Man hätte es eigentlich ahnen können. Es ist noch keine Woche her, da verpasste das Bundesverfassungsgericht der EZB und dem EuGH eine ordentliche Kopfwäsche. In Brüssel und Luxemburg war man offenbar derart geschockt, dass erste Reaktionen überraschend lange auf sich warten ließen. Scheinbar waren die Eurokraten buchstäblich wie von einem Blitz aus heiterem Himmel getroffen. Doch wie es auch in der Natur ist, folgt auf den Blitz stets der Donner. Für aufmerksame Beobachter waren die Gewitterwolken schon lange wahrnehmbar.
So kritisierte in der vergangenen Woche bereits die für das blumig titulierte Ressort „Werte und Transparenz“ zuständige EU-Kommissarin Vera Jourova das Urteil scharf. Auf stumme Fassungslosigkeit folgte schnell der Trotz. Über das Wochenende wurden dann auch Äußerungen von Jourovas Chefin, der deutschen EU-Kommissionspräsidentin und ehemaligen Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen bekannt. In einem Brief an den EU-Abgeordneten der Grünen Sven Giegold ließ sie den geneigten Leser wissen, dass sich die Kommission vorbehalte, die Bundesrepublik Deutschland wegen des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vor dem EuGH zu verklagen.
Erschreckt hat mich dann aber doch, dass sich auch Kollegen aus meiner eigenen Bundestagsfraktion derart gegen die Rechtsauffassung unseres höchsten deutschen Gerichts stellen, dass die Frankfurter Allgemeine Zeitung sogar titelt „Zustimmung aus CDU und SPD für von der Leyen: Vertragsverletzungsverfahren gegen Berlin sollte niemanden überraschen“. Dies impliziert ja nun gerade, dass die deutsche Politik auf ein anderes Urteil hätte hinarbeiten, zumindest aber hoffen sollen. Nun möchte ich mich keinesfalls in staatstheoretischen Betrachtungen verlieren. Jedoch stand in unserem Land doch bisher stets außer Frage, dass – wie in allen Rechtstaaten – die Rechtsprechung unabhängig zu sein hat und dass dies in besonderem Maße für die Verfassungsgerichtsbarkeit gelten muss, die darüber wacht, dass die Macht unter dem Recht ist.
Der Zorn der Eurokraten und Europafans wurde dadurch erregt, dass das Bundesverfassungsgericht es gewagt hat, eine Entscheidung des EuGH zum „Public Sector Purchase Program“ (PSPP) der EZB aus dem Winter 2018 als „schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar“ zu qualifizieren. Um überhaupt von der Entscheidung des EuGH abweichen zu können, musste das Bundesverfassungsgericht feststellen, dass im Urteil des EuGH ein „ausbrechender Rechtsakt“ („ultra vires“) zu sehen sei. Dies ist dann der Fall, wenn eine EU-Institution den ihr von den Mitgliedstaaten zugewiesenen Kompetenzrahmen überschreitet. In diesem Fall muss das Bundesverfassungsgericht nach seiner geltenden Rechtsprechung einschreiten, um die Grundrechte der Deutschen zu schützen. Ein solcher ausbrechender Rechtsakt, so betonte Verfassungsgerichtspräsident Voßkuhle, könne in Deutschland keine Wirkung entfalten.
Wer, wenn nicht unser höchstes Gericht sollte die Bürger in Deutschland auch sonst letztinstanzlich vor Kompetenzüberschreitungen der europäischen Institutionen schützen? Der EuGH etwa? Eben jener Gerichtshof, der seit jeher sehr wohlwollend mit Institutionen der Europäischen Union umgeht, sich traditionell als Anwalt der „Superintegrationisten“ in der EU versteht und darüber hinaus auch selbst eine Institution der EU ist?
Nein, gewiss nicht. Diesem selbstherrlichen und machtvergessenen Anspruch des EuGH, welcher weit über Anleihenkäufe der EZB hinausgeht, stellten sich unsere Karlsruher Richter nun entgegen. Sie können damit die Akteure der europäischen Institutionen, die EZB oder den EuGH nicht binden, wohl aber Bundestag, Bundesregierung und Bundesbank.
Dass es früher oder später zum Konflikt zwischen dem Deutschen Bundesverfassungsgericht und dem EuGH kommen musste, ist in der Rechtswissenschaft schon lange ein offenes Geheimnis.
Nicht erst seit gestern muss sich das höchste EU-Gericht in Luxemburg die Kritik gefallen lassen, dass es in seiner Entscheidungspraxis das europäische Unionsrecht unzulässig auf nationale Rechtsfelder ausdehne und damit seine Kompetenzen überschreite. In manchen juristischen Kreisen wird gar davon gesprochen, dass der EuGH politisch als „Agent der Zentralisierung“ urteile.
Der ehemalige Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts Ferdinand Kirchhof, mithin einer der angesehensten Juristen im Lande, wirft dem EuGH vor, „einseitige Entscheidungen ohne Rücksicht auf gewachsene nationale Rechtsinstitute“ zu treffen und so in Bereiche einzugreifen, welche die Mitgliedstaaten bewusst von europäischen Regeln freigehalten hätten.
Die Kritik an der Entscheidung der obersten deutschen Richter halte ich daher nicht nur für unangebracht, sondern auch für vollkommen unbegründet.
Letzte Woche hat sich unser Verfassungsgericht schützend vor die deutschen Bürger gestellt und mit der EZB und dem EuGH gleich zwei irrlichternde EU-Institutionen in die Schranken des gültigen Rechts gewiesen. Jetzt ist es an uns in der Politik, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts dankbar anzunehmen und umzusetzen, anstatt unsere Verfassungsrichter als Europafeinde zu verunglimpfen! Der deutsche Rechtsstaat lebt und er schützt seine Bürger! Darüber sollten wir alle froh sein!