Auf der Pressekonferenz, die der EZB-Ratssitzung vom 4. Juni folgte, kam die beste Frage zuletzt und zwar von einem französischen Journalisten. Dieser hatte formvollendet Christine Lagarde mit Madame la Présidente angeredet und sie höflich gefragt, warum sie während der Pressekonferenz eine ganze Reihe von Fragen dadurch beantworte, dass sie vorgefertigte Manuskripte ablas. Zwar war auch durch diese Frage das Selbstbewusstsein der EZB-Präsidentin kaum zu brechen. Doch dass nun gerade aus dem Herkunftsland von Frau Lagarde ihre Kommunikationsstrategie hinterfragt und ihre Unsicherheit bloßgelegt wurde, schien ihr alles andere als recht. Daher wusste sie sich auch nicht anders zu helfen, als trotzig auf ihr Recht zu pochen, zur Feinjustierung ihrer Kommunikation Texte repetierend abzulesen.
Alle Zuhörer hatten die Stoßrichtung der Hinterfragung des AFP-Journalisten verstanden. Einmal mehr wirkte Christine Lagarde fachlich von den zu erörternden Fragen überfordert. Gewiss versteht sie es, Englisch mit einem forciert englischen Akzent zu sprechen. Diese phonetische Anstrengung für eine Französin ist auch nach vielen Jahren der Erfahrung in Amerika immer noch lobenswert. Doch in der Sache zeigte die Dame aus Paris einmal mehr erhebliche Unsicherheiten. Warum weniger als drei Monate nach dem Start des PEPP – also des pandemischen Nothilfe-Anleihenkaufprogramms – dasselbe um ein halbes Jahr verlängert werden müsse und um sage und schreibe 600 Milliarden Euro aufgestockt wird, vermochte die EZB-Präsidentin genauso wenig zu beantworten wie die Frage, die aus Italien kam, ob denn diese Aufstockung im Ergebnis angesichts der gegenwärtigen monatlichen Kaufsummen ausreichen werde.
Dafür spielte das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum PSPP vom 5.5.2020 eine umso größere Rolle. Gleich dreimal wurde Frau Lagarde hierzu mit der Frage konfrontiert, was die EZB hierauf zu antworten gedenke. Und dreimal las sie wie eine Nachrichtensprecherin im DDR-Fernsehen denselben Text ab. Sie wies darauf hin, dass – wie bereits aus anderen Stellungnahmen bekannt – die EZB der Meinung ist, nur der Rechtsprechung des EuGH zu unterliegen, dass das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5.5.2020 sich lediglich an Bundesregierung und Bundestag wende und sie zuversichtlich sei, dass eine befriedigende Lösung gefunden werde, die den Vorrang des europäischen Rechts und die Unabhängigkeit der EZB garantiere.
Natürlich durfte auch die Frage des Financial Times-Statthalters in Frankfurt, Martin Arnold, nicht fehlen. Genau um 15:03 Uhr gab er mit der gewohnten Vertrautheit seiner Gesinnungsgenossin Lagarde erneut Gelegenheit, sich zum BVerfG-Urteil in der gewohnten Art zu äußern. Dass er – wie bereits in den vorherigen Konferenzen – die EZB-Präsidentin mit ihrem Vornamen anredete, enthüllte einmal mehr die besondere Affinität zwischen EZB und dem Flaggschiff des angelsächsischen Finanzjournalismus. Natürlich durfte auch der Diskurs über die unzureichend hohe Inflationsrate nicht fehlen. Dass in den letzten zwei Monaten – nicht zuletzt wegen der niedrigen Energiepreise – die Referenz-Inflationsrate 0,1 und 0,2 % pro Monat betrug, hätte indessen einer reflektierten Auseinandersetzung bedurft. Wie soll bei einer Rezession von historischem Ausmaß – mit einem erwarteten Rückgang des Bruttosozialproduktes in der Eurozone von ca. 9 % im Jahre 2020 – die Inflationsrate anders ausfallen, als sie in den letzten beiden Monaten ausgefallen ist?
Geradezu unvorsichtig waren die Ausführungen der Präsidentin zur Ermutigung der Banken, ihre Kreditlinien gegenüber Unternehmen und Haushalten auszudehnen. Wie kann die Chefin einer Zentralbank eine solche Empfehlung aussprechen, zumal sie gleichzeitig auch noch Chefin der EZB-Bankenaufsicht ist, obgleich abgesehen werden kann, dass die Ausfallrate der Kreditrisiken bei den europäischen Kreditinstituten spätestens im Jahre 2021 dramatisch steigen wird?
Gewiss, Madame Lagarde versteht es, ihre fachlichen Defizite durch geschickte Vorbereitung der schriftlichen Antworten zu übertünchen und nach außen hin ein operatives Selbstbewusstsein an den Tag zu legen, das angesichts ihrer realen Kompetenz zunehmendes Erstaunen hervorruft. Doch sind die Ansagen der EZB-Präsidentin mehr und mehr ein Eingeständnis nicht nur ihrer fachlichen Lücken, sondern auch des Umstandes, dass die EZB kaum noch strategische Reserven hat. Die Stunde der Wahrheit kommt und sie kommt auch für Madame Lagarde. Zwar besteht sie darauf, dass im EZB-Rat permanent über die Effizienz der angewandten geldpolitischen Instrumente diskutiert werde. Doch wissen nicht nur Insider, wie die Machtverhältnisse im EZB-Rat sind und welcher Einfluss den traditionellen Hartwährungsländern noch verblieben ist. Die Geldschöpfungsbombe tickt weiter und Madame Lagarde spielt weiter „va banque“. Es dürfte über kurz oder lang ein für alle Europäer teures Erwachen geben.