Wenn ein Gerichtsprozess das Prädikat „spektakulär“ haben will, muss er sich messen lassen an dem, was vor 30 Jahren in Virginia passierte. Damals war alles drin: Sex, blutiger Doppelmord, schöne Frau, deutscher Bösewicht, eine Jagd auf zwei Kontinenten und ein Staatsanwalt mit geilem Schnäuzer. „German Monster“ war einer der reizenden Kosenamen, die dem Diplomantensprössling Jens Söring damals verpasst wurden von seiten der US-Presse, seine Geschichte führt uns zurück in die zweite Hälfte der 80er (Kohl war Kanzler, Miami Vice kam ins Fernsehen) und geht wie folgt: Es war einmal in Amerika, …
… Student Jens aus Deutschland trifft Studentin Elizabeth aus Kanada. Er: Typus Turnbeutelvergesser; Sie: heiß wie Frittenfett! Man schreibt sich Liebesbriefe mit mächtig Schmackes drin. Ihre Eltern finden all das nicht so prickelnd, weil sie den Jungen für nicht gut genug halten. Das nervt, und irgendwann beschließen der Deutsche und das Mädchen, die lästigen Eltern bei Gelegenheit abzuschlachten. Bis hierhin also ein ganz normales Studentenleben. Jetzt wird’s spannend:
Der Plan wird Wirklichkeit, es passiert, das Ehepaar Haysom wird Opfer eines Massakers. Aber: Wer war’s? Die Jagd beginnt! Jens und Liz ahnen, dass sogar die doofen Amis 1+1 zusammenrechnen können, sie fliehen nach England, werden dort gekascht, und Jens Söring sagt: „Ich war’s! Ich gestehe alles. Wo soll ich unterschreiben?“ Offenbar glaubt der junge Jens, dass er in Deutschland für einen Doppelmord als noch Heranwachsender vielleicht mit ein paar Sozialstunden davon kommt – doch da war er seiner Zeit wohl um einige Kanzlerschaften voraus…
Nur, weil sich der US-Bundesstaat Virginia bereit erklärt, ausnahmsweise mal auf die Vollstreckung der Todesstrafe zu verzichten, kann Söring dorthin ausgeliefert werden, und es kommt 1990 zu einem Prozess, der sich gewaschen hat. Jens Söring beteuert seine Unschuld, immer wieder, er kann aber weder die Geschworenen noch den Richter überzeugen. Das Urteil: Knast für immer. (Dieselbe Strafe hat bereits Elisabeth bekommen.) Fall abgeschlossen? Von wegen, die Geschichte von Jens Söring wird dies- und jenseits des Atlantiks mindestens genau so oft wiederholt wie die Pilotfolge von Miami Vice. Da sitzt also ein Jens im Ami-Knast und sagt beharrlich, er sei unschuldig. 5 Jahre, 10 Jahre, 25 Jahre … Wie ist denn das Urteil da überhaupt zustande gekommen? Was, wegen solch läpp’scher Anhaltspunkte wird man in Virginia eingebuchtet? Die spinnen, die Amis! Denken viele.
Jens Söring ist ein US-Justizopfer; er wurde verurteilt für ein Verbrechen, zu dem er nicht mal fähig gewesen wäre; die Ungereimtheiten und Ungerechtigkeiten in diesem Fall sind himmelschreiend; die Jury war faul, und der Richter war befangen, ein Kumpel des Opferpaares. Geht’s noch? Als Beweisstück genügt ein Sockenabdruck, sonst nichts. Echt? Na ja, … zumindest lässt sich der Fall Söring so zusammenfassen, wenn wir der Berichterstattung der letzten 30 Jahre folgen und vor allem: der jüngsten. Ich kann mich gut an die Zeit damals erinnern, also: an Don Johnson in Miami Vice und auch an Jens Söring, beide trugen eine prägnante Brille. Ich spürte als Deutscher (alle Grünen bitte weghören) stets eine Verbundenheit zu Söring, die mich tendenziell seine Unschuldslammgeschichte glauben ließ. Außerdem: Wie „lausig“ das US-Justizsystem ist, das wissen wir alle doch ganz genau aus unzähligen Hollywoodfilmen und von Herta Däubler-Gmelin. Right?
Im Januar lese ich auf uebermedien.de den Beitrag eines amerikanischen Anwalts außer Dienst, der sich sachverständig und umfangreich äußert zur Lage in der Causa Söring. Sein Name: Andrew Hammel. Der Mann hat zuvor offenbar schon einige Male auf den Seiten der FAZ zum Thema veröffentlicht, und alles zusammen bildet ein dickes Bündel an Essays, die mich schnell derart am Schlafittchen haben, dass ich kaum mehr mit dem Lesen aufhören kann. Und als alle Texte gelesen sind, lese ich nochmal von vorn. Und zurück. Und seitwärts. What a man!
„Sag mal, kannst du dein iPad vielleicht auch mal weglegen?“, poltert meine Frau. Nein, ich kann nicht. Der Ex-Anwalt (und heutige Übersetzer, er veröffentlicht auch auf deutsch!) hat sich doch tatsächlich erdreistet, sein Hauptaugenmerk auf die Fakten im Fall Söring zu legen, statt die üblichen Gebete nachzusprechen. Keine Gefühlsduselei, sondern Primärquellen in Hülle und Fülle, akribisch und juristisch sauber aufbereitet. Ich bin fasziniert von Original-Dokumenten, berauscht von der Nüchternheit mit der hier Verhörauszüge präsentiert, Untersuchungen offenbart und vernünftige Schlüsse gezogen werden. Beinahe preußisch wirkt das. Andrew Hammel pinkelt das Denkmal Söring keineswegs an, sondern er zerlegt es Stück für Stück und sortiert die Einzelteile. Er hat mich gepackt mit seinem Gespür, seinem Witz, seinem Kenntnisreichtum, … ok, ich hör’ auf, es wird ein bisserl zu schwülstig. Fest steht: Hammel hält Söring für schuldig, und seine Einschätzung ist schlüssig. Auch wenn’s weh tut.
Es gibt für mich kein Zurück mehr, ich lese und prüfe und bin gespannt, denn es ist ja klar, dass jemand wie Söring irgendwann bei Deutschlands Talker Nr. 1 Markus Lanz sitzen muss. An den Ausführungen des umtriebigen Anwalts führt dann wohl kein Weg vorbei, oder? Bei Lanz wird der Showdown kommen! „Guten Abend, freut mich sehr, dass Sie dabei sind, herzlich willkommen zu unserer Sendung. Ich begrüße Jens Söring und neben ihm den Anwalt Andrew Hammel, schön, dass Sie beide unserer Einladung gefolgt sind!“ So stelle ich’s mir vor. Am 14.5. ist es soweit, „Söring trifft Lanz“ wird angekündigt. Ich freue mich diebisch auf diesen Mai-Feiertag…
Doch die Freude währt kurz: Kein Showdown im ZDF. Söring ist der einzige „echte“ Gast, an seiner Seite bloß ein intellektueller Fürsprecher aus der Knastkennerszene. Markus Lanz schafft das Kunsstück, Jens Söring mit keiner einzigen kritischen Frage zu behelligen, er kauft ihm alles ab, und ganz übel kommt’s, als er auch noch den Souffleur gibt. Ich kenne ein paar Kollegen, die bei Markus Lanz zu Gast waren, ich selbst habe ihn mal ihm Rahmen einer Kreuzfahrt getroffen, auf der ich als Comedian geheuert war. Alle sagen dasselbe über ihn: Ein unglaublich netter Kerl mit blendendem Aussehen und besten Manieren. Er ist fair zu seinen Gästen, das merkt man – doch was, wenn die Gäste nicht fair sind zu ihm?
Markus Lanz persönlich ist weniger das Ziel meiner Kritik, als vielmehr das Selbstverständnis der gesamten Söring-Show vom 14.5. und die dahinter stehenden Verantwortungsträger. Es ist bezeichnend, dass Aufnahmen oder Unterlagen der damaligen Gerichtsverhandlung nicht direkt gezeigt werden, sondern lediglich als Ausschnitte aus besagtem Dokumentarfilm „Das Versprechen“. Nun ließe sich anführen: Was macht das für’n Unterschied? Wenn im Film Bilder aus dem Prozess laufen, und diese werden dann statt der Original-Bilder in einer Talkshow wiederverwendet – ist das nicht dasselbe? Mitnichten! Alles wurde bereits für einen Film aufbereitet, es fand also eine Vorauswahl statt, bestimmt sind die Schnitte anders, ein Filter liegt drüber usw. Ich will’s nicht zu hoch hängen, jedoch verführt eine solche Kino-Optik unser Gemüt klar an die Seite des Hauptverdächtigen. Denn: Wann ist ein solcher in einem Krimi je auch am Ende der Täter gewesen, mh? Kurz und schmerzvoll: Diese Sendung hatte nichts mit Journalismus zu tun – das war Groschenliteratur gehüllt ins Deckblatt eines Nachrichtenmagazins. Ob Andrew Hammel das genau so sieht? Aber so was von!
Hammel hat ganz frisch Beschwerde beim ZDF eingelegt, macht das auf Twitter öffentlich. Er lässt zudem Informationen verlauten, die sich zwar erstmal schwer verifizieren lassen, aber interessant sind und plausibel:
♦ Söring habe einen Vertrag mit dem Verlag Random House abgeschlossen und ein fettes Vorabsümmchen kassiert. Eine Netflix-Serie sei zudem in Planung, für die der Regisseur des Söring-Dokumentarfilms „Das Versprechen“ angefragt gewesen sei, jedoch überraschend abgesagt habe. Wenn das stimmt: Heidewitzka!
♦ Vonseiten des ZDF soll es heißen, die Lanz-Sendung habe ja bloß menschliche Knastschicksale bekakeln wollen und sei erst gar nicht als Krimi-Showdown angelegt gewesen. Wenn das stimmt: Ganz schön wacklig.
♦ Söring werde seit seiner Rückkehr von fleißigen Anwälten und Medienprofis vertreten, und diese (spekuliert Hammel) hätten einen Antrittsbesuch ihres neuen Starpatienten bei Dr. Lanz vom garantierten Bleibenlassen unliebsamer Diagnosen abhängig gemacht. Wenn das stimmt: Kein Kommentar.
♦ Andrew Hammel sucht seinerseits einen Verlag für ein Söring-ist-schuldig-Buch. Wenn das stimmt: Tichy, greif zu!
Als Reaktion auf die Lanz-Sendung vom 14.5. geschieht aktuell also einiges – zwar (noch) nicht mit dem ganz großen medialen Echo, doch das wird sich ändern. Hammel will jedes zukünftige justiziable Söringstatement unaufgefordert ins Englische übersetzen, um es der Zielgruppe sprachbarrierefrei zugänglich zu machen. (Stichwort: üble Nachrede.) Hier scheint sich was zusammen zu brauen, und sollte Söring wirklich weitere Termine à la Lanz abreißen, dann steht ihm a lot of trouble ins Haus.
Im Podcast der „Medien-Woche“ (abrufbar u.a. auf iTunes) vom 29.5. höre ich zum ersten Mal die Stimme des Mannes, dessen Ausführungen seit Wochen mein Lesen dominieren. Am Schluss ihres Interviews mit Andrew Hammel ziehen die Moderatoren ein Fazit, das objektiv ist – zu objektiv aus meiner Warte. Das „Hier stehen sich zwei unterschiedliche Einschätzungen gegenüber; Andrew Hammel liefert eine Alternative zur bisherigen Fall-Darstellung der meisten Medien“ ist mir entschieden zu geschmeidig, mein Zwischenfazit (Stand: Juni 2020) lautet: Hammel hat Jens Söring eindeutig, minutiös und gut nachvollziehbar wenigstens als wankelmütigen Geschichtenerzähler entlarvt, er hat lückenlos die Beweise dargelegt und gegenteilige Behauptungen entkräftet. Hammel ist mit seinen Aufsätzen allen bisherigen medialen Darstellungen (egal ob in Wort oder Bild) in jeder Hinsicht haushoch überlegen. Sörings Fürsprecher haben sich einlullen lassen und scheinen einen großen Teil der Fakten nicht zu kennen, zu ignorieren oder schlicht nicht wahr haben zu wollen. Die Beweise waren dünn, und ein Sockenabdruck allein hat zum gnadenlosen Richterspruch geführt? Hammel bestreitet das nicht nur, er widerlegt es!
„Im Zweifel für den Angeklagten“ – natürlich ein richtiger Grundsatz, doch im Fall Söring ist meines Erachtens unbedingt zweierlei zu beachten:
- Wenn jemand seine Unschuld beteuert, sind wir alle emotional anfällig, denn die Furcht davor, unrechtmäßig für irgendwas belangt zu werden, ist fast so etwas wie eine menschliche Urangst, die unweigerlich Solidarität für jeden vermeintlich Betroffenen hervorruft. Aber: Genügt allein das Unschuldsbekenntnis eines Angeklagten, um automatisch von einem „unaufgeklärten Fall“ reden zu dürfen? Andersrum: Ab wann eigentlich darf/muss ein Fall als zweifelsfrei geklärt gewertet werden? Ich sage (nicht erschrecken): streng genommen ist NIE etwas zu 100% sicher, egal was! Auch wenn Beweise erdrücken, ein Mensch eine Tat gesteht und das Urteil einstimmig fällt – nichts schenkt uns absolute Gewissheit. Immer wieder werden nach Jahren noch Geständnisse widerrufen, können bis dato unentdeckte Zeugen auftauchen oder modernisierte Testverfahren neue Erkenntnisse liefern. Der Zweifel stirbt nie, und das ist ja auch gut, bildet doch der Zweifel eine Quell des menschlichen Fortschritts. Ein „Im Zweifel für den Angeklagten“ aber sollte nur dann Anwendung finden, wenn Für und Wider am Ende eines Beweisverfahrens sich kräftemäßig in etwa gleichrangig gegenüberstehen. Das taten sie im Fall Söring offenbar nicht.
- Sörings Fall ist juristisch abgeschlossen, die Verhältnisse haben sich nun geändert. Längst ist der Angeklagte zum Anklagenden geworden, und er ist dabei nicht zimperlich: Polizisten wirft er Drangsalierung vor, Rechtsbruch, bestenfalls Schlampigkeit beim Ermitteln; unbescholtene amerikanische Bürger (die Jury) stellt er als nachlässig und gewissenlos dar, Experten als inkompetent, den Richter als klüngelaffin. Der Rundumtritt des Jens Söring mag auf leisen Socken daherkommen, doch er trifft sehr viele Menschen und sollte uns klar machen, dass der angeführte Leitsatz „in dubio pro reo“ auch im Plural gilt: Im Zweifel für DIE Angeklagten! Werfen Sie einen Blick (Schulenglisch genügt, um sich zumindest einen Eindruck zu verschaffen) in den jüngsten Report des ermittelnden Beamten von Scotland Yard. Der Link ist neben weiteren unten am Textende aufgeführt, natürlich habe ich ihn von Hammel – nicht nur dafür gebührt ihm Dank:
Abseits des Söring-Falles wird einem beim Lesen der Hammel-Schriften irgendwie bewusst, wie unangenehm ambivalent wir Deutschen sein können. Auf der einen Seite geben wir uns liebend gern bescheiden bis an den Rand der Selbstaufgabe. Nicht mal mehr Deutsche wollen wir sein, wir sind Europäer. Ach was, Kinder der Erde sind wir! Und wenn dann jemand darauf hinweist, dass es auch noch andere Planeten gibt, die man doch nicht diskriminieren dürfe, so entschuldigen wir uns brav für die Unkorrektheit und nennen uns „Kinder des Universums“. Auf der anderen Seite…
… sind wir beim Blick auf die Restwelt großkotzig as can be. (In Corona-Zeiten merkt man’s wieder besonders: „Unser Krisenmanagement läuft weltweit am besten. Seht nur diese hirnrissigen Schweden und erst Recht die Proleten in Amerika.“) Häufig heißt es: „Solch strittige Gerichtsurteile wie in den USA sind hier in Deutschland ausgeschlossen!“ Ist das so? Wie steht’s mit dem Entführungsfall Richard Oetker? Schuldspruch für den Hauptverdächtigen in einem reinen Indizienprozess. Wer’s nachschaut, könnte überrascht sein, was mit dem Mann, der stets seine Unschuld beteuerte, passiert ist, nachdem er frei kam … Wie steht’s andersrum mit Gustl Mollath? Man stelle sich nur mal vor, so was wie der Mollath-Fall würde heute in den USA passieren – ganz Deutschland wäre außer sich: „Schaut euch an, was Donald Trump den Menschen antut!“
Ebenso lehrt Hammel etwas, das man sich immer und immer und immer wieder auf Neue klar machen muss:
Was wir im Kino sehen (und auf Netflix und Amazon Prime und im klassischen Fernsehen) ist nicht die Wirklichkeit! Filmemacher zögern keine Sekunde, sogar historische Tatsachen „anzupassen“ wie es ihnen beliebt zum Aufbau eines Spannungsbogens. „Troja“ ist ein Beispiel dafür und wahrlich keine Ausnahme: Als Oliver Stone gefragt wurde, wie es denn sein könne, dass etliches aus seinem JFK-Film nichts mit den Fakten zu tun habe, entgegnete er: „Das ist meine künstlerische Freiheit.“ Problem: Sein Film „JFK“ erst schuf diejenige Wahrnehmung des Kennedy-Attentats, die sich geschwürhaft sogar bis tief in Historikerkreise reingefressen hat. Fakten? Also bitte, wer braucht denn Fakten?! Hammel empfiehlt zum Thema das Buch „Case Closed“ von Gerald Posner, und ich schließe mich an. Es lässt einen zumindest anders denken über Oliver Stone. Und JFK. Und überhaupt.
Machen wir den Deckel drauf: Söring hat seine Strafe abgesessen, und zwar nicht zu knapp. Selbstverständlich hätte er ein Recht auf ein „Lasst mich in Ruhe“, doch er selbst geht grad in die mediale Offensive. Das Fernduell mit Hammel wird weitere Schlagzeilen machen, da bin ich mir sicher! Als Übersetzer dürfte Hammel wissen, dass sein Nachname das deutsche Wort ist für ein in die Jahre gekommenes Schaf, das bereits kastriert wurde. Dieser Hammel aber wirkt keineswegs so, als würde ihm da unten was fehlen, im Gegenteil – er scheint die Faxen dicke zu haben und trägt jede Menge Angriffslust im Sack. Großartig! Drum gibt es wohl eine Botschaft für das Unschuldslamm: Hüte dich vorm Hammel!