Die SPD-Spitzen Rolf Mützenich (Vorsitzender der SPD-Fraktion im Bundestag) und Saskia Esken (SPD-Co-Vorsitzende) sind militant-pazifistische Nostalgiker, die offenbar noch in den Jahren 1979/1980/1981 leben und gerne lieber heute als morgen mit naiv-pazifistischen Sprüchen wie damals durch den Bonner Hofgarten marschieren möchten.
Während man Mützenich immerhin zugestehen kann, dass er sich intensiver mit der Sache befasst hat, glänzt seine Parteivorsitzende Saskia Esken mit verbohrter Ignoranz. Soeben twitterte sie: „Wer glaubt, Glasnost und Perestroika seien durch die nukleare Abschreckung des Westens möglich geworden, hat einiges nicht verstanden.“ Und: „Vor über 40 Jahren habe ich mit vielen Anderen gegen den #NATODoppelbeschluss protestiert.“
Esken bleibt auf dem Stand der damals achtzehnjährigen Saskia stehen
Aber klar doch, Frau Esken hat alles verstanden, soweit es sich nach wie vor auf der Verstandesebene der damals achtzehnjährigen Saskia bewegt. Denn: Natürlich hat die sowjetische Führung Glasnost und Perestroika aus reiner Friedensliebe inszeniert, oder? Mit dem NATO-Doppelbeschluss hat das rein gar nichts zu tun, oder? Und auch nicht damit, dass US-Präsident Ronald Reagan die Sowjetunion mit Rüstung in die Knie zwang und damit Gorbatschows Politik erst möglich machte, oder? Und dass sowjetische Truppen noch am 13. Januar 1991 in Vilnius, Litauen, die Zentrale des litauischen Fernsehsenders stürmten und dabei 14 Menschen ums Leben kamen, hat auch mit Glasnost und Perestroika zu tun – ebenso wie eine Woche später der Sturm der sowjetische Spezialeinheit Omon im lettischen Riga auf das Innenministerium, wobei fünf Menschen starben.
Nachhilfe I für Esken: NATO-Doppelbeschluss
Am 12. Dezember 1979 verabschiedeten die NATO-Außen- und Verteidigungsminister den NATO-Doppelbeschluss. „Doppelbeschluss“ aus folgenden Gründen: Erstens, weil er Verhandlungen mit der Sowjetunion über den Abbau der seit Mitte der 1970er-Jahre auf Westeuropa gerichteten SS-20-Raketen zum Gegenstand hatte. Und zweitens, weil er für den Fall eines Scheiterns der Gespräche vorsah, dass die USA ab Ende 1983 ebenfalls nukleare Mittelstreckenraketen (Pershing II) in Europa stationieren würden – definiert als „Nachrüstung“. Von pazifistischen Kreisen in der Bundesrepublik wurde dieser „Doppelbeschluss“ verkürzt und manipulativ als „Raketen-Doppelbeschluss“ diskreditiert. Es gelang der Friedensbewegung sogar, Hunderttausende zu Demonstrationen gegen einen „Rüstungswettlauf“ zu mobilisieren. Zu Demonstrationen wie auf der Bonner Hofgartenwiese am 10. Oktober 1981 bzw. am 22. Oktober 1983 kamen 300.000 bzw. 500.000.
Die Debatte um den NATO-Doppelbeschluss wurde schließlich im Herbst 1981 für die SPD zu einer Zerreißprobe: Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) konnte sich mit seinem Eintreten für den Beschluss der Unterstützung seiner Partei nicht sicher sein. Der Bundestag, der seit dem Regierungswechsel im Oktober 1982 von einer Koalition aus CDU/CSU und FDP dominiert wurde, stimmte am 22. November 1983 der Stationierung neuer US-Mittelstreckenraketen in der Bundesrepublik zu. Darunter waren einige SPD-Abgeordnete. Beim SPD-Parteitag vom 19. November 1983 – rund ein Jahr nach dem Ende von Helmut Schmidts Kanzlerschaft am 1. Oktober 1982 – wurde Helmut Schmidt noch einmal abgestraft: Von 400 Delegierten stimmten nur 13 mit ihm.
Einen Tag nach dem Beschluss des Bundestages vom 22. November 1983 brach die Sowjetunion die Verhandlungen ab. Erst 1987 gelang eine Lösung: US-Präsident Ronald Reagan und der sowjetische Präsident Michail Gorbatschow vereinbarten den Abbau aller nuklearen Mittelstreckenraketen in Europa. Die USA unter Reagan hatten die Sowjetunion militärisch wie wirtschaftlich in die Enge getrieben und zu deren Niedergang beigetragen.
Nachhilfe II für Esken: INF-Vertrag
Eines der zentralen Abrüstungsabkommen war der zwischen Reagan und Gorbatschow ausgehandelte und am 8. Dezember 1987 in Washington unterzeichnete INF-Abrüstungsvertrag (INF = Intermediate Range Nuclear Forces, nukleare Mittelstreckensysteme). Mit ihm war beiden Seiten der Besitz landgestützter, atomarer Marschflugkörper und Raketen mit einer Reichweite von 500 bis 5.500 Kilometern untersagt. Es war dies ein wichtiger Schritt zur Beendigung des Kalten Krieges. Allerdings unterwanderte Russland den Vertrag im Grunde genommen ab Mitte der 2000er-Jahre mit der Entwicklung des Marschflugkörpers SSC-8. Die Begründung des damaligen russischen Verteidigungsministers Sergei Iwanow war, Russland müsse Chinas, Irans und Pakistans Mittelstreckenraketen etwas entgegenzusetzen haben. Als die US-Dienste herausfanden, dass Russland an neuen Marschflugkörpern mit einer Reichweite von etwa 2.500 Kilometern arbeitete, und zudem die Raketenrüstung des Iran bedrohliche Formen annahm, planten die USA, ein Raketenabwehrsystem in Tschechien, Polen und später Rumänien zu stationieren, was 2005/2006 wiederum Auslöser für heftige russische Kritik am INF-Vertrag war.
Als im Februar 2017 schließlich klar wurde, dass Russland Marschflugkörper des Typs SSC-8 (in Russland 9M729 genannt) im eigenen Land stationiert hatte und damit gegen das INF-Abkommen verstieß, konterte Washington mit der Entwicklung neuer Raketen. Am 20. Oktober 2018 erklärte US-Präsident Trump, die USA würden sich aus dem INF-Vertrag zurückziehen. Am 4. Dezember 2018 setzen die USA Russland eine Frist von 60 Tagen, um die neuen Marschflugkörper zu zerstören. Andernfalls hätten die USA kein Interesse mehr, am INF-Vertrag festzuhalten.
Rücken SPD und Links-Partei zueinander?
Und Deutschland? Wenn es in Sachen „Atomwaffen“ mitreden möchte und nicht nur Zaungast sein will, dann muss es die Stationierung von Atomwaffen auf deutschem Boden nicht nur akzeptieren, sondern auch wollen.
SPD-Spitze und Links-Partei wollen das nicht. Insofern rücken beide Parteien hier sehr nahe aneinander. Bereiten Mützenich und Esken auf diesem Weg etwa eine Fusion von SPD und Links-Partei vor?
Vorderhand freilich spielt die Debatte in eine brisante Personalie hinein. Mützenich und Esken wollen den bisherigen, in der Frage von „Atomwaffen“ konservativ denkenden Wehrbeauftragten Bartels aus dem Amt schassen und durch eine in Sachen Bundeswehr völlig unbeleckte Eva Högl ersetzen.