Auf die nie zu unterschätzende Gefahr hin, bei Ihnen, stetsgeschätzte Leser, bei Ihnen einen akuten Verdacht auf Feminismus oder Quarantänekoller meinerseits zu wecken, erlaube ich mir, thesenhaft in den Gedankenraum zu stellen: Frauen kommen in Märchen nicht gut weg.
Mal ehrlich, wenn Sie eine Tochter hätten, könnten Sie ihr auch nur eine einzige Frauenfigur zum Vorbild geben? Mädchen in Märchen sind oft Opfer und zu rettende Ausgelieferte (Aschenputtel, Dornröschen) – oder sie treten als die Prototypen des Hinterhältigen und Bösen auf, namentlich als Hexen und böse Stiefmütter (womit wir schon halb bei der deutschen Politik wären).
Wir wollen an dieser Stelle schnell notieren, dass die Funktion und Motivation von tatsächlichen »Stiefeltern« – heute: »Patchwork-Familien« – eine deutlich andere ist als die in »märchenhaften« Zeiten. Die »böse Stiefmutter« der Märchen hat Entsprechungen in heutigen Zeiten, aber gewiss nicht in Frauen, die von Liebe motiviert in einer bestehenden Familie aus freien Stücken mit Verantwortung übernehmen.
Walter Filz hat allein in den Grimmschen Märchen immerhin 13 von diesen gezählt; deutschlandfunkkultur.de. 28.12.2012) – und ich frage Sie nun, so aus Ihrem Gedächtnis heraus: Wenn Sie die prototypische Eigenschaft einer bösen Stiefmutter benennen sollten, in einer Klassenarbeit etwa, was wäre sie? (Bonuspunkte, wenn Sie an dieser Stelle – und sei es innerlich und kurz – den Stift zücken wollten.)
Die prototypische Stiefmutter der Grimmschen Märchen behandelt ihre Kinder sehr, sehr unterschiedlich, und das ist sehr, sehr ungerecht.
Die eigenen Kinder liegen der »bösen Stiefmutter« unserer guten Märchentradition oft weit näher am Herzen als ihre Stiefkinder. Die einen werden belohnt für ihre bloße Existenz – die anderen werden selbst für Nichtigkeiten – oder gar buchstäblich für nichts – hart und härter bestraft – womit wir endgültig bei der Tagespolitik wären!
Spazierend zu genießen
Spazieren zu gehen ist für Leib und Seele gesund. (Wo wir gerade Banalitäten konstatieren, hier zwei weitere: »Nachts ist es dunkel, außer man schaltet das Licht an«, und: »Der deutsche Staatsfunk muss weg, sonst haben die Werte der Demokratie wenig Zukunft.«)
Wer spazieren geht, ob durch Stadt oder Wald der braucht festes Schuhwerk, gute Laune – und heute, im besten, freisten und demokratischsten Deutschland aller Zeiten, ein belastbares Konto, um die Bußgelder zu bezahlen.
Aus Stuttgart hören wir dieser Tage von einer Familie, die sich erdreistete, ein wenig die Frühlingssonne spazierend zu genießen, und sie tat dies auch, so gut sie konnte, mit redlichem Bemühen und nach ihrem besten Verständnis der tagesaktuellen Gesetze (wo erfährt man die eigentlich zuverlässig?) – doch die Mühe war vergebens und das Verständnis augenscheinlich ungenügend, denn wir müssen leider lesen: »1.000 Euro für einen Familienspaziergang« (stuttgarter-zeitung, 25.5.2020).
Eine direkt verwandte Familie war spazieren gegangen. Dieselbe Familie durfte sich nach den aktuellen Virus-Notstands-Gesetzen zwar in der Wohnung treffen, doch nicht gemeinsam spazieren gehen, wenn dies beinhaltete, sich näher zu kommen als 1,5 Meter Abstand (wenn ich oder irgendwer das überhaupt richtig versteht).
Die Polizei hatte, so vermute ich, bereits alle GEZ-Verweigerer in den Schuldenknast geworfen, alle Hasssprecher schadlos gemacht und auch sonst alles zu Erledigende erledigt, sonst hätte sie wohl kaum die Zeit und Energie, wie hier geschehen, Spaziergänger auf Herz, Nieren und Gehorsam zu prüfen. Was auch die Rahmenumstände sein mögen – wer prüft die denn noch? – die Faktenlage scheint zu sein: Eine Familie musste, so die Berichte, einen vierstelligen Betrag zahlen, weil und nachdem sie »falsch« spazieren ging. Wohl den Millionären, den Bonzen und Kardinälen, die ihre eigenen Gärten fürs Spazierengehen haben, wo sie »Zeichen setzen« können (siehe auch den Essay »Gutmensch« vom Januar 2017) und ansonsten von der Realität und der Verantwortung für die Folgen ihrer Worte wie auch ihrer Taten unbelästigt bleiben. Dieser Tage hört man bei Gelegenheit, wir säßen »alle im selben Boot«, doch das ist nicht ganz richtig – es sitzt jeder im eigenen Boot, und bei dem einen ist das eben die Zweiraum-Wohnung im grauen Wohnsilo und beim anderen die Villa mit Pool, Heimkino, darin und dazu Erdbeeren samt Schlagsahne und Krimsekt, kalt wie die Seele des Sozialisten.
Es gibt meist einen Spielraum für Bußgelder, auch bei den Strafen fürs falsche Spazierengehen im freiesten Deutschland aller Zeiten, und die Bußgelder in diesem konkreten Fall bewegen sie sich am oberen Ende. Jedoch, so horrend das Bußgeld ist, zwei Details an der Geschichte schocken tatsächlich mehr als die Strafe selbst. – Wir lesen:
Schon der Beamte vor Ort habe ihnen geraten, sie sollten sich »kooperativ zeigen« – sonst werde es teuer. (focus.de, 25.5.2020)
Ein Beamter, der mehr oder weniger offen zu drohen scheint. Nun, gut, in Zeiten, in denen Menschen ihren Job verlieren, weil sie mit der Opposition zu Mittag essen, in Zeiten, in denen Staatsfunk, Behörden und Propaganda de facto gegen Andersdenkende und Abweichler agitieren, in diesen, äh, unscharfen Zeiten würde es wenig verwundern, wenn Polizisten tatsächlich die braven Bürger drohend ansprechen – war da nicht mal was mit »Freund und Helfer«?
Und doch, da wäre noch ein Detail…
Alle gleich lieb?
Wie reagierten die Spaziergänger auf die Quasi-Drohung des Polizisten? Protestierten sie? Riefen die Bürger ihren Anwalt an – oder warfen sie dem Polizisten Rassismus vor, sich auf die eigene Hautfarbe, Religion oder Kultur berufend?
Wir lesen weiter:
Um juristische Streitigkeiten zu vermeiden, zahlten die Klenks fristgerecht die 1.000 Euro. (focus.de, 25.5.2020)
Das ist sehr brav, da droht keine Religion. Wird in Deutschland nur bestraft, wer sich willig bestrafen lässt? Gelten Recht und Gnade nicht für alle gleich? – Im Essay »Gefangene bei offener Tür« notierte ich die Szenen, als sich hunderte Gläubige gegen die Verbote vor Moscheen versammelten, und dann fragte ich:
Gelten die Bußgelder wirklich für alle Bürger gleich? Welche Bußgelder erhielten etwa die 200 Gläubigen vor der Moschee in Wuppertal, die Gläubigen in Berlin, die in Duisburg? (Essay vom 10.4.2020, Quellen-Links dort)
Die Christen sagen, wir seien alle Gottes Kinder, und allein, dass es den Begriff »Kinderkrebsstation« überhaupt gibt, könnte in uns Zweifel wachsen lassen, Zweifel wie böse gewissheitsfressende Tumore, dass Er alle seine Kinder gleich lieb hat (der Fachbegriff für diese Zweifel ist Theodizee, siehe Wikipedia.). Wie ist es aber mit den Kindern des Staates – hat der Staat uns alle gleich lieb?
Wohl wohl!
»Aschenputtel, steh auf aus der Asche!«, so rief ich im August 2018, und es könnte den Hoffnungsbefallenen etwas niederdrücken, dass Aschenputtel laut aktueller Umfragen nicht nur nicht aufgestanden ist. Wohlauf, Aschenputtel fühlt sich in seiner Asche wohl wohl!
Es ist ein gar merkwürdig Ding um manche von uns Deutschen. Die CDU, dieser Wahlverein jener glühenden »Jungkommunistin« (Zitat Lafontaine), steht in Umfragen aktuell bei 40 Prozent. Der Hund wird getreten, jault kurz auf, und leckt dann doch den Stiefel, der ihm die Rippen brach. Sind wir das, sind wir der Hund?
»Einigkeit und Recht und Freiheit«, so beginnt das in unserer Hymne. Die Freiheit zu sagen, was man wirklich denkt, diese Freiheit schwindet schon länger – im Namen des Kampfes gegen das China-Virus wurde auch manche andere Freiheit mit brachialen Bußgeldern belegt. Ob und wieweit das Recht gilt, und ob es für alle gleich gilt, auch fürs Kanzleramt, das würden spätestens seit 2015 einige von uns gern diskutieren. Wo aber die Freiheit schwindet, wo mindestens die Gewissheit auf gleiches-Recht-für-alle erodiert, da verwundert es wenig, wenn auch die Einigkeit zerbröckelt und der »große Graben« größer und größer wird.
Noch …
Die deutsche Demokratie ist unter Attacke, aber nein, nicht von Opposition und Andersdenkenden, wie Staatsfunk und Propaganda uns glauben lassen könnten.
»Wird unsere Kraft reichen, den Weg zurück zu gehen?«, so fragte ich 2018. Der Weg zurück wird derzeit sehr schnell sehr viel weiter.
Das Beste, was ich tun kann, ist doch, uns alle daran zu erinnern, dass die Idee der Demokratie, dass das Ideal des sich einigermaßen gerecht anfühlenden Rechtsstaats noch nicht tot ist! Ich trage sie noch in mir, die Idee eines Staates, in der für alle Bürger das gleiche Recht gilt, in der auch die Abweichler und Selbstdenker ohne Furcht vor ökonomischer Vernichtung und Antifa-Schlägertrupps ihre Meinung sagen können, und ja, die Idee des Staates, dessen Polizei wirklich dein Freund und Helfer ist, und nicht die Leute, vor denen du dich versteckst, wenn du einfach nur mit deiner Familie spazieren gehst.
Ich glaube noch immer, dass es einen Weg zurück gibt – und wie die auf Betreiben ihrer bösen Stiefmutter im Wald ausgesetzten Geschwister Hänsel und Gretel will auch ich Brotkrumen streuen, in der Hoffnung, dass sie uns dereinst den Weg zurück weisen. (Ja, ich weiß, dass in der Geschichte die Vögel die Brotkrumen aufpicken – heute würden die bösen Viecher dafür sicher mit Journalismuspreisen überhäuft.)
Der Weg zurück wird gerade länger, viel länger – diese Erkenntnis ist bitter, doch sie bedeutet auch, dass noch immer ein Weg zurück existiert!
Dieser Beitrag erschien zuerst auf dushanwegner.com
Dushan Wegner (geb. 1974 in Tschechien, Mag. Philosophie 2008 in Köln) pendelt als Publizist zwischen Berlin, Bayern und den Kanaren. In seinem Buch „Relevante Strukturen“ erklärt Wegner, wie er ethische Vorhersagen trifft und warum Glück immer Ordnung braucht.