Viel ist in diesen Tagen und Wochen von „Fake News“ und noch mehr von „Verschwörungstheorien“ die Rede, die oft auf ersteren beruhen. Was eine Verschwörungstheorie ist und was nicht, glauben Autoren ernsthafter Medien selbstverständlich genau zu wissen. Darüber aufzuklären sehen sie als ihre Pflicht an. Und das ist es ja auch zweifellos.
Nehmen wir einmal die sich selbst traditionell „Nachrichtenmagazin“ nennende Wochenpublikation Der Spiegel. In Heft 21/2020 widmete man sich in drei Artikeln mehr oder weniger direkt Verschwörungstheoretikern. Im Leitartikel hieß es: „Die Politik darf sich von verwirrten Verschwörern nicht verrückt machen lassen“. Dazu eine größere Geschichte über „die Gefahr einer neuen Protestbewegung“ und dann zur Krönung die Geschichte „Verschworene Gesellschaft“, in der die Pandemie als „Konjunkturprogramm für Verschwörungstheoretiker“ erklärt wird und Attila Hildmann und Xavier Naidoo den schönen Titel „Paranoia-Promis“ verpasst bekommen.
Aber bei der Lektüre eines aktuellen Spiegel-Artikels ist man umso mehr versucht, der Hamburger Redaktion das schöne Jesus-Wort aus der Bergpredigt zuzurufen: „Was siehest du aber den Splitter in deines Bruders Auge, und wirst nicht gewahr des Balkens in deinem Auge?“
Da schreibt nämlich Sascha Lobo, selbsterklärter Experte für die Realität (zumindest heißt sein aktuelles Buch „Realitätsschock“) und langjährigerer Spiegel-Kolumnist über „Donald Trumps Strategien für den Staatsstreich“: „Sollte er die Wahl im November verlieren, wird Donald Trump das Ergebnis wohl nicht anerkennen. Niemand wird ihn an einem Staatsstreich hindern können, dafür sorgen er und seine Verbündeten seit Langem vor.“ Nein, das schreibt kein Attila Hildmann über Merkel und kein Ken Jebsen über Gates, sondern eben ein Spiegel-Autor und Talkshow-Dauergast über Trump. Und dieser Status als Autor und das Objekt der Theorie genügen offenbar, um gegen das Stigma der Verschwörungstheorie immun zu sein, auch wenn man genau das behauptet, was Verschwörungstheoretiker eben behaupten: eine Verschwörung.
Bislang ist nicht bekannt, dass die selbsternannten Faktenchecker von „Correctiv“ sich die in dieser Kolumne enthaltenen Behauptungen einmal näher angesehen hätten. Über die falsche Datierung der Abschaffung der Sklaverei (1863! nicht 1865) mag man noch ebenso als Bagatelle hinwegsehen, wie es offenbar die angeblich so genaue Spiegel-Dokumentation tat. Einmal im Lexikon nachschlagen hätte übrigens genügt. Bedenklicher ist, wenn Lobo den Eindruck erweckt, dass „Voter Suppression“ eine Besonderheit der US-Südstaaten und der amerikanischen Republikaner sei. Erstens waren es gerade die Demokraten als frühere Partei der weißen Südstaatler, die bis Mitte des 20. Jahrhunderts schwarze Bürger vom Wählen abzuhalten versuchten. Zweitens ist die Praxis, die eigene Wählerklientel durch den Zuschnitt von Wahlkreisen einerseits und Einschränkung oder Ausweitung des Wahlrechts andererseits zu stärken beziehungsweise die Wählerschaft der Kontrahenten zu schwächen, so alt wie politische Wahlen. Man kannte solche Praktiken im antiken Athen oder Rom ebenso wie im England, Frankreich oder Deutschland des 19. Jahrhunderts. Und man kann das in gewisser Weise auch bei den Grünen der Gegenwart feststellen, die sich redlich mühen, das Wahlalter auf 16 Jahre herunter zu setzen.
Und dann, nach einem Crescendo der „Monstrositäten“, die angeblich „zu viele Beobachter … verharmlosten“ kommt Lobo am Schluss zu seiner eigentlichen These, die steil zu nennen eine Untertreibung wäre. Nämlich: »Sollte er die Wahl im November verlieren, wird Trump einen Staatsstreich unternehmen und niemand wird ihn daran hindern können. Ich befürchte, er wird das Wahlergebnis nicht anerkennen, vorzeitig via Twitter behaupten, dass eigentlich er gewonnen habe und dabei von Trump-hörigen Propagandamedien wie Fox News unterstützt. Er wird alle Differenzen zu anderen Medien mit der Behauptung „Das sind Fake News!“ erklären und alle Meldungen von staatlichen Stellen mit einer „Deep State“-Verschwörung der Demokraten. Er wird gegen jeden Protest unmittelbar das ihm unterstellte US-Militär einsetzen, gegen Amerikaner auf amerikanischem Boden. Er wird schließlich den Supreme Court anrufen, damit der seine Version des Wahlausgangs stützt.«
Lobo hält offenbar die älteste noch existierende Republik und Führungsmacht der westlichen Welt, die die moderne Demokratie mehr oder weniger erfunden hat, und in der es seit der Unabhängigkeitserklärung von 1776 nie auch nur den Versuch eines Putsches gab, für etwas, das man früher „Bananenrepublik“ nannte. Wer ernsthaft behauptet, Trump könne und wolle in den USA ein autokratisches Regime nach dem Muster scheindemokratischer lateinamerikanisch-afrikanisch-vorderasiatischer Länder errichten, ist sehr weit weg von der Wirklichkeit, auch wenn er statt des Aluhutes eine Irokesen-Frisur trägt. Lobo offenbart eine klassische Eigenschaft der Verschwörungstheorie: Nämlich den Glauben daran, dass dunkle Mächte unterhalb der institutionellen Oberfläche wirksam walten. Lobo schafft es raffinierter Weise in ein und demselben Absatz Trump die Inszenierung der „Verschwörung der Demokraten“ vorzuwerfen, die natürlich eine Lüge sei (ist sie ja auch), und gleichzeitig eine Trump-Verschwörung zu konstruieren, die real wäre.
In Ergänzung zum Vorspann des oben erwähnten Spiegel-Artikels könnte man also feststellen, dass nicht nur die Pandemie, sondern auch die Anti-Trump-Hysterie ein „Konjunkturprogramm für Verschwörungstheoretiker“ ist. Und zwar eines, das ganz offensichtlich auch auf Leitmedien wirkt, die sich dagegen immun zu sein wähnen. In der Bergpredigt sagt Jesus – ein bewährter Experte gegen Selbstgerechtigkeit und Hochmut, der in der Spiegel-Redaktion traditionell nicht sehr gut gelitten ist – übrigens noch weiter: „Du Heuchler, zieh am ersten den Balken aus deinem Auge; darnach siehe zu, wie du den Splitter aus deines Bruders Auges ziehest!“