Die Demonstrationslage in Braunschweig an diesem 23. Mai 2020 ist ziemlich verworren. Wir informieren uns deshalb bei einem der vielen Polizisten in Kampfausrüstung vor dem Braunschweiger Schloss, weisen uns artig als Pressevertreter aus und wollen also von ihm wissen, was genau und wo am heutigen Samstag in Sachen Hygienedemonstrationen und Gegendemonstrationen passiert.
Bereitwillig erzählt uns der Beamte, dass vor dem Schloss und auf dem Burgplatz für heute gleich mehrere Demonstrationen angemeldet seien. Zwei hätten auf dem Burgplatz bereits begonnen, eine von der Partei Die Rechte mitten auf diesem historischen Platz mit seinem Braunschweiger Löwendenkmal und eine weitere als Gegendemonstration aufgeteilt auf zwei – der Zugangsbereich hin zum Burgplatz.
Rund um dieses Geschehen herum stehen in großer Zahl Polizeieinsatzwagen dicht an dicht und einige Hundertschaften von Beamten, die nach und nach rund um das Demonstrationsgebiet vor dem Schloss Aufstellung nehmen. Im Schlossinneren selbst gibt es heute im Gegensatz zu früher feste Laufrichtungen, die von einem eigens dafür angestellten Sicherheitsdienst überwacht werden.
Wer hier nicht aufpasst, wie die neu aufgeklebten Pfeile am Boden laufen, wer falsch geht, der wird sofort ermahnend darauf hingewiesen. Und wer sich deshalb dann herumgeschubst fühlt, dem kann man getrost sagen: Ja, das liegt daran, das du gerade herumgeschubst wirst.
Die Gegendemonstrationen stehen dicht vor den Zugängen hin zu diesem Kopfsteinpflaster geschmückten Herz der Stadt, sind aber viel weniger zahlreich, als es die Aufrufe der verschiedenen Organisationen aus dem linken und grünen Spektrum, der Parteien und Gewerkschaften im Vorfeld hätten vermuten lassen.
An beiden Zugängen zusammengenommen sind es wohl kaum drei- bis vierhundert Leute, die sich empören. Beispielsweise Aktivisten von der Seebrücke-Organisation, die sich um die weit über einhundert deutschen Städte kümmern, die noch mehr Zuwanderung wollen, bis hin zu jungen Leuten von der Antifa, die sich mit einem viele Meter langen Plakat an vorderster Position zum abgesperrten Platz hin so positioniert haben, dass die eigentliche Veranstaltung davon Notiz nehmen muss. Eine Anordnung, wie gelernt oder wie am runden Tisch zwischen Antifa und Polizei beschlossen. Gibt es den schon? Aber wenn die staatliche Finanzierung steht, warum nicht auch das?
Die Partei Die Rechte hat sich hier im Schlagschatten des mächtigen Doms, in dem Heinrich der Löwe nebst Gattin ruht, mit zwei cremefarbenen Lautsprecherwagen aufgestellt, wohl um den Lärm der Demonstranten zu übertönen. Es sind allerdings kaum ein dutzend Teilnehmer; der von Polizeiketten abgeriegelte Platz ist praktisch leer.
Und als einer den Test macht und fragt, ob er denn dort auf den Platz gehen könne, um mehr vom Anliegen der Rechtsausleger mit ihren rotweißschwarzen Reichsflaggen zu erfahren, wird das von der absperrenden Polizei negativ beantwortet, das sei eine angemeldete Veranstaltung.
Doch: Wer Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen diskreditieren will, der sollte eben genau das machen, was in Braunschweig passiert ist: Nämlich zusätzlich zu jener Demo, die den verschiedenen Strömungen gegen die Corona-Maßnahmen Raum gibt, noch eine weitere genehmigen, die dann Parteipolitik auf dieser breiten Anti-Corona-Einflugschneise macht und das auch noch unter den wehenden Flaggen des Deutschen Reiches.
Auf dem Weg wieder zurück zum Schlossplatz, wo ja die eigentliche Hygiene-Demo stattfindet, die bis dahin noch keine Gegendemonstranten in größerer Zahl auf sich gezogen hat, weil die noch alle am Burgplatz sind, folgen wir einem mutigen Mann, der in diesem monogamen Umfeld linksgrüner und linksradikaler Gegendemonstranten trotzdem mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg hält.
Der etwa 65-Jährige hat einen Regenschirm so umgebaut, das dieser weit sichtbar seine politische Botschaften zeigt, seine Frau schaut ängstlicher aus, bleibt aber dicht bei dem hageren Herrn. Ein Spinner? Ein Religiöser? Etwa ein Aluhutträger? Seine Botschaften jedenfalls lauten: „Spahns Wahn stoppen“, „Immunisieren statt impfen“, „Maßnahmen hinterfragen“ und „Schluss mit Panik“.
Vorher aber spricht noch die Veranstalterin und sorgt für eine gewisse Verstörung gleich zu Beginn, denn sie stellt sich ihren Zuhörern als Ex-Domina vor und erzählt noch einiges mehr aus dem privaten Korridor, so erfährt man, dass sie auf Lack und Leder steht, aber will man das wirklich wissen? Anderseits, warum eigentlich nicht? Sie erzähle das alles auch deshalb, sagt sie, um jenen den Wind aus den Segeln zu nehmen, die sie im Vorfeld als Veranstalterin damit diffamiert hätten.
Der Platz vor dem Schloss ist großflächig mit rot-weißem Plastikband abgesperrt, wo zu vorhergehenden Demos auch schon mal massive Sperrgitter von der Polizei aufgefahren wurden. Innerhalb des so lose abgesperrten Areals sind gemäß der neuen Seuchenverordnungen in 1,5 Meter Abstand Kreuze mit Kreide aufgemalt. Die Polizei postiert sich rund um dieses moderne Demonstrantenschachspiel, wie schon zuvor am Burgplatz. Im Inneren des so abgesteckten Demo-Claims sind längst noch nicht alle Plätze besetzt, aber dieses Mal hat die Polizei nichts dagegen, wenn man den Platz betritt, wer und wie man will.
Allerdings muss man sich entscheiden. Wer hinter die Polizeireihen und hinter das rotweiße Band tritt, ist automatisch Teil der Veranstaltung. Dazwischen darf man auf keinen Fall stehen. Wir werden deshalb mehrfach ermahnt. Nein, es gibt hier kein Niemandsland. Etwa einfach nur aus der Distanz zuhören und sich informieren geht hier nicht mehr. Wer den Ring betritt, ist nach außen automatisch der Sympathie mit den Veranstaltern verdächtig. Als beginnt man darüber nachzudenken. Hier muss man sich positionieren.
Aber noch merkwürdiger und schon ansatzweise im Bereich des Bedrohlichen angesiedelt sind zwei Herren um die 60 in Zivil, die uns ansprechen, dass sie ebenfalls nicht fotografiert werden wollen, obwohl das gar nicht geschehen war, die uns anschließend penetrant bedrängen und die sich auf energische Nachfrage später als Polizisten vorstellen, ohne allerdings ihre Ausweise zu zeigen, und die ein Verhalten zeigen, dass jenem gleichen mag, wie man es sich aus der DDR und von der Stasi vorstellt. Ist das tatsächlich Polizei gewesen oder ist das Teil einer Inszenierung von irgendwem, die wir nicht verstanden haben? Versteckte Kamera mal ohne Lachzwang? Die Herren verschwinden irgendwann grußlos, die Sache klärt sich nicht auf und bleibt also kurios.
Eine junge Studentin mit Migrationshintergrund tragen wir ebenso wie den Schirmträger in unsere Tagesliste mutiger Menschen mit Zivilcourage ein. Obwohl sich mittlerweile u.a. auch Vertreter von „Die Partei“ eingefunden haben, welche auch diese Veranstaltung lauthals negativ kommentieren, und sich auch noch weitere versprengte Reste der Gegendemonstration vom Burgplatz zum Schlosspark herüberbequemen im Strom der Samstagseinkäufer – eine Demo-Sightseeing-Karawane – lässt sich die junge Frau mit den langen Rastahaaren nicht davon beirren. Sie hat sich vorn und hinten körpergroße Plakate umgebunden mit folgender Aufschrift auf dem Bauch: »“Habe Mut, dich deines eigene Verstandes zu bedienen“ Immanuel Kant«. Auf ihrem Rückenplakat steht geschrieben: „Wer nicht denkt, wird gelenkt.“
Ein älterer Herr steht am Rande der Absperrungen an einem kleinen verwaisten Tisch mit ein paar Stapeln frischen Grundgesetzen zum Mitnehmen darauf (ein kleineres GG in Taschenformat wird hier ebenfalls gratis angeboten). Wir kommen ins Gespräch, er ist ehemals aktiver Gewerkschafter und Betriebsrat, kennt die ganze Szene, er macht sich aber heute als Ruheständler Sorgen um die Meinungsfreiheit und will hier Gesicht zeigen.
Es mag selektiv sein in der Wahrnehmung und wir sind auch nicht sofort als kritische Journalisten erkennbar, dennoch kommen wir mit Passanten ins Gespräch, die freimütig ihre kritische Haltung gegenüber den Corona-Maßnahmen mit uns teilen. Die also alles andere scheinen als Teil einer 40 Prozent-Zustimmung für die Union, die wundersamer Weise gerade auf einem der Werbefilm-Bildschirme oberhalb der Rolltreppen im Schopping-Inneren des Braunschweiger Schlosses eingeblendet wird.
Und als wir dann am späten Nachmittag vor einem drohenden Regen durch einen der Braunschweiger Parks ohne Schirm nach Hause flüchten, kommen wir noch einmal ins Grübeln. Irgendetwas ist in diesem Deutschland verdammt in Schieflage geraten. Haltungen beginnen sich zu vermischen, politische Zuordnungen fallen schwerer, wann wird aus Verwirrung Aggression und Hysterie?
Und die Polizei steht mittendrin und scheint ebenfalls die Orientierung verloren zu haben. Einzig geblieben ist wohl eine erwartbare Medienberichterstattung, die es sich bequem gemacht hat zwischen Gut-und-Böse-Abziehbildern. Solche allerdings, die es so nicht mehr gibt da draußen zwischen Burgplatz und Schloss in Braunschweig oder anderswo. Dieses von Angela Merkel regierte Deutschland zeigt Schlagseite. Noch überwiegt zwar das Erstaunen darüber. Aber es droht schon das Chaos.