Die Kontroverse zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem EuGH um die Rechtmäßigkeit geldpolitischer Maßnahmen der Europäischen Zentralbank (EZB) ist nicht unversehens vom Zaun gebrochen worden, sie hat eine Vorgeschichte, die geeignet ist, das europäische Einigungswerk auf eine harte Probe zu stellen. Nachdem die EZB im Herbst 2019 zum wiederholten Male Entscheidungen zu Lasten der nordeuropäischen Volkswirtschaften und gegen das eigene Mandat getroffen hatte, sich nicht mit vertragswidrigen Maßnahmen in die wirtschaftspolitische Hoheit der Mitgliedstaaten einzumischen, regte sich ein bisher nicht gekannter Widerstand sowohl in der Fachwelt als auch in der breiten Öffentlichkeit.
Es ging nicht nur um die Forderung nach Beendigung der Nullzinspolitik, die Wirtschaft wie Bürger in ganz Europa in Mitleidenschaft zieht, sondern vor allem um die Ablehnung der dieser Politik zugrunde liegenden Anleihenaufkaufprogramme zugunsten der südeuropäischen Schuldenstaaten. Erstmals in der EZB-Geschichte begehrte das zuständige Fachressort gegen das eigene Direktorium auf und die deutsche Direktorin Sabine Lautenschläger erklärte in einem aufsehenerregenden Schritt ihren Rücktritt. Fünf ehemalige europäische Notenbanker griffen in die Auseinandersetzung ein, indem sie sich gegen die systematische Verletzung des Maastricht-Vertrages wandten.
Der frühere Bundesbanker Axel Weber verwies auf die Unverhältnismäßigkeit der mit immensen Kollateralschäden verbundenen EZB-Politik. Das ehemalige Mitglied des Bundesverfassungsgerichts Paul Kirchhof intervenierte noch direkter, indem er der europäischen Notenbank vorwarf, in die Eigentumsrechte der Bürger einzugreifen: „Wenn der Bürger sein Geld der Bank überlässt, muss dieses Eigentum prinzipiell nutzbar und ertragsfähig sein. Und genau das organisiert die Europäische Zentralbank weg – ohne jedes Mandat. Sie besitzt nur ein Mandat für die Geldwertstabilität, nicht für Umverteilung.“ Treffender schließlich als ein Bürger aus der Bankenmetropole Frankfurt am Main, in der auch die EZB ihren Sitz hat, vermochte wohl niemand den alle Grenzen sprengenden währungspolitischen Skandal auf den Punkt zu bringen: „Die EZB finanziert seit Jahren die Pleitestaaten der EU, die auf hunderten Milliarden fauler Kredite sitzen. Sie nimmt mit ihrer Nullzinspolitik in Kauf, auch die Geschäftsmodelle unserer Banken weiter zu ruinieren. Wie lange lassen wir uns das noch gefallen?“
Da sich die billionenschweren Anleihekäufe mittlerweile als stumpfes Schwert im Kampf gegen die Überschuldungskrise südeuropäischer Mitgliedstaaten erwiesen hatten, kamen in der Zwischenzeit die Eurobonds als weiteres Refinanzierungskonstrukt ins Spiel. Die Idee des vor allem von Italien geforderten Finanzierungsinstruments besteht darin, den Zufluss neuer Mittel zu sichern, ohne dabei den eigenen Schuldenstand auszuweiten, da die Schuldhaftung von der EU insgesamt, d.h. von den europäischen Nachbarn übernommen werden soll.
Die Heftigkeit und Verbissenheit der Eurobondsdebatte im Vorfeld des BVerfG-Urteils macht deutlich, dass es sich längst nicht mehr um eine fachliche Auseinandersetzung über währungspolitische Fragen sondern um eine tiefsitzende Bewusstseinskrise der Europäer handelt, die längst auch in den Sozialen Medien ihren Niederschlag gefunden hat. So erhielt ich eine bezeichnende Antwort aus Italien, als ich mich zu den Eurobonds auf Twitter zu Wort gemeldet hatte: „Warum sollten die Krankenschwester und der Busfahrer aus Deutschland über ihren Haftungsanteil an der eigenen Staatsschuld hinaus auch noch für die Überschuldung der Italiener aufkommen, die es sich leisten, schon mit 62 in Rente zu gehen?“
Dazu der höfliche und nachdenklich stimmende Kommentar einer Italienerin: Diesen Einwand könne sie durchaus verstehen, ihr ginge es aber um den ungerechten Wettbewerbsvorteil, den sich die Deutschen mit ihrem übergroßen Billiglohnsektor auf den Weltmärkten und auch gegenüber Italien verschafften. Es sei nicht mehr als recht und billig, wenn die aus den hohen deutschen Exportüberschüssen fließenden Profite zu einem angemessenen Anteil nach Italien transferiert würden.
Auch wenn man hätte annehmen können, dass das Karlsruher Urteil als Stoppsignal in der aktuellen Eurobondsdebatte gedacht war, bezieht sich die Entscheidung des II. Senats tatsächlich auf eine Verfassungsbeschwerde, die fünf Jahre zurückliegt, bei der es ebenfalls um vertragswidrige Geldbeschaffung geht. Die sowohl politische wie juristische Delikatesse des Urteils liegt darin, dass das deutsche Verfassungsgericht mit der EZB eine der bedeutendsten europäischen Institutionen zur Rechenschaft zieht und zugleich das Prüfverfahren des höchsten europäischen Gerichts, des EuGH, in dieser Sache einer Revision unterzieht.
Neben der Prüfung der Rechtmäßigkeit des Anleihekaufs waren es vor allem diese Nebenwirkungen und ihre Unverhältnismäßigkeit zu den mit dem Kaufprogramm verfolgten Zielen, die das deutsche Verfassungsgericht bei seinem Urteil im Auge hatte. Es gibt der EZB eine Dreimonatsfrist, in der die Verhältnismäßigkeit der getroffenen Maßnahmen nachzuweisen ist. Sollte dieser Nachweis nicht erbracht werden, wird angedroht, die weitere Mitwirkung der Deutschen Bundesbank an den geldpolitischen Maßnahmen der EZB auszusetzen.
Endlich einmal, so wurde der Richterspruch aus Karlsruhe vielerorts in Deutschland empfunden, eine Institution, die sich nicht am Nasenring durch die Weltgeschichte führen lässt und die dem Bürger die Rechte zubilligt, die ihm nach der Verfassung zustehen. Ganz anders die Reaktionen in Europa, die vor allem daran Anstoß nahmen, dass es das BVerfG nicht beim Rechtsstreit mit der EZB über ihre geldpolitischen Maßnahmen beließ, sondern den EuGH in sein Urteil mit einer Rüge einbezog und damit einen handfesten europäischen Organstreit heraufbeschwor. Da das höchste europäische Gericht das Anleihekaufprogramm der EZB für rechtmäßig befunden hatte, fuhren die Kollegen aus Karlsruhe schweres Geschütz auf und nannten das Vorgehen der Luxemburger „methodisch schlechterdings nicht mehr vertretbar“ – der EuGH habe damit selbst europäisches Recht gebrochen.
Die europäischen Institutionen EU-Kommission, Europaparlament und EuGH wiesen in ihren ersten Stellungnahmen auf den Vorrang europäischen Rechts vor nationalem Recht hin und dass Urteile des EuGH für alle nationalen Gerichte bindend seien. Parlamentspräsident Manfred Weber monierte, dass mit dem Karlsruher Urteil zwei Dinge in Frage gestellt worden seien, die für Deutschland immer zentral waren: neben dem Primat europäischen Rechts die Unabhängigkeit der EZB. Die Kommissionspräsidentin von der Leyen stellte sogar die Möglichkeit eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen die Bundesrepublik Deutschland in den Raum.
Ausgewogener beschrieben die Parlamentspräsidenten von Frankreich, Spanien, Italien und Deutschland ihre Position in einem gemeinsamen Memorandum, das zeitgleich aus Anlass des 75. Jahrestages des Endes des Zweiten Weltkrieges erschienen war. Auch ihnen geht es vor allem um die Erhaltung von Freiheit und Demokratie und um die Pflege der Solidarität der Mitgliedsländer untereinander, wobei sie das Bekenntnis zu gemeinsamen Werten und die Einhaltung der vereinbarten Regeln hervorhoben. Sie bekräftigten, dass die EU kein kollektivistisches System und kein Bundesstaat sondern ein Staatenbund sei: Sie wolle weder Staaten ersetzen noch nationale Unterschiede einebnen.
Auf dieser Linie bewegte sich auch die Stellungnahme von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble. Auch wenn er das Karlsruher Urteil angesichts der gegenwärtig besonders volatilen politischen Großwetterlage in Europa in gewisser Weise als gefährlich betrachtet, steht für ihn die Absage an kollektivistische, bundesstaatliche Kompetenzen für die europäischen Institutionen im Vordergrund, besonders dann, wenn sie wie die EZB nicht demokratisch legitimiert sind und ihr Handeln daher streng auf ihr Mandat zu begrenzen sei. Er könne den Grundgedanken des Urteils nachvollziehen, eine Anspielung auf das ihm zugrunde liegende Verhältnismäßigkeitsgebot, das die Einhaltung der mit den europäischen Verträgen begründeten Regelwerke genauso beinhalte wie die Ausschließung von Eingriffen in die bürgerlichen Grundrechte.
Der EZB-Präsidentin Christine Lagarde blieb es in ihrer freimütigen und nonchalanten Art vorbehalten, das Tor für die Lösung des Rechtsstreits zwischen dem deutschen und dem europäischen Verfassungsgericht – wenn wohl auch unbeabsichtigt – einen Spalt weit zu öffnen. Sie stellte fest, dass die Währungsunion wegen ihrer Krisenanfälligkeit mit den EZB-Kaufprogrammen weiterentwickelt worden sei. Damit wären nach ihrer Auffassung die Vertragsgrundlagen inzwischen zum Teil überholt, auf die sich das deutsche Verfassungsgericht in seinem Urteil bezieht. Auch wenn diese Formulierung inzwischen wieder zurückgenommen wurde, ist offensichtlich, dass die Politik der Zentralbank tatsächlich von dieser Auffassung getragen war. Auf gut Deutsch heißt das, dass die EZB bei ihren umstrittenen geldpolitischen Manövern zugegebenermaßen aus eigener Machtvollkommenheit und nicht im Rahmen des ihr vorgegebenen vertraglichen Regelwerks gehandelt hat. Dem zuständigen II. Senat des BVerfG dürfte es mit diesem angedeuteten Eingeständnis der beklagten Notenbank nicht schwerfallen, den Kollegen des EuGH mangelnde Sorgfalt bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit des Anleihekaufprogramms nachzuweisen.
Das vor dem Karlsruher Urteil vom 5. Mai 2020 allseits geübte Wegschauen von den Manipulationen der mit ihren eigenen Statuten auf Kriegsfuß stehenden europäischen Notenbank dürfte seinen tieferen Grund in der Scheu haben, an ein Tabu zu rühren: Wäre doch der Weg zu einer klassischen, die Wirtschaftskräfte wiederbelebenden und die Interessen der Sparer wahrenden Geld- und Zinspolitik der EZB nur im Wege einer Neuformierung der Eurozone zu haben, an die sich in der EU bisher niemand heranzuwagen traute. Vielleicht hilft beim weiteren Nachdenken darüber der Hinweis, dass von den 27 Mitgliedsländern der EU acht aus freien Stücken nicht der Eurozone angehören und dass durchweg alle gut damit fahren.