebracht, ob die PiS auch weiterhin auf die erhofften Mittel zählen darf. Schon seit geraumer Zeit wird diskutiert, ob die Verknüpfung der Fördergelder mit „rechtsstaatlichen Prinzipien“ die Regierungen in Polen und Ungarn zum Einlenken bringen könnte. Der Grundtenor der Brüsseler Bedenkenträger: Kaczyński habe nichts für diplomatische Feinheiten übrig und demontiere mit „drakonischen Maulkorbgesetzen“ die polnische Justiz, wobei alle bisherigen Instrumente (wie das sog. Artikel-7-Verfahren) versagt hätten. Sogar einige deutsche Zeitungen haben bereits Klagelieder auf den „Polexit“ intoniert. Zurecht?
Draht nach Washington
Wenn dies wirklich so wäre, dann säßen die Konservativen heute nicht mehr auf den polnischen Regierungsbänken. Nach einer Umfrage des Forschungsinstituts Kantar wollen 89 Prozent der Polen, dass ihr Land dauerhaft in der EU bleibt. Auch die PiS hatte nie etwas anderes behauptet, wobei sie schon wohlweislich erkennt, dass die EU von Merkel und Macron sich sehr von der Vertragsgemeinschaft unterscheidet, die einst Robert Schuman vorschwebte. Ist es wirklich so schwer zu begreifen, dass das jahrhundertlang um nationale Unabhängigkeit ringende Polen nicht einfach kritiklos einer Vision der „Vereinigten Staaten von Europa“ zustimmen kann? Zumal es sich schon jetzt fortwährender Belehrungen in Sachen „Demokratie“ aussetzen muss? Dabei war Polen bereits tolerant und demokratisch, als in Preußen und Großbritannien noch die Köpfe rollten. Auch der Vorwurf der Fremdenfeindlichkeit lässt sich leicht widerlegen, wenn man bedenkt, dass Polen in den letzten Jahren Millionen ukrainischer Flüchtlinge aufgenommen hat. Warschau wirbt unermüdlich um eine kontinuierliche Annäherung an Staaten, die häufig von Brüssel übergangen werden. So unterstützt die polnische Regierung die sog. „Drei-Meeres-Initiative“, ein von der Visegrád-Gruppe inspiriertes Wirtschaftsforum aus zwölf baltischen und ostmitteleuropäischen Staaten, die sich von der Ostsee bis zur Adria und dem Schwarzen Meer erstrecken und sich von der Gasversorgung durch Moskau unabhängig machen wollen. Von diesem ehrgeizigen Projekt könnte auch Deutschland profitieren. Von einem „polnischen Isolationismus“ kann folglich keine Rede sein. Die PiS-Regierung verkriecht sich nicht in einem nationalistischen Schneckenhaus, was aber nicht zwangsläufig heißt, dass sie eine blinde Politik der „offenen Grenzen“ befürwortet. Wobei diese offenbar heute auch schon von vielen deutschen Politikern verworfen wird. Es ist eben ein anderes Deutschland als im Jahr 2015, da die Bundesregierung um fast jeden Preis ein freundliches Gesicht zeigen wollte und der ungarische Grenzzaun als Ausdruck ungeahnter Xenophobie dargestellt wurde. Heute macht sie nämlich genau das, was sie noch vor fünf Jahren als menschenfeindliche Maßnahme bezeichnet und als rechtlich unzulässig ausgeschlossen hatte: Grenzen schließen und Einreiseverbote verhängen. Europäische Einigkeit bedeutet also auch, die spezifischen Sichtweisen von Mitgliedstaaten zu berücksichtigen, die auf völlig andere historische Erfahrungen zurückblicken. Doch genau dies ist nicht der Fall, wenn fünf Jahre nach der Flüchtlingskrise der EuGH die Visegrád-Staaten Polen, Tschechien und Ungarn für den „Misserfolg“ des Umsiedlungsmechanismus verantwortlich macht.
Willkommene Angriffsfläche
Die von der PiS vorangetriebene Justizreform bietet der EU und westlichen Medienvertretern seit fünf Jahren eine willkommene Angriffsfläche. In Wirklichkeit erstrebt Polens Regierung eine Gerichtsbarkeit, die in anderen europäischen Ländern der Norm entspricht. Solcherlei Veränderungen wurden z. B. im wiedervereinigten Deutschland mit ähnlichem Eifer durchgeführt. Nur blieb in Polen eine solche Überprüfung ehemaliger Richter der kommunistischen Volksrepublik bislang aus, weil sie seit dreißig Jahren von höchst zweifelhaften Entscheidungsträgern blockiert wurde. So sitzen bis heute in polnischen Gerichten Personen, die im Kriegszustand im Jahr 1981 Urteile gegen die demokratische Opposition verhängten. Die Nachjustierungen der PiS haben deren Reizschwelle verständlicherweise noch einmal herabgesetzt. Kein Wunder, dass viele dieser Richter heute unzufrieden sind und nach einer Gelegenheit suchen, ihrem Unmut Luft zu machen. Und in einem demokratischen Land dürfen sie das auch. Denn entgegen der Meinungen westlicher Osteuropa-Experten, die ein „totalitäres“ Horrorszenario heraufbeschwören und bereits Warschau mit Ankara vergleichen, werden Regierungsgegner in Polen weder als „Terroristen“ eingestuft, noch in Gefängnissen eingesperrt. Im Gegenteil: es gibt wenige Länder in Europa, in denen sich regierungskritische Medien ungestraft so viel erdreisten dürfen wie in Polen. Es ist jedenfalls zu bezweifeln, dass Macron sich jene Beleidigungen gefallen ließe, die sich seit den 1990er Jahren mitunter auf Kaczyński ergießen.
Dabei wird die Justizreform von den meisten Polen befürwortet. Beurteilen kann die pathologische Situation an polnischen Gerichten nur jemand, der selbst mal mit ihnen in Berührung gekommen ist. Ein repräsentatives Beispiel ist die sog. „Reprivatisierung“ von Gebäuden, die nach dem Zweiten Weltkrieg verstaatlicht worden waren. Ehemalige Eigentümer oder deren Familien konnten sie nach 1989 zurückbekommen bzw. hohe Entschädigungen einfordern. In Ermangelung einer eindeutigen Gesetzeslage bewegt sich diese Reprivatisierung vor allem in der Hauptstadt immer noch in einem juristischen Graubereich, den sich Betrüger zunutze machen. Unterstützt werden sie dabei von dubiosen Anwälten und Richtern. Auch die Stadtverwaltung soll darüber gewusst und beflissentlich geschwiegen haben. Pikant: Warschaus linker Bürgermeister und PO-Vize Rafał Trzaskowski gehört zu jenen Kandidaten, die bei den kommenden Wahlen Amtsinhaber Duda in eine Stichwahl zwingen könnten.
Dr. Wojciech Osiński (*1979) ist Auslandsredakteur des liberal-konservativen Wirtschaftsmagazins „Gazeta Bankowa“. Für die Online-Zeitung „Tygodnik Solidarność“ schreibt er zudem allwöchentlich über Politik, Geschichte und Kultur.