Man nehme irgendeinen, gleich welchen Restaurantführer zur Hand. Ein Blick auf die Karte genügt. Sterne, Hauben, Punkte sind nicht gleichmäßig verteilt. Mit Ausnahme Berlins ist der Nordosten noch immer ein leeres Viertel. Das kulinarische Südwest-Nordost-Gefälle zwischen den römisch zivilisierten Gebieten und dem Rest Germaniens aber betrifft die Küche des ganzen Landes und ist so wenig zu übersehen wie die kulturelle Differenz zwischen preußisch-protestantischem Norden und katholischem Süden. Grob gesprochen ist der Katholik sinnenfroher und sündiger, also auch genussfähiger.
Auch wenn Regionalküche überall wieder in Blüte steht, verliert sie doch zugleich auch an Eigenart. Sie schleift sich ab, so wie sich auch Dialekte abschleifen. Die Wiederentdeckung des Regionalen ist auch eine Mischung aus Marketing und Reaktion auf die Globalisierung. Aber eben nicht nur: Es gibt tiefere Gründe dafür, dass es etwa in Oberfranken mehr Metzger, Bäcker und Brauereien pro Einwohner gibt als irgendwo sonst auf der Welt. Es gibt kein Nationalgericht, mit dem sich alle
Deutschen gleichermaßen identifizieren könnten. Favoriten der Regionalküchen werden allenfalls zu Nationalgerichten stilisiert: der bayerische Schweinsbraten, der pfälzische Saumagen, der rheinische Sauerbraten, die schwäbische Maultasche, die Berliner Currywurst.
Schnitzel mit Pommes stehen auf Platz 1 des größten deutschen Caterers, der Compass-Group, die 70 Millionen Essen pro Jahr ausgibt. Für den offiziellen Ernährungsreport des einschlägigen Bundesministeriums ergab eine repräsentative Umfrage, dass mehr als die Hälfte der Befragten schlicht „Fleisch“ als Lieblingsessen angaben (53 Prozent), gefolgt von den Nudelliebhabern (38 Prozent) und den Kraut-und-Rüben-Jüngern (20 Prozent).
Döner und Pizza gehören inzwischen unbestreitbar ebenso zu Deutschland wie Abendbrot und Bratwurst. Warum nicht? Deutschland hat sich auf dem Teller mindestens so sehr verändert wie die CDU unter Angela Merkel. Nur ihr Pluralismus ist größer. Niemand erhebt einen Anspruch auf kulinarische Hegemonie. Der deutsche Esser vereinnahmt das Fremde, verändert es aber zugleich, benutzt es für die eigene Küche nach eigenem Gusto.
Vom Essen lässt sich auch nicht auf die Gesinnung schließen. Als die Frontfrau der AfD, Beatrice von Storch, in Brüssel beim Döneressen fotografiert worden war, sagte sie: „Ich hab nichts gegen Döner, sondern gegen Scharia.“
Maßstab der Zurückgebliebenen
Esskultur ist immer auch Bändigung und Adaption des Fremden. In der Küche lernen wir vom Anderen und verwandeln es zu Eigenem. Es gibt keine Küche, und hielte sie sich für noch so traditionell und bodenständig, die nicht ständig „fremde“ Zutaten integriert. In Deutschland war dies von der Kartoffel bis zum Kaffee, vom Blumenkohl bis zum Spargel der Fall. Die Mehrzahl der Lebensmittel ist eingewandert.
Es zeigt sich, dass die Deutschen bei Tisch wandlungsfähiger sind als bei ihrer politischen Einstellung. Vielleicht ist das auch so, weil sich ihre Nation kulturell weniger durch Einheit auszeichnet als durch Vielfalt. Die Sehnsucht nach dem Fremden, nach dem „Land, wo die Zitronen blüh’n“, wird in der Küche ausgelebt. Womöglich ist es gerade „typisch deutsch“, das Fremde am liebsten auf dem Teller zu suchen.
Die Olympischen Spiele in München 1972 waren das Ereignis, mit dem sich ein junges, weltoffenes und selbstkritisches Land präsentierte. Kein Zufall, dass kurz vor den Spielen in München zweierlei geschah: Die erste deutsche McDonald’s-Filiale machte auf, und der Münchner Bauunternehmer Fritz Eichbauer betraute den in Frankreich ausgebildeten Österreicher Eckart Witzigmann mit der Leitung seines neuen Restaurants „Tantris“. Es war der Brückenkopf der aus Frankreich anstürmenden Nouvelle Cuisine für die ganze Bundesrepublik. Nur in der DDR blieb sozialistisch-deutsche Biederkeit Maßstab der Zurückgebliebenen.
Braten und Knödel, Rollmops und Eisbein
standen plötzlich für das spießige Nachkriegsdeutschland
Schon Norbert Elias hat in seinen soziogenetischen Untersuchungen „Über den Prozeß der Zivilisation“ gezeigt, dass trotz aller Unterschiede die Esskultur Europa eher verbindet als trennt. Viel mehr als nach Ländern unterscheiden sich Essgebräuche zwischen den Bildungs- und Einkommensschichten.
Gibt es dennoch Nationalismus auf dem Teller? Im Schaufenster eines Berliner Szenerestaurants hing ein T-Shirt mit der Parole „Who the fuck is Paul Bocuse“. Was die französische Institution Michelin nicht daran hinderte, der Kreuzberger Einkehr „Nobelhart und Schmutzig“ einen Stern zu verleihen. Noch bevor er den Laden betritt, wird der Gast mit einer Reihe von Verboten konfrontiert. Verboten sind nicht nur Handys und Kameras, sondern auch ausländisches Gemüse, Kräuter und Gewürze wie Basilikum und Pfeffer, aber auch die Mitgliedschaft in der AfD.
Das Feine und das Antibürgerliche trifft hier aufeinander und gönnt seinen Gästen keine Auswahl. Gegessen wird, was im Laufe von zehn Gängen auf den Tisch kommt. Intimität ist nicht erwünscht, das Publikum sitzt am langen Tresen aus deutscher Eiche. Typisch deutsch auch: Alles wird oberlehrerhaft erklärt. Dafür werden Tischmanieren suspendiert. Der Gast soll das Essen anfassen. Man i(s)st kernig deutsch, jedoch mit links-alternativem Anstrich. Es ist der linke Nationalismus des neuen Mainstream-Deutschland.
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