Eine Lebenslüge geistert durch Europa. Diese Lebenslüge, sagen manche, könnte zum Ende der „westlichen Zivilisation“ führen. Und, glaubt man gewissen Klima-Experten, zum Ende der Menschheit insgesamt.
Diese Lebenslüge lautet: Es ist okay, dumm zu sein.
Diese Lebenslüge findet viele Umformulierungen, etwa „du bist okay, wie du bist“ oder „hör auf dein Herz“ oder, im Amerikanischen, „follow your gut“. Doch insofern diese Appelle in ihrer Wirkung das Aufzeigen von Zusammenhängen übertönen, sagen sie im Grunde immer dasselbe: Es ist okay, dumm sein.
Nein, ist es nicht. Dummheit lähmt. Dummheit kann töten. Dummheit macht den Dummen zum Opfer des Schlauen.
Ich habe meine Follower bei Twitter gefragt, was ihre liebsten Beispiele öffentlicher Dummheit sind. Es kamen viele, zu viele Vorschläge. Beim Lesen will einem streckenweise der Kopf zerspringen. Ich empfehle, den gesamten Thread zur amüsierten Lektüre.
Lassen Sie mich, von den Antworten inspiriert, eine kleine Auswahl der Dummheit in Lehrbuchqualität vorlegen, später wollen wir sie analysieren. (Wichtig vorab: Der hier verwendete Begriff von „Dummheit“ bezieht sich immer auf Handlungen, und seien es Sprech-Handlungen, nicht auf die Menschen dahinter. Die Menschen in unseren Beispielen sind, jeder auf seine eigene Art, selbst durchaus klug, doch dazu später mehr.) Hier also eine Top-5, ineinandergeflochten ohne Rücksicht aufs Datum.
1. „Wir kriegen jetzt plötzlich Menschen geschenkt“, freut sich Katrin Göring-Eckardt über Flüchtlinge und Migranten, doch Claudia Roth mahnt: „Es werden auch Menschen kommen, die nicht unmittelbar verwertbar sind!“ – Was soll man da noch sagen? Geschenktem Gaul schaut man nicht ins Maul? Nein, nein! Ein schlimmes, radikalpaternalisierendes Menschenbild, das da an die Oberfläche der deutschen Meinungssuppe blubbert.
2. AfD-Erfinder und Ex-AfD-ler Bernd Lucke eilt Claudia Roth argumentierend zur Hilfe, vorlaufend wohlgemerkt: „Das Problem sind eher Randgruppen wie Sinti und Roma, die leider in großer Zahl kommen und nicht gut integrationsfähig sind.“ Auch ein kluger Professor wie Bernd Lucke kann schon mal dumme Dinge sagen. Ein deutscher Politiker darf nicht eine Gruppe, die im Dritten Reich verfolgt wurde, im Wahlkampf instrumentalisieren. Nie.
So geht es nun jahrelang hin und her. Und mitten in unsere Krisen hinein hörte man plötzlich wieder das Krachen von Bomben und das Knattern von Maschinengewehren. Der Terror war in Europa angekommen.
Die deutschen Vordenker ringen nun um angemessene Reaktionen. Sie scheitern oft. Wer sich bislang schwerpunktmäßig aufregte, wenn Männer in Straßenbahnen nicht die Knie züchtig beieinander hielten („Manspreading“), dem fehlt schlicht das Begriffsmobiliar, in den alten, latent kindischen Termini die neue, erwachsene Gefahr adäquat einzuordnen.
3. Die reflexhafte erste Reaktion auf Terror ist regelmäßig die Behauptung, die Handlungen der Täter hätten nichts mit den Gedankenmustern der Täter zu tun.
Wenn Phänomen Y statistisch überproportional in Gruppe X auftritt, und zudem Fachleute die These aufstellen, dass es einen kausalen Zusammenhang von X und Y gibt, ja selbst die Täter von Y sich häufig auf X berufen, dann ist es „dumm“, diesen möglichen Zusammenhang grundsätzlich und qua Moral aus der Untersuchung herauszunehmen.
Doch wenn die eine Kausalität nicht greift, nicht greifen darf, dann braucht es eben eine andere Erklärung des Unbestreitbaren. So entstehen weitere dumme Aussagen.
4. Es war die erwähnte Katrin Göring-Eckardt, die eine bemerkenswerte Erklärung für Terror fand und zugleich einen Vorschlag für seine mögliche Abwehr: „Willkommenskultur ist der beste Schutz vor Terroristen.“
Kritiker haben Göring-Eckardts Aussage als Verhöhnung der jüdischen Opfer von Paris gelesen. Haben die Menschen, die von Maschinengewehren niedergemäht wurden, als sie am Freitag im koscheren Supermarkt für den Schabbat einkauften, sich zuvor einer mangelnden Willkommenskultur schuldig gemacht?
Solche (un)möglichen Implikationen sind die Folge der inhärenten Dummheit der ursprünglichen Aussage. Wie bei den Globuli der Homöopathen werden bei der Terror-Therapie der Göring-Eckardt einerseits offensichtliche Zusammenhänge ausgeblendet, andererseits Zusammenhänge behauptet, die nur ideologisch-märchenhaft zu begründen sind.
Doch nicht alle öffentlichen Sprecher behaupten falsche Zusammenhänge, um andere wiederum zu leugnen – einige Politiker entwickeln ganz neue Formen von Zusammenhangs-Blindheit.
5. Es war Thomas de Maizière, der sagte: „Ein Teil dieser Antworten würde die Bevölkerung verunsichern.“ Thomas de Maizière ist ohne Zweifel ein hochintelligenter Mann, dieser kleine Satz aber erfüllt die Kriterien, um „dumm“ genannt zu werden. Der Minister hatte wohl vergessen, dass er in einer Pressekonferenz saß, als er das sagte, und nicht in einer internen Besprechung. Das Internet übernahm es für ihn, über diese Zusammenhänge zu spekulieren.
Klarstellung 1: Ich halte wenig von den Methoden der Heute Show oder einer Dunja Hayali, die schon mal „einfache Menschen“ ohne Talking-Points-Erfahrung im Fernsehen bloßstellen. Es war Harald Schmidt, der sagte, anders als manche „Comedians“ würde er lieber nach oben treten, nicht nach unten. Unsere Beispiele stammen alle von „Profis“, von Menschen also, die qua Profession wissen sollten, was sie sagen und wie es wirken wird.
Klarstellung 2: Es sind die Äußerungen, die „dumm“ sind, nicht die Sprecher. Wenn die Sprecher „dumm“ wären, hätten sie es nicht so weit geschafft. (Schauen wir einfach in die USA im Jahr 2016, um zu sehen, dass man mit „dummen“ Aussagen – wenn man selbst intelligent und begabt ist – äußerst successful sein kann, yuugely successful.)
Was ist es aber, das diese Aussagen „dumm“ macht?
Wir brauchen eine kleine „Theorie der Dummheit“!
Zuerst: „Dummheit“, wie wir sie meinen, ist immer die Eigenschaft einer Aussage, eines Sprechakts oder einer konkreten Handlung, nicht die eines Menschen. Zudem lehrt uns die Geschichte, dass die allergrößten Dummheiten regelmäßig von hochintelligenten Menschen gesagt und getan werden. Ein von Natur aus „dummer“ Mensch, der es dennoch lebendig ins Erwachsenenalter schaffte, ahnt sehr wohl, dass seine Weltsicht beschränkt ist. Das Leben lehrte ihn Vorsicht und Nachrichten-Triangulation.
Es sind nicht die Dummen, die uns Angst machen sollten. Viel gefährlicher sind die Klugen, die dumm tun und damit die Halbklugen verführen. Manchmal ist es eben klug, dumm zu tun, denn der Markt für Dummheit ist groß.
Unsere Ad-Hoc-Theorie der Dummheit soll sein: „Dummheit“ ist das fahrlässige Ignorieren von Zusammenhängen. Ein Mensch wird von seinen Mitmenschen „dumm“ genannt, wenn er regelmäßig relevante Zusammenhänge ignoriert. (Gelegentlich auch, wenn er bloß unangenehme Dinge sagt, dann ist „dumm“ nur ein Schimpfwort ohne eigene inhaltliche Bedeutung.)
Wir alle reden und handeln gelegentlich dumm. Ich, Sie, wir alle. Es wäre wohl die schlimmste Form der Dummheit, sich seiner eigenen, gelegentlichen Dummheit nicht bewusst zu sein. Unser Denkvermögen ist nun einmal beschränkt und wir übersehen regelmäßig wichtige Zusammenhänge. Deshalb liest der kluge Mensch „kluge“ Bücher und Texte, die ihm Zusammenhänge erklären (statt nur seine Vorurteile zu bestätigen). Der kluge Mensch konfrontiert sich mit Meinungen, die der eigenen Weltdeutung in wichtigen Aspekten widersprechen und doch gut begründet sind. Wer nicht „verdummen“ will, wer also nicht riskieren will, die Zusammenhänge der Welt lächerlich falsch zu deuten, der muss täglich dazulernen und sich immer wieder hinterfragen. Wenn Sie heute exakt dieselbe Weltdeutung haben wie vor einem Jahr, haben Sie wahrscheinlich ein Dummheits-Problem.
Wieso nun sagen Politiker, Publizisten und Populisten gelegentlich Dinge, die eindeutig „dumm“ sind?
Der erste potenzielle Grund ist natürlich die immer mögliche Fehlleistung. Menschen machen Fehler. Nicht nur das Beharren auf alten Denkmustern schafft Dummheit. Auch wer neue Gedanken einführt, riskiert jedes Mal, einen wichtigen Zusammenhang nicht bedacht zu haben – sprich, etwas Dummes zu sagen.
Der zweite Grund für mögliche Dummheit: Dumme Aussagen sind (manchmal) profitabel. Ob Donald Trump oder Claudia Roth – nur Verlierer, so scheint es, lassen sich von Fakten und Zusammenhängen bremsen. Der Appell an die „gefühlte Wahrheit“ kann einen in hohe und höchste Ämter befördern. Dummheit ist eine profitable Ware, die schlaue Menschen mit Gewinn verhökern.
Das wäre alles amüsant, wenn es nicht so gefährlich wäre: Öffentliche Dummheit kann töten. Kinder sterben, weil einflussreiche Impfgegner den Zusammenhang zwischen Impfung und Krankheit leugnen. Stadtteile werden zu Gefahrenzonen, auch, indirekt, weil Richter sich nicht darum scheren, was Kuschelurteile in der Gesellschaft anrichten. Kriege dauern länger als notwendig, weil die „Weltöffentlichkeit“ nicht sieht, dass auch Nichthandeln eine Form der Dummheit sein kann.
Dummheit ist gefährlich. Wie kämpft man gegen die Dummheit? Man sucht nach den wichtigen Zusammenhängen und bringt sie in die Debatte ein. Das klingt einfach, ist aber, wie so oft, unendlich mühsam und wird zu oft mit Undank belohnt.
Ludwig Wittgenstein sagte einmal über die Philosophie, sie sei wie das Kratzen, wenn es einen juckt. Es genügt nicht, einmalig zu kratzen, so dass es für alle Zeiten ausreichte. Man muss immer wieder neu kratzen, wissend, dass es später wieder jucken wird. So ist auch der Kampf gegen die Dummheit, also gegen das fahrlässige Ignorieren von Zusammenhängen.
In Deutschland sind Waffen und harte Drogen verboten, denn sie sind gefährlich. Doch das fahrlässige Ignorieren von Zusammenhängen ist ebenso gefährlich, für den Einzelnen wie für die Gesellschaft.
Nun lässt sich Dummheit bekanntlich nicht verbieten. Auch Warnhinweise auf Websites oder im Vorspann von Talkshows wären wenig produktiv. Der Kampf gegen die Dummheit – nochmal: auch gegen die eigene! – muss Tag für Tag gekämpft werden und an manchen Tagen mag er zermürbend sein. Kaum hat man einen wichtigen Zusammenhang in die Debatte eingeführt, kommt ein neuer, faktenfreier, aber emotional aufgeladener Unsinn, frisst die Ratio, rülpst Wahlerfolge aus und lässt das Ganze wieder ins Tal scheppern.
Und doch, was wäre die Alternative zum täglichen Kampf gegen die Profiteure der Dummheit? Man könnte aufgeben. Man könnte schimpfen. Doch wäre uns das genug? Der Kampf gegen Dummheit mag frustrierend sein, aber noch frustrierender wäre es, sich endgültig abzufinden. Kampf der Zusammenhangsblindheit!
Es ist mühevoll und doch viel befriedigender, täglich neu zu sagen: Lass uns Fakten und Zusammenhänge prüfen! Wir wollen ja nichts Dummes sagen, oder?
Zusammenhänge aufzuzeigen ist eine Sisyphusarbeit. Halten wir uns also an Camus, der bekanntlich sagte: Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.
Einladung: Wenn Sie Lust haben, schreiben Sie in den Kommentaren Ihr Lieblings-Beispiel für öffentliche Dummheit! Vergessen wir nur nicht, dass es Aussagen und Handlungen sind, nicht Menschen, die wir „dumm“ nennen. Welche Zusammenhänge wurden in den Aussagen jeweils ausgeblendet?