Tichys Einblick
Steuerschätzung

Der Staat nimmt nicht zu wenig Steuern ein, sondern gibt zu viel aus

Die Steuerschätzer haben schlechte Nachrichten: Die Staatseinnahmen werden deutlich sinken. Dies und die neue "europäische" Freigiebigkeit der Bundeskanzlerin deuten darauf hin, dass die Steuerzahler bald mehr zur Kasse gebeten werden.

imago Images

Auf eines konnte sich die Bundesregierung im zu Ende gegangenen Jahrzehnt immer verlassen: eine starke Konjunktur mit dadurch wachsenden Steuereinnahmen. Die gesamte Politik der drei Merkel-Koalitionsregierungen seit der Finanzkrise stand auf dem Boden dieses Wachstums – nicht zuletzt die Willkommens- und Wir-schaffen-das-Haltung von 2015. Und womöglich beruht auch die aktuelle Freigebigkeit, mit der Angela Merkel jetzt einem europäischen „Rettungsfonds“ zustimmte, der nichts anderes bedeutet als die zuvor angeblich abgelehnten Eurobonds, noch auf der Annahme einer scheinbar immerdar steigenden Steuerzahlungsfähigkeit und -bereitschaft der Deutschen.  

Damit ist es aber nun vorbei. Die Nachricht des Arbeitskreises Steuerschätzung – ein amtliches Gremium des Bundesfinanzministeriums wohlgemerkt – macht das ganze Ausmaß des Bruches deutlich, den die Coronakrise bewirkt. Der Staat muss im Gesamtjahr mit einem 10-prozentigen Einbruch der Einnahmen rechnen, in absoluten Zahlen: 81 Milliarden Euro weniger als 2019. Und das dürfte noch eine optimistische Schätzung sein.

Das verändert nicht alles, aber viel im deutschen Politikbetrieb. 

Zunächst muss man aber festhalten: Auch mit 10 Prozent weniger Steuereinnahmen erhalten Bund, Länder und Kommunen noch riesige Beträge von den Bürgern, nämlich 683,8 Milliarden Euro. Nur mal so zur Einordnung dieser Zahl: Im Jahr 2005, dem ersten Merkel-Jahr, nahm der deutsche Staat 452,4 Milliarden Euro ein und im Jahr 2015 „nur“ 673,5 Milliarden. Das was vor fünf Jahren ein Rekord war, soll also nun ein Desaster sein. 

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Jetzt wird deutlich, wie unstabil eine Volkswirtschaft und vor allem ein Staatswesen ist, wenn es dauerhaftes Wachstum der Wirtschaft und des Staatshaushaltes zur Normalität erklärt und zur Voraussetzung von Stabilität macht. Die eigentliche, schleichende Katastrophe der deutschen Staatsfinanzen – und nicht nur der deutschen – ist ihre fortgesetzte Expansion und die Erwartungshaltung, dass das so weitergehe. 

Der deutsche Staat hatte 2015 nicht zu wenig Geld. Und das deutsche BIP war auch 2015 (als es mehr als 10 Prozent unter dem von 2019 lag) nicht so gering, dass das an und für sich schon eine Katastrophe wäre. Wenn ein Staat heute oder morgen nicht mit dem Geld auskommt, mit dem er vor gerade einmal fünf Jahren auskam, dann liegt eigentlich der Schluss nahe, dass sich der Staat zu viel vornimmt. 

Das Problem des Einbruchs der Wirtschaft und damit auch der Steuereinnahmen ist kein absolutes. Es ist ein Problem der Desillusionierung, also der Enttäuschung von (möglicherweise illusionären) Erwartungen.  

Oft ist in diesen Wochen davon die Rede, was man von dieser großen Krise lernen könnte und was sich denn nun grundlegend ändern müsse. Eigentlich sollte man meinen, dass eine Einsicht in die Begrenztheit wirtschaftlicher und damit auch staatlicher Möglichkeiten eine der wichtigsten Lehren sei. Im politischen Betrieb (Regierungsparteien ebenso wie die anderen und inklusive Medienöffentlichkeit) aber droht sich als Reaktion auf die Wirtschaftskrise eine einzige geschlossene Antwort zu etablieren: Mehr Staatsaktivität, um bloß keine Erwartungen zu enttäuschen.  

Das ist zwar nicht vernünftig, aber verständlich. Denn diejenigen, die den politischen Betrieb ausmachen, nämlich die Kaste der Berufs-Partei-Politiker, profitiert davon selbst. Staatsaktivität zu beschränken oder gar zu verringern, setzt für Politiker ein gewisses Maß an Selbstlosigkeit voraus. In der Regel muss die Motivation für Politiker, den Staat zu bremsen, deswegen von außen kommen – von den wählenden Bürgern.

Natürlich waren und bleiben die akuten Corona-Unterstützungsmaßnahmen für Selbständige, Unternehmen und Beschäftigte richtig, um diejenigen, die sonst ohne eigenes Verschulden die Folgen der staatlichen Infektionsschutzes überproportional hätten erleiden müssen, zu entlasten. Das war ein Akt staatlich organisierter Solidarität. Der Staat kann und muss dafür sorgen, öffentliche Lasten zu verteilen – wenn diese anfallen.

Das Paradebeispiel war der sogenannte „Lastenausgleich“ nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Umverteilung erfolgte dadurch, dass diejenigen, denen nach 1945 erhebliches Vermögen verblieben war, weil ihre Häuser oder Fabriken nicht zerbombt wurden, eine Lastenausgleichsabgabe zahlen mussten, die der Staat dann an Vertriebene, Ausgebombte und Kriegsheimkehrer weiterreichte. Die Verteilung der Lasten erfolgte also nicht aus dem Steuertopf, sondern über eine zweckgebundene Abgabe, die nach Ende des Programms wegfiel. Die Staatsaktivität expandierte deswegen nicht dauerhaft durch den Lastenausgleich. Auf so eine Idee käme heute wohl niemand mehr.

Die an sich für jeden Kaufmann, jede schwäbische oder nicht-schwäbische Hausfrau und überhaupt jeden halbwegs mit Vernunft begabten Menschen nahliegende Schlussfolgerung, dass ein Staatshaushalt, dessen Einnahmen sinken, darauf nicht zuletzt mit der Senkung der Ausgaben reagieren sollte, kommt in der gegenwärtigen Politik offenbar niemandem in den Sinn. Der Bundesfinanzminister und andere Regierungspolitiker brüsten sich zwar gerade in jüngerer Zeit damit, man habe „gut gewirtschaftet“, aber eigentlich stimmt das natürlich nicht. Dank der guten Konjunktur und „dank“ des Hochbesteuerungsregimes, das Generationen deutscher Finanzpolitiker etabliert haben, wuchsen die Steuereinnahmen des Staates eben nach der Finanzkrise noch stärker als die Staatsausgaben. Aber „gut wirtschaften“ wird man das wohl kaum nennen können, wenn bei Höchstbeschäftigung die Sozialquote, also der Anteil der staatlichen Sozialmaßnahmen, auf rund 30 Prozent der Gesamtwirtschaftsleistung steigt.

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Nun aber wird es bei den Staatsausgaben bald wohl überhaupt kein Halten mehr geben. Der Versuchung, einen fließenden Übergang von der unmittelbaren Hilfsgeldzahlung für Krisen-Opfer zu einer groß angelegten Expansion staatlicher Wirtschafts- und Sozialpolitik zu orchestrieren, werden allzuviele Akteure in der Regierung nicht widerstehen. Von Grünen und Linkspartei werden sie dabei noch angetrieben werden. Die Coronakrise wird nicht nur die Sozialausgaben in schwindelerregende Höhen katapultieren, sondern auch der Anlass für Verstaatlichungen und große Konjunkturprogramme auf nationaler und EU-Ebene werden. Da der Wettbewerb und damit die eigentlich in der Marktwirtschaft notwendige kreative Zerstörung von nicht mehr konkurrenzfähigen Unternehmen durch diese Hilfsprogramme de facto ausgesetzt ist, wird die Zahl solcher Zombie-Unternehmen noch steigen. Und mit diesen steigt auch der Anteil von direkt oder indirekt staatsabhängigen Wirtschaftsakteuren, die Politiker wie Katrin Göring-Eckard dazu zwingen wollen, ihre geschlechter- oder umweltpolitischen Ziele umzusetzen.

Ein großer, wohl der größte Teil des Geldes, das der deutsche Staat nun zusätzlich ausgibt, wird durch Neuverschuldung beschafft werden, aber das wird nicht genügen. Der SPD-Vorsitzenden Saskia Esken und anderen Politikern diesseits und jenseits der Großen Koalition ist schon anzumerken, dass sie sich auf die nächsten Steuererhöhungsrunde freuen. Wer hofft, dass die CDU da nicht mitmache, sollte sich die jüngste Fragestunde mit der Bundeskanzlerin im Bundestag nochmal anhören. „Hier und jetzt“, werde es keine Steuererhöhungen geben, sagte Merkel. Aber eine „Zukunftsvorherseherin“ sei sie nicht, ergänzte sie vielsagend.

Man erinnert sich ja, wie konsequent Merkel in 15 Jahren ihrer Regentschaft eine Forderung der SPD nach der anderen erfüllt hat – und wie konsequent Merkel den Forderungen aus Frankreich und anderen EU-Ländern nach gemeinsamer Verschuldung in der EU begegnete. Die deutschen Steuerzahler werden für beides geradestehen müssen. Die Illusionen platzen nicht hier und nicht jetzt – aber bald. 

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