Ein Aufatmen geht durch die Stadt: Hanoi comes back, höre ich erleichtert, triumphierend, euphorisch, optimistisch. Die Stimmung hat sich radikal verändert. Vor einem Monat noch schlug mir als Westler auf der Straße, in den Geschäften und in den Suppenküchen Misstrauen und Ablehnung entgegen. Widerwillig wurde ich bedient. Die Leute machten einen Bogen um mich. Ich, der Weiße, Abgesandter eines Seuchenherds, mit dem man nichts zu tun haben wollte.
Selbst im atheistischen Vietnam spielt die Vorstellung des Karmas noch eine Rolle, will heißen: Wer weiß, was die Europäer für Dreck am Stecken haben, dass sie das Schicksal so gestraft hat. Damit wollen wir uns nicht anstecken, weder im vordergründigen noch im übertragenen Sinne.
Aber nach 3 Wochen Lockdown ist Hanoi wieder wie zuvor. Nur der Flughafen ist geschlossen, möchte man doch sichergehen, dass keine verseuchten Europäer ins Land kommen.
Entgegen den deutschen Medien, die sich und die Regierung für ihre Erfolge feiern, sehen die Asiaten klar: Das Zentrum aller Probleme sind Europa und die USA.
Vietnam: 330 Infizierte und keine Todesfälle
Vietnam hat, laut John Hopkins University, seit drei Wochen nur noch einzelne Neuinfektionen von Vietnamesen, die aus Europa einreisen. Insgesamt hatte Vietnam nur 330 Infizierte und keine Todesfälle. Die deutschen Einreise-Vorschriften für Außereuropäer und Rückkehrer muten seltsam an. Reise ich vom praktisch coronafreien Vietnam zurück nach Deutschland, muss ich zwei Wochen in Quarantäne.
Die latente Vorstellung, die Gefahr käme aus Asien ist reine Ablenkung. So gut wie kein Asiate reist zur Zeit freiwillig nach Deutschland. Das Risiko ist ihm viel zu groß. Allerdings macht es Sinn, dass Vietnam die Flughäfen für Europäer sperrt. Denn dort befindet sich das Hochrisikogebiet.
Der Wind dreht sich
Nach dem erfolgreichen Lockdown hat sich in Vietnam der Wind gedreht. Der Sommer beginnt. Es ist schwülheiß, 35 Grad. Die Geschäfte und die Kneipen sind auf. Alles ist wie zuvor. Kaum jemand trägt noch Mundschutz. Entgegen den Vorstellungen der deutschen Medien wird in Südostasien nur von Mopedfahrern Maske getragen. Es ist viel zu unangenehm, in schwüler Hitze seinen heißen Atem durch den Mundschutz gleich wieder einzuatmen.
In den unzähligen Cafés und an den vielen kleinen Seen sitzen die Leute und trinken Bier, ohne jeden Abstand. Körperliche Nähe ist Teil der südostasiatischen Kultur. Der Unterschied zwischen der nordostasiatischen (China, Japan) und der südostasiatischen Kultur ist so groß, wie der zwischen Finnland und Süditalien.
Social distancing gibt es nur noch im Kino, im Theater und im Stadion. Und genau deshalb geht da niemand mehr hin.
Es gibt ein Bia in Hanoi
Und so mundet erst mal wieder das Bier. Es gibt in Hanoi viele Straßenbrauereien. „Bia Hoi“ was auf Deutsch so viel wie „frisches Bier“ heißt, schmeckt tadellos. In kleinen Grüppchen stehen niedrige Plastikstühle auf dem Bürgersteig. Ein Nachbar braut, und seine Freunde sitzen auf den Stühlchen und prosten sich zu.
10.000 vietnamesische Dong kostet ein Drittelliter, umgerechnet 40 Cent. Die Nachbarn kommen, um zu ratschen, zu rauchen, ein paar Erdnüsse, Frühlingsrollen oder getrockneten Tintenfisch zu essen – und um das Frischbier zu genießen. Drei, vier Gläser später ziehen sie weiter, schwingen sich auf ihren Mopeds und knattern hinaus in die Straßen von Hanoi. Laufen mag niemand in Südostasien. Die Straßen sind voll, die Bürgersteige eher ein Platz für Ess- und Trinkstände und ihre Kunden.
Bia Hoi ist eine der Hinterlassenschaften der französischen Kolonialherrschaft in Vietnam. Im späten 19. Jahrhundert brachten die Franzosen ihr leichtes Bier nach Vietnam und eröffneten in Hanoi die erste Brauerei. Nachdem die Sozialisten unter Ho Chi Minh die Macht übernommen hatten, verließ auch das Brauwissen das Land. In die Bresche sprangen Bierexperten aus dem sozialistischen Bruderland Tschechien; sie lehrten die Vietnamesen abermals, wie man Bier braut.
Vietnam ist ein junges Land, das mittlere Alter beträgt gerade einmal etwas mehr als 30 Jahre. In Deutschland liegt das Median-Alter bei gut 47 Jahren. Mehr als die Hälfte der rund 96 Millionen Vietnamesen sind derzeit im besten Biertrinkeralter zwischen 18 und 50 Jahren.
Prost heißt auf vietnamesisch chuc mng. Chuc mng, Herr Nachbar. Und weil es so schön ist, bietet er mir auch gleich eine Zigarette an. Die nächste Runde geht auf mich. Paff. Chuc Mng.
Die Tourismusindustrie liegt am Boden
Ganz anders in der Old Street dem touristischen Zentrum Hanois: Verwaiste Geschäfte, geschlossene Hotels und Guesthouses, gespenstische Leere. Tristesse. Viele im Tourismus Tätige kämpfen ums Überleben. Die Nudelsuppenköchin, die an Rucksacktouristen ihre Suppen verkauft hat, kann, nachdem sie ihre eigene Suppe ausgelöffelt hat, am Hungertuch nagen.
In der Old Street waren vor einem Vierteljahr noch Tausende Touristen unterwegs. Einheimische verschlägt es hier kaum her. Sie haben ihre eigenen Treffpunkte, wo alles besser und vor allem billiger ist. Vor allem das Bia.
Das Erbe der Kolonialmacht Frankreich wird geschätzt
Im Gegensatz zu der ehemaligen Kolonialmacht China, das heute maximal unbeliebt ist, stehen Franzosen und Amerikaner hoch im Kurs. Das französische Erbe ist in Vietnam an wichtigen Stellen sichtbar:
- Die vietnamesische Schrift schreibt in lateinischen Lettern mit französischen Zusatzzeichen. Französische Pater entwickelten die Schrift bereits vor 400 Jahren. Sie lösten damit die verhassten chinesischen Schriftzeichen ab. Der Vorteil: 30 Zeichen sind leichter druckbar als 3.000 chinesische Symbole.
- Das Recht basiert auf dem französischen Rechtssystem.
- Französisch geprägte Kolonialbauten sind die Schmuckstücke Hanois.
- Mit Paté belegte Baguettes gibt es an jeder Straßenecke. Der französische Kolonialismus hat nicht nur hier Positives hinterlassen. Nach Corona stehen die Menschen wieder ohne Masken zusammen und schwatzen und futtern ihre belegten Baguettes.
Die vietnamesische Küche ist außerordentlich gut. Alles wird mit frischen Kräutern serviert. In Vietnam werden, wie in China, Unmengen von Kräutern und Pilzen angebaut.
Das Fleisch von Huhn und Ente ist für unsere Begriffe sehr fest und fast zäh. Die Keulen sind klein. Das braucht Gewöhnung. Aber so ist es, wenn die Hühner hinter dem Haus rennen und dann auf dem Markt verkauft werden. Da muss man das Huhn feste durchkauen, aber geschmackvoll ist es.
Vietnam ist ein junges Land. Erst wenn man dort ist, merkt man, wie alt Deutschland ist. Deutschland zweifelt vor allem an denen, die das Land geschaffen haben, den Alten. Nachdem die Schuldigen des Dritten Reichs schon durch die Alterung der Bevölkerung verschwinden, tritt nun eine neue Gruppe der Schuldigen ins Zentrum der Aufmerksamkeit: Die Nazis werden ersetzt durch den „alten weißen Mann“ (Alte weiße Frauen scheinen in diesem Feindbild abgesehen von der Umweltsau-, Steigerung Nazisau-Oma (WDR) nicht zu existieren). Er ist an allem Übel der Welt schuld. Leistungen hat er keine erbracht, nur die Gesellschaft und die ganze Welt ins Unglück gestürzt. Wohlgemerkt, es ist hier nicht vom schwarzen oder braunen, sondern vom weißen Mann die Rede.
Derlei unsinnige, ja menschenverachtend rassistische Ideologien sind in Vietnam nicht zu finden. Die jungen Leute glauben an sich, an ihre Zukunft und an die Zukunft ihres Landes. Sie sind stolz auf Vietnam und haben großen Respekt vor dem alten Mann, vor allem vor dem alten weißen Mann, der so viel entdeckt, entwickelt und gestaltet hat. Ohne ihn wäre die Welt und damit auch Vietnam heute Mittelalter.
Der Vietnamkrieg
Nur in einem sind sich die Vietnamesen nicht einig: Der Bewertung des Vietnamkrieges. Ganz im Gegensatz zu dem, was der schuldgebeugte weiße Mann aus dem Westen annimmt, wäre es einem großen Teil der Vietnamesen besonders im Süden deutlich lieber gewesen, die Amerikaner hätten diesen Krieg gewonnen. Dann gäbe es nicht die Herrschaft korrupter Kader, die ein armes Land regieren. Die Vietnamesen, die Preussen Asiens, wären dann auf dem Stande Südkoreas.
Und die jungen Leute sind extrem leistungsorientiert. Wie die jungen Leute in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg klotzen sie ran. Das hat die herrschende KP verstanden und sie orientiert sich am chinesischen Modell, obwohl in Vietnam kein Land so unbeliebt ist wie China.
Während in D der Leistungsgedanke zunehmend als unmenschlich gilt, ist er hier die Leistung das Maß der Dinge. In Deutschland kann sich die neue Ökobourgeoisie eigentlich gar kein besseres Leben mehr vorstellen kann. Die Utopie wird also ins infantile Märchenland verlagert. Das ist in Vietnam grundsätzlich anders. Wer nicht arbeitet, verhungert ganz einfach. Wer todkrank ist und sich kein Krankenhaus leisten kann, stirbt. Hier ist die Motivation also eine ganz andere. Es wird gearbeitet, gearbeitet und gearbeitet. Alles für eine gute Zukunft in Wohlstand, für das Land, die Familie, für die Eltern und die vielen Kinder.
Auf meinem Spaziergang entlang einer Hauptstraße treffe ich auf zwei Weißrussen. Sie sind hier gestrandet, kommen nicht mehr weiter. Sie halten Plakate hoch, in denen in vietnamesischer Sprache steht:
Ich habe mein Geld verloren
Bitte helft mir!
Ich muss mir ein Ticket nach Hause kaufen.
Und die Vietnamesen sind großzügig. Immer wieder wandert ein Schein in den Hut der Weißrussen.