Tichys Einblick
Future happens, markets happen

Nicht der Zukunft zugewandt

Geht das in Europa diesseits und jenseits des Atlantiks (etwas anderes sind USA und Kanada nicht) so weiter, heißt es übermorgen: Retroland ist abgebrannt. Auch wenn alle zurück wollen, mit der Zukunft ist es wie mit dem Markt: Beide finden einfach statt. Ob wir wollen oder nicht. Und mit Sicherheit sieht die Zukunft anders aus, als wir möchten, wenn wir sie nicht gestalten.

Nicht visionsverdächtig

Warum Links und Rechts nichts mehr bedeuten, haben viele mit dem Verlust der Unterschiede zwischen den Parteien beschrieben, die sich historisch von entgegengesetzten Ideologien herleiten. Diese Angleichung wird auch gern in die Dahrendorf’sche Formel gekleidet: Irgendwie sind wir alle Sozialdemokraten geworden.

Einerseits ist es inzwischen nutzlos, von Links und Rechts zu reden, weil es gar keine Linken mehr gibt – jedenfalls in der ursprünglichen Bedeutung von Links: fortschrittlich, utopisch bis revolutionär. Andererseits sind die Bewahrer des Status Quo in Deutschland und Europa in ihrem Handeln auch dann Sozialdemokraten, wenn sie nicht so heißen. Da ihre Wortführer die Gewohnheit nicht abgelegt haben, sich selbst weiter als Linke zu verstehen, haben wir nur noch zwei politische Lager: Die Machtverwalter und die mit ihnen Unzufriedenen. Die ersteren haben bis Links alles eingeebnet und plattgewalzt zur breiten, alles umfassenden Mitte. Letztere sind dann in der alten, inhaltsentleerten Gesäßgeographie Rechts. Noch einfacher traktiert es die Mehrheit der Medien durch die simple Einteilung in Anständige und Unanständige, die Mitte und Rechts(populistisch) genannt werden.

Politische Monokultur

Die politische Landschaft sieht aus wie die tatsächliche. Aus der Luft ist in dieser Jahreszeit gut zu sehen, wie die – politisch wg. Biosprit gewollten – gelben Rapsflächen immer größer werden. Nimmt man die Windräder-Areale hinzu, ist es kein Wunder, dass es Nachtigallen und Spatzen bald nur noch in den grünen Rückzugsgebieten großer Städte gibt. Auf dem Land finden sie in Monokulturen keinen Lebensraum mehr. Die Erben der Linken sind zu kompromisslosen Verteidigern des Staus Quo geworden und zu Betreibern seiner Reparaturbetriebe. So geht es den politischen Nachtigallen, Spatzen und anderem Gefieder, denen, die nicht im Gleichton der politischen Monokultur singen wollen, so wie denen in dem, was von der Natur übrigblieb. Sie siedeln nur noch in politischen Biotopen, welche die alles gleichmachende Hand der Staatsverwalter übersehen hat.

In vordemokratischer Zeit galt lange das Prinzip: cuius regio, eius religio. Mit der Weimarer Reichsverfassung wurde jede Staatskirche verboten. Auch wenn die katholische und evangelische Kirche viele Privilegien besitzt, kann man sie nicht als Staatskirche einordnen. Bei Überqueren von deutschen Bundesländergrenzen kann man selbst an Feiertagen nicht erkennen, ob man in einem katholischen oder evangelischen Land ist. Wenn aber die Zahl der Geschwindigkeits-Beschränkungen überdeutlich zunimmt, betritt man Baden-Württemberg. Achtet man auf die Organisation der Mülltrennung, kann man in der Schweiz Kantone unterscheiden, Spezialisten auch Gemeinden. Verteidigt der Eidgenosse seinen persönlichen Parkplatz gegen jeden Eindringling, sichert der Deutsche seine Mülltonne wehrhaft gegen Schwarzentsorger.

Die deutsche Zivilreligion besteht aus einem diffusen Mix von Trivialformen antiautoritärer Vorstellungen im Umgang mit Kindern, Kollegen und Kriminellen. Konflikten aus dem Weg zu gehen, hat sich tief in den Zeitgeist eingegraben, ein Missverständnis von Toleranz hat sich breitgemacht, das echte Linke früher scheissliberal nannten. Inzwischen sitzen die Nominal-68er von damals und ihre Epigonen in allen staatlichen und halbstaatlichen Institutionen, Organisationen, Parteien, Verbänden, NGOs und Medien – täglich auf der Flucht vor der Realität, stets ängstlich bedacht, sich nur mit niemandem anzulegen, Dienst nach Vorschrift ist die bevorzugte Lebenshaltung vor dem täglichen Schritt ins wirkliche Leben, die Freizeit-Gestaltung. In vielen Büros wird der gleitende Übergang virtuos beherrscht. Man merkt das am bekannten Syndrom: Kunde droht mit Auftrag, Untertan mit Ansinnen. Hauptsache Event, Anlass egal. Warum die Fanmeile vor dem Brandenburger Tor in Berlin und ihren kleineren Ablegern anderswo im Lande bevölkert wird, spielt keine Rolle. In der Masse sind wir stark. Und vor allem nicht allein: obwohl alle permanent an ihrem Smartphone fummeln? Ja schon, aber gemeinsam.

Alles Retro

Ob wir in die Politik schauen oder in die Kultur, in Architektur, Kunst und Musik: überall das gleiche Bild. Keine Innovation, alles Retro – ohne Stil und Geschmack. Höhepunkte: Deutschland sucht den Superstar und der European Song Contest. Endlosschleifen der Inszenierung des längst Dagewesenen, ohne je in die Nähe des Originals zu kommen. Gewollt, aber nicht gekonnt. Schrill statt wohltönend. Grell statt schön. Musikantenstadl, Operngala. Und jedes Jahr pilgern die Mächtigen plus Hofstaat nach Bayreuth, ohne zu merken, wie sich die Bilder vom Kaiserreich über das „Dritte Reich“ bis in die mehr Deutschland als Bundesrepublik genannte Gegenwart gleichen: Um Wagners Musik, wie auch immer jeder von uns zu ihr steht, ging und geht es dem Aufzug der Mandarine dort nie. Niemand weiß, was auf dem Hügel „gegeben“ wurde, aber jeder hat den Aufmarsch der Promis abgenommen.

Spitzenreiter im politischen Retro-Rennen sind die IS-Leute, sie wollen ins 7. Jahrhundert zurück. Die Sozialdemokraten und die CSU sehnen sich nach den späten 1970er Jahren. Donald Trump verspricht die Wiederkehr der US-Dominanz vor dem Mauerfall und die Heimholung der verlorenen Industrie-Jobs aus China oder gleich einen erneuten New Deal. Marine Le Pen proklamiert die Wiederauferstehung der Grande Nation. Für den Rest Europas kann das jeder wie im Kreuzworträtsel selbst ausfüllen. Recep Tayyip Erdoğan möchte die Türkei zu alter osmanischer Größe zurückführen – jedenfalls vor Mustafa Kemal Atatürk. Ob die AfD nach 1955 will oder nur nach 1985, weiß ich nicht, wahrscheinlich teils teils. Welche Ziele die FDP über die Rückkehr in den Bundestag hinaus hat, kann ich nicht erkennen. Dabei wäre doch eine liberale Vision in dieser visionslosen Zeit wirklich visionär. Die CDU hat keine Ahnung, wohin sie will. Aber vielleicht entscheiden das für sie die Grünen, auch wenn diese sich um ein klares Votum über das Ziel ihres einzigen Hoffnungsträgers Winfried Kretschmann noch drücken: die Grünen die Mitte besetzen zu lassen. In Nischen außerhalb des Parteienbetriebes soll es noch ein paar geben, die an Zukunftsbildern arbeiten, die offene Gesellschaft radikal dezentral und autonom „unten“ neu zu bauen – in den lokalen Welten des globalen Dorfs.

Future happens

Derweil steht die Welt natürlich nicht wirklich still, auch wenn das der starke Arm der Staatsverwalter in Parlamenten, Regierungen und vernetzten Einrichtungen will. Wo die Macht wirklich sitzt, kann man seit jeher daran erkennen, wer am teuersten baut. Waren das früher lange Kirchen, Burgen und Schlösser, wurden es dann die Tintenburgen der Bürokratien, Schlote und andere Industriebauten, die Bankentürme und Glaspaläste von Konzernen. (Minarette sind Rufzeichen im aussichtslosen, aber heftigen Endkampf von Religionen um politische Macht.)

Ab und zu dringt in unser Bewusstsein, dass die tatsächlichen Entscheidungen ohne unsere Mitwirkung, meist ohne, dass es die Entscheidungsträger selbst merken, in der Wirtschaft getroffen werden. Wenn die Weltmarktführer unter den Hidden Champions in kleinen und mittleren Unternehmen – sie sitzen fast ausschließlich in deutschsprachigen Ländern – ihre Innovationen lautlos verwirklichen, stellen sie globale Weichen mehr als Konzerne in ihrer kurzatmigen Börsenhektik. NGOs, die den Konzernen strategische Änderungen abhandeln, richten mehr aus als Straßenkrawalle (obwohl sie als Druckpotential natürlich manche Gesprächsbereitschaft erhöhen). Kurz, was ich sagen will: In der Politik und im öffentlichen Raum der veröffentlichten Meinung ist viel von Transparenz die Rede. Doch die wirklichen Entscheidungen werden nach dem alten Wort von Walter Scheel, das ebenso vergessen ist wie er selbst, ausnahmslos in Gremien getroffen, die es nicht gibt.

Auch wenn alle zurück wollen, mit der Zukunft ist es wie mit dem Markt: Market happens. Markets happen. Future happens. Ob wir wollen oder nicht. Und mit Sicherheit sieht die Zukunft anders aus, als wir wollen, wenn wir sie nicht gestalten.

Autoritär ist gefragt

Nicht nur Erdogan will ein präsidiales System. Erstaunlich viele Österreicher dachten wirklich, ein Bundespräsident wie Hofer würde Regierungen zum Jagen tragen können. Merkel agiert wie ein Präsidialsystem: Konforme Massenmedien entpolitisieren nicht nur, sie entdemokratisieren auch. In Venezuela ist das Quorum für eine Volksabstimmung mehrfach überschritten, aber sie findet nicht statt. In Washington ändert sich selbstverständlich nichts, sollte The Donald Präsident werden. Silicon Valley und Wall Street ist das egal. Der KPC sowieso, denn Chinas Funktionäre veranstalten ihre Art von gelenktem Markt mit interessanten freien Nischen ziemlich unbeirrrt weiter. Sie kooperieren – selbstverständlich unterm Strich zu ihren Gunsten – mit Ländern in Afrika, Asien und Osteuropa, während USA und EU überall Boden verlieren. Dass die in Europa arbeitenden Afrikaner jährlich mehr Geld nachhause schicken, als die Entwicklungshilfe dort investiert, ist ein Datum für sich selbst.

Keine Debatte über die große Zuwanderung aus islamischen und arabischen Ländern versäumt die Beteuerung, man müsse den Nahen Osten befrieden, weil die Migrationsursachen nur an der Wurzel beseitigt werden können. Richtig. Doch spätestens bei der Bekämpfung des IS stößt der Westen, wie ihn die Europäer verstehen, an seine Grenzen. Gewaltsysteme können nur mit Gewalt besiegt werden, nicht mit Rechtsstaatlichkeit. Deshalb könnten Europas Armeen (bis auf ein paar Spezialeinheiten?) auch in gar keine Kampfeinsätze geschickt werden. An dieser Stelle ist die veröffentlichte Politik besonders verlogen. Weil die EU ihre Außengrenzen nicht im Griff hat, überlässt sie es der Türkei, Europa vor Zuwanderung zu schützen. Selbstverständlich wissen alle, dass es dabei nicht rechtsstaatlich zugehen kann. Weil der IS rechtsstaatlich nicht zu besiegen ist, spekulieren die Europäer darauf, dass die USA und Russland das für sie erledigen. Pilatus lässt grüßen.

Bevor Kultur, Politik, Medien und der freie Rest der Bürgergesellschaft den öffentlichen Disput nicht ehrlich machen, kann sich am trostlosen Retro unserer Tage nichts ändern. Solange alle nur irgendwohin zurück wollen und nicht in die Zukunft denken, geht der Abstieg des Westens weiter. Wo sind die Kräfte nicht nur mit dem Mut zu neuen Wegen für die Zukunft, sondern mit Lust und Freude, sie zu gestalten?

Die mobile Version verlassen