Gehen Sie einmal in Gedanken das Haus durch, in dem Sie leben, oder das Haus, in dem Sie arbeiten. Welcher Einrichtungsgegenstand ist am wichtigsten – nein, erlauben Sie mir bitte, das neu zu formulieren: Das Fehlen welches Einrichtungsgegenstandes würde Ihnen am meisten Angst und Nervosität bereiten?
Wären es die Fenster? Nun, zumindest tagsüber wäre es kalt, ungemütlich und vielleicht auch nass, so ganz ohne Fenster, doch Angst hätte man doch bei Abwesenheit von Fenstern nur, wenn das Haus ein Flugzeug wäre, und die meisten Häuser sind keine Flugzeuge.
Wären es die Türen? Die Heizung, die Sanitärinstallation oder einfach die Lampen? – Vielleicht, aber stellen Sie sich einmal ein Haus vor, in dem alle Geländer fehlen!
Nicht nur wäre es in öffentlichen Gebäuden wahrscheinlich illegal, Treppen ohne Geländer zu bauen (an Arbeitsstätten müssen »Umwehrungen« mindestens 1 Meter hoch sein, und 1,1 Meter bei einer Absturzhöhe von mehr als 12 Meter, wenn ich arbeitssicherheit.de richtig verstehe) – es würde uns auch reichlich ängstlich über Treppen laufen lassen!
Stellen Sie sich eine Welt vor, in der keine Treppe und keine erhöhte Plattform ein Geländer hätten – bereits die Vorstellung macht uns nervös!
Alles nicht so schlimm
Es ist Mitte Mai 2020, das »Jahr der Pandemie« (und das Jahrzehnt des Wiederaufbaus der Wirtschaft nach dem Lockdown).
Die Angst vor dem Virus ist längst der Angst vor den Folgen der Anti-Virus-Maßnahmen gewichen. In Zeiten, als Politiker noch Verantwortung für ihre Taten trugen, hätte man den Atem angehalten in der Erwartung späterer Aufarbeitung. (Heute erklärt man, dass »jetzt keine Zeit für Schuldzuweisungen« sei, was Code ist für: »Haha, was wollt ihr machen?«)
Nein, dies ist nicht die Zeit der Verantwortung (gegen die Notwendigkeit, als Politiker die Verantwortung für seine Taten zu übernehmen, sollen befreundete Medienhäuser helfen, außerdem Geldtransfers an Zeitungen und Sender, ob als »Anzeige« versteckt oder direkt, und zur richtigen »Ölung« natürlich Journalistenpreise und die Aussicht, durch die »Berliner Drehtür« an einen sicheren Politik-Job zu gelangen). Von mir aus ist es auch »keine Zeit für Schuldzuweisungen« (was sollten sie auch bringen, siehe oben).
Dies ist weniger die Zeit der Verantwortung, höchstens eine Zeit der Reaktion – dies ist die Zeit der Dogmen.
Zu Beginn der »Coronakrise«, als längst die Nachrichten aus China und Italien nach Deutschland drangen, verkündeten Staatsfunk und Politik das Dogma, es sei alles nicht so schlimm, alles nur »rechte Panikmache« und »Verschwörungstheorie« (wir haben es dokumentiert, siehe etwa Essay vom 13.3.2020). Als aus der Opposition empfohlen wurde, frühzeitig Maßnahmen einzuleiten, gab man sich betont lässig (siehe Essay vom 22.3.2020).
Dann aber schlug, wie in diesen Jahren nicht zum ersten Mal, die Stimmung der Unfehlbaren ins Gegenteil um, und die Deutsche Presse folgte natürlich brav. Ein neues Dogma wurde verkündet – und es folgte der Lockdown. Aus dem einen dogmatischen Extrem (»nur `ne Grippe«) wurde das andere dogmatische Extrem (»Weltuntergang, die Bekämpfung ist jedes Opfer wert, beginnend mit Wirtschaft und Grundrechten«).
Es war das kleine, freie Medium Tichys Einblick, das am 9. Mai 2020 ein internes Schreiben aus dem Innenministerium veröffentlichte (am 12. Mai 2020 dann das gesamte Dokument), in dem zur Covid-Pandemie solche Worte wie »Fehlalarm« fielen. Es war natürlich »nur« die Meinung eines Referenten (wenn auch auf offiziellem Papier), und ein einzelner Mitarbeiter spricht wohl wirklich nicht für »das Ministerium« – und gerade deshalb war die Reaktion mindestens ebenso spannend wie der Text selbst.
Das Innenministerium spielte via Pressemitteilung das Papier des Referenten schnell zur privaten Meinung eines Einzelnen herunter, doch der aggressive und zugleich dogmatische Duktus der Seehofer-Behörde verwundert eine Zahl von Experten, welche das Ministerium berieten:
»In der Pressemitteilung gibt das BMI deutlich zu erkennen, dass es diese Analyse jedoch nicht berücksichtigen wird. Es ist für uns nicht nachvollziehbar, dass das zuständige Bundesministerium eine derart wichtige Einschätzung auf dem Boden umfassender fachlicher Expertise ignorieren möchte.« (diverse hochkarätige Mediziner, dokumentiert von achgut.com, 11.5.2020)
Was für merkwürdige Zeiten, in denen Experten von allergrößtem Kaliber geradezu darum betteln müssen, dass die Politik sich nicht nur nach Dogmen ausrichtet, sondern auch die Erkenntnisse der Wissenschaft zur Kenntnis nimmt. Nicht nur an diesem dieser Tage denkt man an Cesare Cremonini, der sich weigerte, durch Galileo Galileis Fernglas zu schauen. (Später hieß es, Cremonini hätte bereits davor durchgeschaut, und es hätte ihn schwindlig werden lassen.)
Offensichtlich corona-leugnend
In Ländern, in denen sogenannte »NGOs« die Debatte und die Politik beeinflussen, an traditionellen Kontrollen und demokratischen Prozessen vorbei, hat sich schon länger eine stark religiös geprägte Sprache eingebürgert. Abweichler vom aktuellen Dogma werden als »Leugner« diffamiert.
Wer der Doktrin des profitablen Greta-Projekts widerspricht, wird als »Klima-Leugner« beschimpft. (Nein, nicht immer ergibt die Wortkonstruktion einen Sinn – was sollte ein »Klima-Leugner« sein? – aber religiöse Aussagen begründen ihren Sinn ohnehin mehr auf »anderen Ebenen«.) – Maaßen gilt als »Chemnitz-Leugner« (siehe etwa @politicalbeauty, 18.12.2019/ archiviert), weil er sich weigerte, die von Merkel und Staatsfunk verbreitete Chemnitz-Lüge zu unterstützen (siehe Essay vom 17.9.2018). – Jener Referent des Innenministeriums wird, wenig überraschend, als »Corona-Leugner« bezeichnet. Man vergleiche etwa focus.de, 12.5.2020: »Nun kommt ausgerechnet aus dem Innenministerium ein brisantes Papier – verfasst von einem offensichtlich corona-leugnenden Mitarbeiter.«
Maaßen wurde gegangen, weil er sich weigerte, eine Lüge zu stützen. Und der Mitarbeiter, der dem Dogma des Tages widersprach? Er wurde von seinen Dienstpflichten entbunden, Innenminister Horst Seehofer lacht, im Innenministerium ginge es »liberal« her, manchmal »sogar zu liberal« – und dem Leugner wurde empfohlen, »sich eines Rechtsbeistandes zu bedienen« (welt.de, 13.2.2020). Es heißt, dass nicht der Inhalt des Schreibens das Problem war, sondern der Briefkopf und fake-offizielle Auftritt. Natürlich stellen sich eine ganze Reihe naheliegender Fragen zu der merkwürdig aggressiven Reaktion des Innenministeriums, doch wie üblich ist das die Art von Fragen, die Hauptstadtjournalisten nicht stellen, sonst wären sie vermutlich nicht Hauptstadtjournalisten geworden. (Zum Glück gibt es freie Medien, wie etwa tichyseinblick.de, 13.5.2020: »Horst Seehofer bleibt von naheliegenden Fragen verschont«)
Geschichtswissenschaftler kennen übrigens die Interpretationen, wonach die Inquisition nicht gar so »barbarisch« und »mittelalterlich« gewesen sei, wie sie uns heute vorkommt, sie sei vielmehr der Beginn des modernen Rechtsstaats gewesen, denn die armen Seelen, die des Verstoßes gegen die Dogmen angeklagt waren, erhielten ja einen »Prozess«.
Wegziehen von Geländern
Das Wort »Dogma« leitet sich vom griechischen δοκεῖν/δοκέω her, was in etwa meinen bedeutet, und selbst wieder abgeleitet ist von δέχομαι – was annehmen oder empfangen bedeutet. – Die Etymologie eines Wortes definiert gewiss nicht seine Bedeutung, und doch kann sie Hilfe und Inspiration zu unserer eigenen Verständnisfindung sein!
Unser Wissen ist fehlbar, doch es ist Folge unseres bestmöglichen Versuchs, eine faktenadäquate Beschreibung der Welt zu finden. Das Dogma ist eine »gesetzte Wahrheit«, die man zu glauben hat, und die zu überprüfen einem schnell die moderne Inquisition und den Vorwurf der Ketzerei einbringen kann. (Virologen-Popstar Drosten wirft derweil abweichenden Ärzten vor, sie würden »irgendeinen Quatsch in die Welt setzen«; welt.de, 12.5.2020.)
Warum glauben die Menschen aber Dogmen, warum sehnen sie sich geradezu danach – und lassen sich so schnell dazu verführen, die Hinterfrager von Dogmen buchstäblich zu verteufeln?
Wissen ist immer vorläufig, immer lückenhaft und fehlbar; sich aufs Wissen zu verlassen, das fühlt sich an wie auf einer Treppe ohne Geländer zu laufen.
Dogmen fühlen sich wie »Geländer fürs Weltbild« an; sich an Dogmen zu halten, das fühlt sich »sicher« an. Dogmatiker fürchten den Nicht-Dogmatiker, weil das Hinterfragen von Dogmen sich wie das Wegziehen von Geländern anfühlt.
Für einen kleinen Kreis
In der Krise werden Stärken und genauso auch Schwächen von Menschen und Gesellschaften deutlich. Das deutsche Gesundheitssystem mit seinen top ausgebildeten Ärzten und Krankenhäusern wirkt bislang insgesamt stark, und das ist eine gute Nachricht. Doch, wir erkennen zugleich erschrocken, wie schwach, vor allem dank Staatsfunk, das »demokratische Immunsystem« der Deutschen ist – und wie elend dogmatisch die Debatte verläuft.
Die öffentliche Debatte pendelt heute zwischen extremen Dogmen, die zum Teil selbst der einfachsten Prüfung nicht standhalten, doch von denen abzuweichen einen die Existenz kosten kann.
Dumme Unvorsicht oder panische Selbstzerstörung – beides ist dogmatisch, beides ist irrational, und das »Geländer«, das sie anbieten, ist eine trügerische Illusion.
Es gilt: Nichts ist nur deshalb wahr, weil eine Person mit Autorität es gesagt hat – gerade bei dieser Regierung und diesem Staatsfunk. Doch, nicht weniger: Nichts ist nur deshalb wahr, weil es sich so schön wie ein »Geländer in der Seele« anfühlt, es zu glauben.
Wer heute seinem Verstand und Gewissem folgt, der wird mal als »Leugner« beschimpft werden (wenn er nicht politisch korrekte Angst spürt), und mal als »Angstbürger« (wenn er eine politisch nicht korrekte Angst spürt).
Dogmen fühlen sich wie Geländer für unsere Seelen an, doch die Dogmen können Lügen sein, Illusionen, die uns mehr gefährden als sie uns schützen. Wer heute selbst denkt, wer unter »Wahrheit« das versteht, was wirklich passiert, wer die Moral in seinem Verstand und seinem Herzen sucht, nicht im Fernsehgerät, der gilt schnell als Ketzer – oder als Ketzerin, klar, so viel Gendern darf auch mal sein!
Wir sind nicht die Mehrheit, nicht heute. Die Mehrheit sehnt sich heute nach Dogmen, nach Geländern für ihre Seele. Wir sind eine Minderheit, doch das allein hat noch nie eine Position falsch werden lassen.
Wenn wir über Treppen gehen, ist es eine gute Idee, eine Hand in der Nähe des Geländers zu halten. Wenn es aber darum geht, Wahrheit zu finden und unsere nächsten Schritte zu entscheiden, dann wünsche ich uns den Mut, die Hand von den Geländern zu lassen, und selbst zu denken, wie gruselig es sich von Zeit zu Zeit auch anfühlen mag.
Es ist vielleicht eine Frage der Veranlagung – und es ist eine tägliche Entscheidung. Für uns soll mehr denn je gelten: Prüfe alles, glaube wenig, denke selbst!
Dieser Beitrag erschien zuerst auf dushanwegner.com
Dushan Wegner (geb. 1974 in Tschechien, Mag. Philosophie 2008 in Köln) pendelt als Publizist zwischen Berlin, Bayern und den Kanaren. In seinem Buch „Relevante Strukturen“ erklärt Wegner, wie er ethische Vorhersagen trifft und warum Glück immer Ordnung braucht.