Tichys Einblick
Kritik am Bundesverfassungsgericht

Deutschlands Abschied vom Verfassungspatriotismus

Deutsche Politiker und Medien können mit ihrer Verfassung offenbar nicht mehr viel anfangen. Das Grundgesetz erscheint vielen nur noch als Hindernis bei dem Versuch, einen europäischen Staat zu schaffen, in dem die Bundesrepublik sich möglichst spurlos auflösen soll. 

Der scheidende Präsident des Verfassungsgerichtes, Andreas Voßkuhle, wurde kürzlich mit der Aussage zitiert, die Deutschen seien nun wirklich Verfassungspatrioten geworden, das merke man daran, wie lebhaft sie auch in der Corona-Krise über eine Einschränkung ihrer Grundrechte stritten. Voßkuhle mag ein bedeutender Jurist sein, aber ob er die Stimmung in Deutschland richtig einschätzt, daran muss man doch Zweifel haben. Wie wollte man sich sonst die Reaktion auf das unter Voßkuhles Ägide zustande gekommene jüngste Urteil des Verfassungsgerichtes zu den Anleihenkäufen der EZB erklären? Sicher, man kann dieses Urteil schon deshalb kritisieren, weil es inkonsistent ist, wie schon an anderer Stelle auf Tichys Einblick betont wurde. Einerseits wird der Weg für weitere Anleihenkäufe durch die EZB unter Beteiligung der Bundesbank am Ende doch freigemacht. Die EZB oder an ihrer Stelle die Bundesbank muss die Käufe nur ein wenig anders und ausführlicher begründen als bisher und die Bundesregierung einen solchen Bericht dann zustimmend zur Kenntnis nehmen. Notfalls verabschiedet auch noch der Bundestag eine zustimmende Resolution – und das wird er natürlich tun –  und alles ist in bester Ordnung. 

Dass die EZB schon seit 2012 faktisch eine nur mühsam kaschierte Politik der monetären Staatsfinanzierung betreibt, hat Karlsruhe nicht auszusprechen gewagt. Das kann man sogar verstehen, denn damit hätte es die Währungsgemeinschaft des Euro in die Luft gesprengt. Nur, wenn man hier nicht bereit ist, Ross und Reiter zu nennen, dann ist der harte Tadel Karlsruhes an der Rechtsprechung des EuGH eben doch nur begrenzt nachvollziehbar. Sicher hat man es sich dort mit der Politik der EZB sehr einfach gemacht und ist einfach nur dem Prinzip gefolgt „Not kennt kein Gebot“, denn nach ihren Statuten darf die EZB an sich weder Wirtschaftspolitik betreiben noch monetäre Staatsfinanzierung. Nur, gar so weit liegen in diesem Punkt Karlsruhe und der EuGH eben doch nicht auseinander, denn am Ende hat sich ja auch Karlsruhe der normativen Kraft des Faktischen gebeugt, oder zumindest seinen Willen signalisiert, dies in Zukunft zu tun, wenn nur die bittere Pille ein wenig rhetorisch versüßt wird. Von daher kann man die Widersprüchlichkeit des Karlsruher Urteils, das am Ende eher wie ein ein symbolischer Versuch wirkt, die eigene Selbstachtung zu wahren, auch mit Recht kritisieren. 

Deutsche Medien und Politiker überbieten sich in ihren Angriffen auf Karlsruhe

Zeit zum Lesen
„Tichys Einblick“ – so kommt das gedruckte Magazin zu Ihnen
Seltsam ist es aber, wenn große Teile der Medien in Deutschland und die deutliche Mehrheit der Politiker von den Grünen über die SPD bis hin zu zahlreichen Vertretern der Unionsparteien jetzt die Richter des Verfassungsgerichtes als Stichwortgeber heimtückischer Rechtspopulisten und als böse Nationalisten verdammen. Man wirft ihnen vor, die hehre Idee der europäischen Einigung aus dem Hinterhalt zu sabotieren, und mit irgendwelchen juristischen Spitzfindigkeiten die großartige Vision der Vereinigten Staaten Europas anzugreifen. Welch Sakrileg!

Das zeigt nicht nur, dass das Verfassungsgericht in europarechtlichen Fragen in der Politik über keinen wirklichen Rückhalt mehr verfügt, sondern auch, dass die Deutschen beginnen, von ihrer Verfassung, dem Grundgesetz, auf das sie vielleicht wirklich einmal ein wenig stolz waren, Abschied zu nehmen. 

Dem Verfassungsgericht ging es ja darum, dass der EuGH nicht einfach ohne explizite Ermächtigung durch die Nationalstaaten die Kompetenzen der EU und ihrer Organe auf dem Wege einer Rechtsprechung, die faktisch neues Recht schafft, erweitern kann. Damit wird nämlich der zentrale Grundsatz der Volkssouveränität, auf den das Grundgesetz ausgerichtet ist, in Frage gestellt. Aber das wird entweder heute in weiten Teilen der Politik gar nicht mehr verstanden oder für bedeutungslos gehalten. Das Grundgesetz erscheint vielen deutschen Politiker von Sven Giegold von den Grünen bis hin zu Markus Ferber von der CSU nur noch als Hindernis bei dem Versuch, einen europäischen Staat zu schaffen, in dem die Bundesrepublik sich möglichst spurlos auflösen soll. 

In historischer Perspektive hat der Verfassungspatriotismus meist nur dort integrierend gewirkt, wo er missionarisch war wie in Frankreich oder den USA – wo man das eigene Land als Ursprung der Freiheit schlechthin und daher als überlegen betrachtet. Wie immer er aussehen mag, so wie im gegenwärtigen Deutschland sieht er jedenfalls nicht aus. Im Gegenteil, es scheint, die Deutschen sind ihrer Verfassung überdrüssig geworden, das lässt die Reaktion auf das Urteil Karlsruhes recht deutlich erkennen, denn sie geht weit über eine Kritik an einzelnen Aussagen des Urteils hinaus. 

Schwanengesang in Karlsruhe
Das letzte Aufbäumen des Bundesverfassungsgerichtes gegen den EuGH
Für die Kritiker ist jeder Widerstand gegen die schleichende Ausdehnung der Kompetenzen der EU, und sei er noch so gut verfassungsrechtlich begründet, illegitim. Nur, wenn die Deutschen mit ihrer Verfassung nicht mehr viel anfangen können, was hält die Bundesrepublik als Staat dann überhaupt noch zusammen? Vielleicht der zu steter Reue mahnende Blick in den Abgrund der eigenen Geschichte, die, je größer die zeitliche Distanz zum Dritten Reich wird, umso mehr als bloße Abfolge von Katastrophen und Untaten erscheint, wenn sie nicht in ihren älteren Abschnitten, vor 1800 oder sogar schon vor 1900, überhaupt für gänzlich irrelevant gehalten wird. Aber wird das reichen?

Sicher, es gibt einstweilen noch einen halbwegs funktionierenden, allerdings immer fragiler werden Sozialstaat, den ein europäischer Bundesstaat den Deutschen sicher so nicht wird bieten können oder wollen. Aber in Zeiten des wirtschaftlichen Niedergangs wäre es schon gut, wenn man sich auf ein paar Gemeinsamkeiten besinnen könnte, um die unvermeidlichen Verteilungskämpfe in geregelte Bahnen zu lenken und um die notwendigen Opfer, die der Staat nun von vielen verlangen wird, zu legitimieren. Zu diesen Gemeinsamkeiten könnte dann wohl auch das nachdrückliche Bekenntnis zum Grundgesetz gehören, das freilich trotz eines europafreundlichen Grundtons leider eine Verfassung ist, die auf eine nationalstaatliche Demokratie zugeschnitten ist, nicht auf einen durchweg postdemokratischen europäischen Staat. Aber offenbar bedeutet diese Verfassung der politischen Klasse und großen Teilen der Öffentlichkeit nicht mehr gar so viel, sonst würde man das Verfassungsgericht jetzt nicht so heftig angreifen und würde nicht so stark betonen, dass die europäische Rechtsordnung, die eben keine klassische Verfassung kennt, sondern ein undurchdringliches Labyrinth von komplexen Verträgen und einzelnen Verordnungen ist, einen absoluten und uneingeschränkten Vorrang vor dem Grundgesetz und dessen Auslegung durch das Verfassungsgericht hat. 

Der europäische Gerichtshof hat schon seit Jahrzehnten nationale Regelungen und Gesetze ausgehebelt, um damit – so die offizielle Begründung – sicherzustellen, dass der Binnenmarkt reibungslos funktioniert. Hier konnte man ihm noch leidlich gute Absichten unterstellen, auch wenn es nicht Aufgabe eines Gerichtes ist, Wirtschaftspolitik oder überhaupt Politik zu betreiben. In jüngerer Zeit ist aber der Hochmut gegenüber den Rechtsordnungen der Nationalstaaten und den nationalen Gerichten immer größer geworden.

Dem BverfG sei Dank
Europa, das sind wir! Der absolutistische Machtanspruch von EuGH, EU-Kommission und EZB
Am Ende ist das Urteil aus Karlsruhe trotzdem nicht mehr als ein halbherziger Warnschuss. Aber für den EuGH dürfte das Gleiche gelten wie für die europäischen Institutionen insgesamt: Er wird sich als nicht lernfähig erweisen, zumal die massiven Angriffe auf Karlsruhe vonseiten deutscher Politiker und in den deutschen Medien – von Christian Reiermann im Spiegel bin hin zu Christoph Schwennicke im Cicero (der sonst auch schon mal mit konservativen Positionen flirtet) – die Richter in Luxemburg in ihrer Überzeugung bestärken werden, dass die deutschen Kollegen nur die isolierte Nachhut einer aussterbenden Spezies konservativer Verteidiger des Nationalstaates sind. Die überzogene Kritik an Karlsruhe wird damit durchaus nachhaltigen, auch finanziell und wirtschaftlich spürbaren Schaden anrichten. 
Wer den Nationalstaat überwinden will, muss auch das Grundgesetz überwinden, daher rührt die Kritik an Karlsruhe

Darüberhinaus zeigt sie aber, dass man in Deutschland mit vielen Werten und Normen der eigenen nationalstaatlichen Verfassung nicht mehr viel anfangen kann. Die Sehnsucht danach, den eigenen Nationalstaat um wirklich jeden Preis hinter sich zu lassen, ist in Deutschland unendlich groß; dafür gibt man auch das Grundgesetz zur Not preis. Das zeigt einmal mehr, wie wenig tragfähig die sehr abstrakte Idee des Verfassungspatriotismus – eine typische Kopfgeburt von Intellektuellen –  ist, wenn ein solcher Verfassungspatriotismus nicht begleitet wird von einem eher konventionellen Nationalbewusstsein, das sich in sinnstiftenden historischen Narrativen artikuliert, die die Verfassung als Ergebnis sehr spezifischer kultureller Prägungen und historischer Erfahrungen nicht nur negativer und traumatischer, sondern auch positiver Art erscheinen lässt. Über solche Narrative hat die Bundesrepublik Deutschland vielleicht nie im Übermaß verfügt, heute haben sie sich vollständig verflüchtigt. Daher kann man am Ende auch mit dem Grundgesetz nicht mehr gar so viel anfangen, oder ist doch zumindest bereit, es jederzeit gegen die europäische Agrarmarktordnung oder die phantasievollen Rechtssetzungen des EuGH einzutauschen. Vielleicht gilt dann am Ende einfach der Satz: Was fällt, das soll man auch noch stoßen.

Anzeige
Die mobile Version verlassen