Krisenzeiten sind Zeiten, aus denen Persönlichkeiten erwachsen können. Das war zu allen Zeiten so – und es ist in der „Corona-Krise“ nicht anders. Plötzlich und unerwartet steht das sonst mit dem Kleinklein des Alltags beschäftigte Volk vor grundsätzlichen Fragen. Plötzlich schaut es nicht mehr auf jene Dampfplauderer, die ihm sonst den klaren Blick auf das Notwendige vernebeln, sondern sucht nach Persönlichkeiten, die ihnen als Garantie gelten, sie möglichst sicher durch die Krise geleiten zu können. Das Volk – diese Erkenntnis ist nicht neu, liegt in der menschlichen Biologie begründet und hat nichts mit „rechts“ oder „Nazi“ zu tun – sehnt sich nach Führung.
Das ewige Dilemma der SPD
Der SPD-nahe Denktank „stiftung neue verantwortung“ beschrieb in seinem „Policy Brief 06/10“ die mit Führung in der Demokratie verknüpften Probleme, aber auch deren Möglichkeiten. Carsten Brosda, damals Spin-Doctor des späteren Bundesministers der Finanzen, Olaf Scholz, bediente sich der Stiftung bei der Strukturierung des Osnabrückers in seinem Kampf um den Job des Ersten Bürgermeisters der Freien und Hansestadt Hamburg. „Wer bei mir Führung bestellt, bekommt sie“, sagte der mittlerweile amtierende Bürgermeister anlässlich seiner Wiederbewerbungsrede vor dem SPD-Landesparteitag im Juni 2014. Das allerdings richtete sich mehr an seine eigene SPD als an die Stadt, die er auch weiterhin führen wollte. Denn das Desaster der SPD, die 2001 ihre ständige Herrschaft über die Hansestadt maßgeblich deshalb an die CDU verloren hatte, weil sich ihre Flügel zwischen sozialdemokratischem Pragmatismus und sozialistischen Utopismus mehr um ihren internen, ideologischen Kampf gekümmert hatten, als um die Bedürfnisse ihrer Wähler, war nicht vergessen.
Dann allerdings kam Corona. Und plötzlich stand der uncharismatische Scholz zumindest körperlich im Mittelpunkt der Scheinwerfer. Und konnte nun sogar seinen Linkssozialisten deren größten Lebenswunsch erfüllen: Das Ende verantwortungsvoller Finanzpolitik durch Einstieg in die große Geldschleuder nebst undefinierbarer Neuverschuldung, gepaart mit den klassischen Linksreflexen der avisierten Plünderung des vermeintlichen oder tatsächlichen Reichtums jener „bösen“ Eliten, die ihren Reichtum, so das linke Narrativ, ausschließlich durch die Ausbeutung der gequälten Massen generieren konnten.
Eigentlich beste Voraussetzungen, nun als Olaf Scholz doch noch den Anlauf zu starten, als „Kanzlerkandidat“ der an den Rand der Bedeutungslosigkeit gerutschten SPD antreten zu können. Jedoch: Das Problem des Führung versprechenden Scholz ist nicht nur ein in der Versenkung verschwundener Halbvorsitzender Norbert Walter-Borjans nebst einer weiterhin öffentlich ihren sozialistischen Wachträumen frönenden Halbvorsitzenden Saskia Esken – das eigentliche Scholz-Problem ist Scholz selbst. Mögen seine Sätze noch so ausgewogen und vielleicht sogar vernünftig klingen – der Mann war und ist außerstande, Menschen zu fesseln.
Tatsächlich allerdings fehlt der SPD – Folge der seit Jahrzehnten zielgerichteten, innerparteilich organisierten Vernichtung potentieller Persönlichkeiten – in der Krise ein Gesicht, das als „Macher“ Führung repräsentiert. Und so dümpelt die SPD den Herdenreflexen des Bürgers, sich in der Corona-Krise hinter den Leitböcken zu scharen, zum Trotz in den Umfragen nach einem minimalen Zwischenhoch manifest bei 15 Prozent. Anders formuliert: Sammeln Scholz, Heil und Giffey ein wenig Zustimmung, kommt bestimmt eine Eskens daher, um mit ihrer Sauermilchmimik den Bürger schnell wieder zur Besinnung zu bringen.
Den Grünen macht die Natur einen Strich durch die Rechnung
Ins Schleudern geraten auch die Perfektionisten der Dampfplauderei. Im Schatten der sich selbst mangels anderer Aufmerksamkeit Corona-diagnostizierten Schweden-Greta in der Vor-Corona-.Ära noch von Höhepunkt zu Höhepunkt schwebend, platzen derzeit die Blasen der wohlstandsdekadenten Echokammern wie jene Kreationen des legendären Pic, der mit seinen Seifenblasenphantasien die präökologische Traumzeit verzauberte. Matrona Baerbock schwallert von „blinden Flecken“ und fordert „Corona-Kindergeld, ihr Servant Habeck verpackt seine sozialistischen Träume in kinderbuch-gerechte Floskel ohne jeden konkreten Inhalt.
Im Ländle gelten halt klassische Regeln des Marktes, auch wenn dieses den Ökomarxisten ein Dorn im Auge ist. Da helfen selbst die Feinstaubwerte nicht, wenn sie trotz deutlichen Rückgangs des Verkehrs einfach nicht sinken wollen. Sinken tun deshalb die Phantastoprozente, die den Grünen Anwartschaft auf das Kanzleramt versprechen sollten: Auf dem Höhepunkt der Greta-Hysterie noch über 25 Prozent, schmieren die Sektierer gegenwärtig wieder ab und finden sich aktuell zwischen 15 und 16 Prozent der Bürgerträume.
Die Leiden der Opposition
Etwas Aufwind verspürt der liberale Machtverweser Kubicki aus dem hohen Norden, der dem Machtverweigerer Lindner den Rang abläuft und sich darauf besinnt, dass die Verteidigung von Freiheitsrechten auch in Zeiten von Corona mehr ist, als sich um nur um die eigene, verschnupfte Nase zu sorgen. Wie ein letztes Zucken jener bürgerlich-liberalen Aufbruchseuphorie, mit der die Liberalen vor langen Zeiten angesetzt hatten, die deutsche Gesellschaft von ihren autokratischen Zwängen zu befreien, gibt der Nordmann den letzten Aufrechten, der noch ein Grundverständnis von jenen Rechten mitbringt, die vor nunmehr über 70 Jahren in das Grundgesetz geschrieben worden waren. Nützen tut es der FDP nichts – zu sehr hat die Kotau-Politik Lindners mit der Aufgabe von Machtanspruch und Selbstbestimmung das Image der Partei beschädigt. Und so dümpelt die FDP, die doch in einer Zeit, in der die Grundrechte nicht einmal mehr auf dem Papier stehen, die Speerspitze verantwortungsvoller Oppositionspolitik hätte übernehmen können, mit abnehmender Tendenz irgendwo bei nur noch sechs Prozentpünktchen herum.
Doch auch die junge Konkurrenz der AfD tut sich schwer, aus der Corona-Krise Nutzen zu ziehen. Vor allem fehlen mittlerweile die Köpfe, die als Macher führen könnten. Gauland wird zunehmend zum Schatten seiner selbst und zu der Pandemie fällt ihm wenig ein außer der ohnehin offenbaren Erkenntnis, dass Grenzen entgegen der regierungsamtlich verbreiteten FakeNews eben doch zu schützen sind – es sei denn, man gibt sich als minderjähriger Eindringling und darf von griechischen Inseln allen Einreiseverboten zum Trotz ins gelobte Land einreisen. Meuthen hat sich mit seiner abgeschmetterten Forderung, den sogenannten „Flügel“ aus der Partei zu verbannen, selbst verbannt – und dabei gleichzeitig das ungeklärte Binnenverhältnis des „gärigen Haufens“ nach Gauland offensichtlich gemacht. Ansonsten reiht sich die AfD ein in die Reihen der krisenbedingten Haushaltskassenöffner. Was bleibt ihr auch, wenn ein Volk in Panik vor einem unsichtbaren Feind nach Schutz und Hilfe sucht.
Die Stunde der Komödianten
So schlägt nun in der Krise die Stunde der Union. Oder sollten wir in Anlehnung an einen Klassiker vielleicht doch besser von der Stunde der Komödianten sprechen? Nein, das wäre zumindest gegenüber dem einen oder anderen etwas ungerecht. Wobei im Klassiker mit Liz Taylor und Richard Burton die Frage der Gerechtigkeit eher ein beiläufiges Problem darstellt. Tatsächlich aber hat es vor allem in der CDU manchen kalt erwischt, während in der CSU Langzeitperspektiven auf den Weg gebracht werden.
Da wir nebst Kanzleramtsbesetzung sämtlich nicht über die berühmte Glaskugel und seherische Fähigkeiten verfügen, sind solche Wortgebilde nichts anderes als weiteres Füllmaterial für die Senkgrube Merkel‘scher Nullsätze, die noch dazu mit gänzlich überflüssigen „auchs“ unnötig und bezugslos aufgeblasen werden. Doch da passt es perfekt, wenn unmittelbar die nächste Sprachblase nachgeschoben wird: „Wenn wir jetzt Lockerungen machen, wissen wir nicht, was die Folgen davon sind.“ Auch dieses Wortgetüm ist so wahr wie unwahr. Denn wir wissen auch nicht, was die Folgen „davon“ sind, wenn wir jetzt keine „Lockerungen“ machen. Weil wir nun einmal so oder so nicht wissen, was in Zukunft infolge des heute beschlossenen Handelns geschehen oder nicht geschehen wird. Diese Grunderkenntnis menschlichen Intellekts bedürfte keiner Salbung, es sei denn, man meint, sich damit selbst salben zu können. Und so drängt sich einmal mehr der Eindruck auf, die Nichtssagende auf dem Kanzlerstuhl richte sich bereits auf Fortsetzung ein. Regieren unter Corona wirkt auf Mama Doc wie eine Frischzellenkur. Frisch umwoben mit den Fangnetzen der perfektionierten Simplitude dirigiert sie ihren CDU-Vorstandskindergarten wie eh und je aus der virtuellen Wirklichkeit des Kanzleramts. Und genießt den Herdentrieb der Masse Volk, der die Union fast schon an historische 40 Prozent der Zustimmung treibt. Merkels inhaltsleere Schlaftablettenrhetorik erweist sich in der Krise als ideales Beruhigungsmittel für des besorgten Bürgers Seele.
Doch die Union kennt auch Verlierer. In der Krise scheidet sich die Spreu vom Weizen, der Komödiant vom Macher. Im Rennen um die Nachfolge der fast schon vergessenen Noch-CDU-Vorsitzenden AKK positionierte sich der noch im Februar als Merkel-Nachfolger gefühlte Armin Laschet zielsicher auf der Resterampe der Komödie. Sein Dilemma begann damit, dass er in der sich bereits abzeichnenden Pandemie es für notwendiger erachtete, den innerparteilichen Diadochenkampf mit einem Coup d’Spahn entscheiden zu wollen, als seinen Covid-19-verbreitenden Karnevalisten den Spaß zu verderben. Als Pat und Patachon wollten die Rheinwestfalen das Feld aufrollen, die bundeslandinterne Konkurrenz um das schönste Amt unter Merkel aus dem Feld schlagen.
Patachon Spahn hingegen scheint die Kurve gekriegt zu haben. Von der Last befreit, auf Krampf mit Kampf CDU-Chef werden zu müssen, gelingt es ihm durch sachlichen, fachlich fundiert wirkenden Auftritt, die Versäumnisse seines Hauses in der Früherkennung der Gefahr vergessen zu machen. Selbst die noch vor einem Jahr gelobte Empfehlung der staatsmonopolistisch kapitalistischen Bertelsmann-Stiftung, das Krankenhausangebot weiter auszudünnen – Schnee von gestern, der nie gesagt worden sein soll. Bleibt er dieser Linie treu, wird Jens Spahn in der CDU als der vermutlich größte Gewinner aus der Krise hervorgehen. Mit einem dank Corona dann fast 100-Prozent-Bekanntheitsgrad wird Merkel an ihrem ungeliebten Zögling künftig nicht mehr vorbeikommen. Da steht nun unübersehbar Einer mit großen Ambitionen und großer Zukunft in der Partei.
Bayern überrollt Preußen
Der eigentliche Gewinner der Union allerdings sitzt im schönen München und dirigiert mit bajuwarisch-entschlossener Gelassenheit das Land. Marcus Söder, seit ehedem politisch flexibel aber kräftig im Auftritt, verbreitet jene Aura des Machers, die dem Konkurrenten um das Kanzleramt aus dem fernen Rheinland so gänzlich abgeht. Der Franke wirkt souverän und vergisst dabei auch ein wenig Ironie nicht, wenn er anlässlich seiner Regierungserklärung die demnächst unvermeidliche Maske in bayerischem Weißblau aus der Tasche zieht, dabei den überregional bundesdeutsch bedeutsamen Hinweis nicht vergisst, dass es solche selbstverständlich „auch in anderen Farben“ gäbe, jedoch immer daran zu denen sei, dass man diese „nicht nur über den Mund, sondern auch über die Nase“ ziehen müsse, solle sie ihren Zweck erfüllen. Der gezielte Seitenhieb auf jenen Komödianten vom Rhein, der sich bei seinem Krankenhausbesuch zwar mundbedeckt, aber nasenfrei ablichten ließ, bleibt ungesagt, aber nicht unbemerkt.
Söder gibt den souveränen Kümmerer, sorgt sich um die „Grundrechte, die auch in schweren Zeiten gelten,“ ebenso wie um das Vaterland, denn „es geht um unseren Wohlstand“. Will sagen: Das Unvermeidliche tun, um die Verbreitung des Virus zu unterbinden – aber das Notwendige zulassen, um die Zukunft des Landes nicht zu gefährden. Das kommt an beim Volk, wenn es von einem gestandenen Mannsbild wie dem Bayern-Premier mit ernster Sorge und notwendiger Durchsetzungsbereitschaft präsentiert wird. So hat Söder im Rennen um die Merkel-Nachfolge bereits die Nase vorn – auch wenn er diesen Anspruch nie formuliert außer mit dem Hinweis, dass der von CDU-Seiten vorgetragene Mechanismus der Personalidentität von CDU-Vorsitz und Kanzleramtsaspirant an den Realitäten der CSU vorbeigehe. Da steht nun einer, dem das Volk zunehmend zutraut, zu führen und gleichzeitig die Zeichen der Zeit zu erkennen.
Die Nach-Corona-Ära der Union zeichnet sich ab
Angesichts der bundesdeutschen Konstellationen hält sich Söder sämtliche Türen offen. Lobt die inhaltliche Übereinstimmung mit dem sozialdemokratischen Bundesfinanzminister ebenso wie die vertrauensvolle Abstimmung mit dem grünen Ministerpräsidentenkollegen aus dem benachbarten Südwesten. Mit dem Österreicher Sebastian Kurz kann er auch und verzichtet auf Ischgl-Bashing, betont, ganz Europäer, die Bereitstellung bayerischer Intensivbetten für Kranke aus Italien, Frankreich und anderen EU-Staaten. Und selbst auf seine zuletzt immer schriller wirkenden Attacken gegen die AfD verzichtet der Protestant der katholischen Stammlande, nicht ohne einen vorgeblichen Gottesdienstanspruch als notwendige Konsequenz der grundgesetzlichen Glaubensfreiheit für alle sogenannten Glaubensgemeinschaften zu deklarieren. Ausdrücklich dankt der bayerische Ministerpräsident im Landtag der Opposition für ihre konstruktive Zusammenarbeit – und verzichtet auf den sonst üblichen Pawlowschen Reflex, die ungeliebte AfD von diesem Dank auszunehmen.
So bewahrheitet sich die alte Erkenntnis, dass Krisen Zeiten jener sind, die sie für sich zu nutzen wissen. Weshalb nun auch für ein Tandem Söder-Spahn sich vorrangig die Frage stellen wird, wann Merkel nun tatsächlich abtreten sollte. Beiden käme es gelegen, wenn Mama Doc noch einmal als Kanzlerkandidatin anträte – vorausgesetzt, es gelingt ihr, die aktuelle Zustimmung auf hohem Niveau zu halten. Zur Halbzeit dann könnte Merkel ihren Weg in den Ruhestand antreten. Bis dahin hätten sich Laschet nebst anderen Aspiranten dank Corona abschließend selbst aus der Corona der Macht expediert – und der bayerische Ministerpräsident könnte ansetzen, das wichtigste Amt der Bundesrepublik nach Bayern zu holen. Vorausgesetzt, der Republikaner auf dem Stuhl des Prinzregenten macht jetzt keine Fehler. Bislang allerdings hat er die Krise besser für seine Ambitionen zu nutzen gewusst, als jeder denkbare Konkurrent. Insofern: Schaun mer mal, dann seh’n mer schon …