Tichys Einblick
Verbraucherpreise und Vermögenspreise

Die Inflation an der Börse und das Ende der sozialen Marktwirtschaft

Die Aktienpreise laufen der Realwirtschaft davon. Es wird also teurer, Miteigentümer von Produktivvermögen zu werden. Keine gute Entwicklung für Freunde der sozialen Marktwirtschaft, denn eine breite Streuung von Eigentum ist die Basis einer Gesellschaft freier Bürger.

© Vladimir Wrangel / Shutterstock

Börsen einerseits und Realwirtschaft andererseits scheinen derzeit noch weniger miteinander zu tun zu haben. Der große Kurs-Absturz, der am 24. Februar eingesetzt hatte, dauerte nur einen kurzen Monat, seither geht es wieder aufwärts, obwohl eine Hiobsbotschaft von Unternehmen und Arbeitsagentur und Statistischem Bundesamt die nächste jagt: Die deutschen Ausfuhren waren im April 30 % geringer als im Vorjahr, auch im Vergleich zum März war der Rückgang mit 24 Prozent gewaltig. Die Produktion im Produzierenden Gewerbe verzeichnet für April – saison- und kalenderbereinigt – minus 18 %, darunter die reine Industrieproduktion sogar minus 22 % und innerhalb dieser wiederum die für Deutschland fundamental bedeutsame Auto-Industrie einen desaströsen Rückgang um 75 %. In anderen Ländern sind die Zahlen ähnlich, teilweise noch dramatischer. Und die Nachrichten vom Arbeitsmarkt sind selbstverständlich dementsprechend. Ohne das staatliche Instrument der Kurzarbeit hätten wir längst eine echte Massenarbeitslosigkeit wie in den USA.

Doch völlig unbeeindruckt von diesen handfesten Daten haben Dax und andere wichtige Aktienindizes schon wieder das Niveau des vergangenen Herbstes erreicht. 

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Als Aktienbesitzer kann man sich natürlich freuen, die Krise, so scheint es, ist schon fast abgehakt. Ist dieses Börsengeschehen nur durch die übliche Vorwegnahme realen Geschehens und die Hoffnung zu erklären, dass die Wirtschaft sich schnell wieder erholen und dann der Boom einfach weitergehen werde? Und was bedeutet es für die Gesellschaften, wenn Aktienpreise steigen, während die Produktion und die Einkommen aus dieser stagnieren oder real zurückgehen?

Was sich an den Börsen derzeit abspielt, ist auch ein Kaufkraftverlust, eine Inflation. Die offizielle Inflationsstatistik misst nur die Preise von Konsumgütern. Die Kaufkraft des Euro für Güter des täglichen Bedarfs, für Dienstleistungen und auch Luxusgüter, für alles schnell vergängliche nimmt bekanntlich nur langsam ab, 0,9 % im April in Deutschland – nach Ansicht der EZB zu langsam. Diese Verbraucherpreise geben aber nur einen Teil des Bildes von der Kaufkraft des Geldes wieder. Ein komplettes Bild ergibt sich erst, wenn dazu die Vermögenspreise kommen. Wer wissen will, wieviel das alltäglich oder allmonatlich verdiente Geld real wert ist, muss neben die Verbraucherpreise die Vermögenspreise stellen, zum Beispiel anhand des Vermögenspreisindexes des Flossbach von Storch Instituts. Der offenbart eine dauerhaft sehr viel höhere Steigerung der Vermögenspreise als der Verbraucherpreise. Im letzten Quartal 2019 zum Beispiel um 7,6 %. Im ersten Quartal 2020 sind die Preise für die Vermögen privater deutscher Haushalte um 2,7% gefallen (stark gebremst durch den gestiegenen Goldpreis). Im Vergleich zum Vorjahresquartal sind Vermögenspreise jedoch um 2,4% angestiegen, da sich der Preisverfall ausschließlich auf das erste Quartal beschränkt.

Aktienkurse sind nichts anderes als Preise für Eigentum an Betriebsvermögen. Wenn sie steigen, ohne dass die Produktion und die Einkommen steigen, und erst recht, wenn die Produktion und die Einkommen sogar sinken, so sinkt die relative Kaufkraft der Einkommensbezieher, um selbst Eigentum an Produktionsmitteln zu erwerben. Es profitieren die schon Produktivvermögen Besitzenden, während die Fähigkeit für die noch nicht oder noch nicht viel Besitzenden abnimmt, solches Vermögen zu erwerben. Die Eigner von Produktivvermögen sind also so gut wie ungeschoren durch die Krise gekommen. Aber die Möglichkeit für Noch-Nicht- oder Noch-Nicht-Viel-Eigentümer ihren Anteil am gesamten Produktivvermögen zu steigern, wird geringer. Für ihre real stagnierenden Löhne und Gehälter können sie bei steigenden Vermögenspreisen nur einen immer kleineren Anteil am Gesamt-Produktivvermögen der Volks- beziehungsweise Weltwirtschaft erwerben. Sie verlieren doppelt: Sie können weniger kaufen und ihr Gewicht im volkswirtschaftlichen Gesamtgeschehen nimmt ab. 

Die Aktienpreise bilden nicht nur, vielleicht sogar in geringerem Maße, die Hoffnung auf gute zukünftige Geschäfte ab. Zu erklären ist die ungleich stärkere Inflation der Vermögenspreise im Vergleich zu den Verbraucherpreisen vermutlich nicht zuletzt auch durch die gigantische, ungebremste Schöpfung von Fiat-Geld im Null-Zins-Regime, das die Zentralbanken errichtet haben. Man spricht oft bildhaft vom „Geld drucken“. Aber dieses Geld wird eben nicht gedruckt und landet nicht in den Portemonnaies der Verbraucher, wie die Milliarden-Banknoten des Jahres 1923. Es landet auch nicht auf den Girokonten der Lohn- und Gehaltsempfänger, sondern verbleibt größtenteils in den Finanzmärkten, wo es die Preise für Aktien, also Betriebsvermögen hochtreibt. 

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Mindestens ebenso bedeutsam wie die volkswirtschaftlichen und finanzsystemischen Folgen dieses Zusammenkommens – gigantisches Geldmengenwachstum mit steigenden (oder zumindest nicht sinkenden) Vermögenspreisen und sinkender (zumindest nicht im gleichen Maße wie die Aktienpreise steigender) Produktion – sind die gesellschaftlichen Folgen: Der Aufstieg von Bürgern, die durch den Erwerb von Eigentum materielle Unabhängigkeit gewinnen, wird immer weniger möglich. Die Einkommen reichen zwar immer noch, um Nahrungsmittel, Kleidung zu kaufen, auch Mobiltelefone und vermutlich auch weiterhin im Sommer ein paar Tage in Urlaub zu fahren. Aber das Ziel der Gründungsväter der sozialen Marktwirtschaft, das Ludwig Erhard in seiner Parteitagsrede von 1961 „den Weg der Befreiung des Individuums auch über die immer breitere Streuung frei verfügbaren Eigentums“ nannte, rückt in die Ferne. 

Die Inflation, die wir jetzt erleben, ist für Otto-Normal-Verbraucher noch nicht schmerzhaft, da Brot und Butter im Gegensatz zu 1923 weiter billig bleiben. Aber ihre politische und gesellschaftliche Wirkung entfaltet sie schon: Mit den trotz sinkender Produktion steigenden Aktienpreisen steigt der relative Wert der Produktionsmittel und damit die finanzielle Macht der Vermögenden gegenüber den Unvermögenden. 

Diese Wirkung bedeutet nichts anderes als die Schwächung dessen, was mit „sozialer Marktwirtschaft“ eigentlich gemeint ist. Die bedeutet nämlich nicht: Kapitalismus plus Sozialstaat, sondern zielt auf die sozialen Möglichkeiten in der Marktwirtschaft selbst. Erhard sagte in der schon zitierten Rede 1961: „Wir wollen in allen Schichten das Bewusstsein wecken und stärken, dass Eigentum frei macht, aber das Eigentum auch auf Sparen beruht. Wir wollen durch weiteren Fortschritt dazu beitragen, dass jeder Bürger Eigentum erwerben kann.“ 

Die Politik des ungebremsten Geldmengenwachstums, die die EZB betreibt, tut das Gegenteil, indem sie zur überproportionalen  Vermögenspreissteigerung führt. Nicht nur die EZB-Politik des billigen Geldes ist gegen dieses Ziel der sozialen Marktwirtschaft – Freiheit durch Möglichkeit, Eigentum zu erwerben – gerichtet. Dazu kommt die mit ihr korrespondierende Sozial- und Konjunkturpolitik der Ausweitung der Staatsausgaben, die das von Erhard geforderte und geförderte Bewusstsein einschläfert, dass nicht der helfende Staat die Bürger frei macht, sondern die Möglichkeit, Eigentum an den Produktionsmitteln und damit materielle Unabhängigkeit und ökonomische Mitentscheidungsrechte zu erwerben.

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