„Wenn wir anfangen, uns selbst zu täuschen, nicht zu denken, dass wir etwas wollen oder brauchen, nicht wahrhaben wollen, dass es eine pragmatische Notwendigkeit für uns ist, es zu haben, sondern meinen, es sei ein moralischer Imperativ – dann ist es passiert, dass wir uns den modischen Verrücktheiten anschließen. Dann erklingt das dünne Wehklagen der Hysterie im Land – und dann auch befinden wir uns in großen Schwierigkeiten.“ (Joan Didion)
Die Debatte über die Migration ist zu einer der grundlegendsten des europäischen Lebens geworden. Auf ihr basieren politische Identitäten und Kampagnen. Doch eine Klärung der Frage, wer genau welchen Wandel in der Migrationspolitik will, ist bisher zu kurz gekommen. Stattdessen erleben wir konkurrierende moralisierende Diskurse und die Debatte selbst ist zu einem Instrument geworden, in dem jede Seite ihre Identität beanspruchen kann. Die politische Rechte kann behaupten, sie allein führe den Kampf des Außenseiters oder des Underdogs gegen den Niedergang des Westens. Sie übt enormen Druck aus und spricht von Medienmonopolen oder dominanten Weltmächten, die angeblich die Meinungsführerschaft übernommen haben. Die Linke wiederum fühlt sich wie die beste Person eines jeden Raums, den sie betritt, oder als die einzige politische Kraft, die der Unmenschlichkeit trotzt und Krieg zu verhindern sucht. Sie tut so, als sei sie dabei, eine Welt zu schaffen, in der Grenzen Vergangenheit und Freundschaften magisch sind, ganz wie in einem niedlichen Kinderbüchlein.
Grenzzaun
Im Jahr 2016, als die große Zuwanderung nach Europa ihren ersten Höhepunkt hinter sich hatte, schrieb ich einen Beitrag, in dem ich den Grenzzaun in Ungarn zu erklären versuchte. Meine Fragen lauteten damals: Hat ein EU-Mitgliedstaat das Recht, durch sein eigenes System der repräsentativen Demokratie zu entscheiden, wer sich auf seinem Territorium aufhalten darf und wer nicht? Hat ein Nationalstaat ein moralisches Recht, seine Grenzen zu schützen?
„Die Unfähigkeit der EU, die Probleme zu bewältigen, veranlasste viele Bürger dazu, sich wieder stärker dem Nationalstaat zuzuwenden.“
Bei genauerer Betrachtung hätte uns das von Vornherein klar sein müssen, denn verwunderlich war dies nicht. Gewiss hatten viele Ungarn die Freizügigkeit innerhalb der EU als positives Symbol der postkommunistischen Freiheiten erlebt. Ein Blick auf die Geschichte des Landes, das so viele Invasionen erlebt hat, erklärt aber, weshalb auch Grenzkontrollen und die Bewahrung der nationalen Souveränität als Zeichen der Freiheit gelten mussten. Dies wurde umso deutlicher, da die Migration nicht wie in den Jahren zuvor als erwünscht und kontrolliert daherkam, sondern ganz im Gegenteil. Sie wirkte chaotisch und wie außerhalb staatlicher Kontrolle.
Und dies war das größte Problem, das mich bei meinen Überlegungen leitete: Wenn Grenzkontrollen grundsätzlich und per se als unmoralisch oder falsch gelten, dann verlieren wir die Kontrolle darüber, wer die EU betritt.
Dabei gab es durchaus Sympathien für die Flüchtlinge, die zu Tausenden in den Bahnhof Keleti eingepfercht worden waren und dort festsaßen. Aber selbst diese unmenschlichen Szenen signalisierten nichts anderes, als dass der Staat die Ordnung in seinem Territorium aus einem wichtigen Grund nicht aufrechterhalten konnte. Er hatte keine Kontrolle darüber, wer in sein Territorium eindringen durfte und wer nicht. Kein Wunder, dass viele Ungarn glaubten, ihr Land befände sich in einem Zustand größter Verwirrung und Unordnung.
Und was tat die EU? Sie veranstaltete zahlreiche Gipfel und forderte die Osteuropäer auf, Migranten human zu behandeln. Das war eine schockierende, kontraproduktive Antwort auf die Probleme. Den verunsicherten Ungarn, die zusehen mussten, wie ihre Städte und Dörfer ins Chaos gestürzt werden, vorzuwerfen, ihre Ängste seien unberechtigt oder sogar unmoralisch, empfanden viele als Beleidigung. Es war diese arrogante Haltung und die Herabwürdigung berechtigter Sorgen, die immer mehr Bürger dazu veranlassten, sich der politischen Rechten zuzuwenden und nach Antworten zu suchen. Der Zaun, den die ungarische Regierung an der Grenze zu Serbien errichten ließ, mag eine anstößige, verabscheuungswürdige Antwort auf die Ängste vieler Bürger gewesen sein, aber er war immerhin eine Antwort.
Wohlfahrtsstaat
Die Bedeutung der Steuerung der Migrationsströme ist auch deshalb entscheidend für die Aufrechterhaltung des Wohlfahrtsstaates. Die Idee des Wohlfahrtsstaates wird seit langem von der europäischen Rechten angegriffen. Der Wohlfahrtsstaat basiert auf dem Vertrauen der Bürger, dass die Zahlungen, die sie in Form von Steuern an den Staat leisten, zu Dienstleistungen beitragen, die dem Gemeinwohl dienen. Er ist Ausdruck der Solidarität einer geschlossenen, abgegrenzten Gruppe, einer Gemeinschaft also.
„Der plötzliche Zustrom vieler Menschen aber löste Ängste um den Arbeitsplatz und die Gesundheitsversorgung sowie andere Leistungen aus.“
Der Historiker Tony Judt hat das so formuliert: „Es ist kein Zufall, dass Sozialdemokratie und Sozialstaaten in kleinen, homogenen Ländern, in denen Probleme des Argwohns und gegenseitigen Misstrauens nicht so akut auftreten, am besten funktionieren. Die Bereitschaft, für die Dienste und Leistungen, die andere in Anspruch nehmen, zu zahlen, beruht auf der Einsicht, dass sie wiederum dasselbe für einen selbst und seine Kinder tun werden. Weil sie wie man selbst sind und die Welt so sehen wie man selbst.“ Judt fügte im gleichen Artikel hinzu, dass wir in der Regel ein zunehmendes Misstrauen und einen Verlust der Begeisterung für die Institutionen des Sozialstaates feststellen, wenn Einwanderung die Demografie eines Landes verändert.
Mit dem Schwinden des Vertrauens in den Sozialstaat stieg die Tendenz, sich von der Linken abzuwenden. Dass die EU den Osteuropäern vorwarf, nicht warmherzig und offen genug zu sein, war in dieser Situation nicht nur kontraproduktiv, sondern auch antidemokratisch und unmoralisch. Hieraus erklärt sich, weshalb die politische Rechte bei den Menschen ankam und die Linke nicht. Der Hashtag #RefugeesWelcome mochte seinen Nutzern ein gutes Gefühl geben, aber er verärgerte viele, die mit den Auswirkungen eines unbegrenzten Zustroms von Menschen leben mussten – Menschen, die dann zu einer neuen Reservearmee auf dem Arbeitsmarkt wurden.
Konsens
Die Tatsache, dass die Einwanderung immer noch unsere Gesellschaft spaltet und eine Frage des politischen Lagerdenkens ist, muss als eine Anomalie angesehen werden. Migration hat es in der Geschichte schon immer gegeben, und im Normalfall finden Staaten mit der Zeit Kompromisse, um mit dem Phänomen umzugehen. Zumeist sehen die so aus, dass eine Einwanderungskontrolle vorgenommen wird, die mit Richtlinien für die Integration der Neuankömmlinge einhergeht. Ein solcher Mittelweg wurde in der Vergangenheit immer wieder erreicht. Ein Beispiel ist das Einwanderungsreform- und -kontrollgesetz der USA von 1986. Ein weiteres Beispiel ist der Merkel-Erdoğan-Flüchtlingspakt, der im März 2016 geschlossen wurde.
„Tatsächlich stellt die Migration eher etwas Symbolisches dar als eine konkrete Bedrohung unserer gemeinsamen Lebensweise.“
Eigentlich hätte mit diesem Pakt zur Eindämmung der Migration ein neuer, pragmatischer Konsens etabliert werden müssen. Obwohl er von Menschenrechtsgruppen und anderen Befürwortern offener Grenzen kritisiert wurde, gelang es ihm, sein grundlegendes Ziel zu erreichen: die drastische Reduzierung der unkontrollierten Migration auf der Balkanroute. Sogar die Orbán-Regierung stimmte im Europäischen Rat für den Pakt. Und trotzdem ist die Migrationsdebatte nach wie vor eine der wichtigsten Streitpunkte innerhalb der EU.
Wie heikel das Thema ist, zeigt sich daran, dass die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen eine neue Stellenbeschreibung mit dem Titel „Schutz der europäischen Lebensweise“ geschaffen hat (als neue Zusatzbezeichnung für den Kommissar für Migration). Die Präsidentin sprach sich gewunden für den neuen Namen aus, ohne klarzustellen, was ihre ideologische Position dazu ist. (Ihre Haltung blieb dabei so undurchsichtig wie das Verfahren, durch das sie überhaupt erst zu ihrer neuen Position als Kommissionpräsidentin gekommen war.) Die französische Politikerin Marine Le Pen dagegen sprach mit großer Klarheit und erklärte die neue Stelle zu einem ideologischen Sieg für sich und ihre Verbündeten. Und sie hat Recht: Die Jobbezeichnung ist tatsächlich ein Sieg für Le Pen, Orbán, Salvini usw. Aber: Was genau stellt denn eine solch große Bedrohung unserer Lebensweise dar, dass sie geschützt werden muss? Für manche ist die Antwort einfach: Es ist der Islam. Doch warum, wenn das so wäre, sollten auch die Länder, die kaum oder nur sehr wenig muslimische Einwanderung haben, sich ebenfalls bedroht fühlen?
Kontrollverlust
Es ist eine Binsenweisheit, dass wir in den Ländern des Ostens eine Anti-Immigrationsstimmung erleben, obwohl es gar keine nennenswerte Einwanderung gibt. Die überwiegende Mehrheit der in Ungarn lebenden Einwanderer ist hier, weil die Regierung beschlossen hat, die Bildungs- und Forschungskooperation mit den Ländern des globalen Südens auszuweiten. Auch die vielen Migranten, die 2015 nach Ungarn kamen, hatten nie die Absicht, hier zu bleiben. Sie alle waren auf dem Weg in den westlichen und nördlichen Teil der EU.
Tatsächlich stellt die Migration eher etwas Symbolisches dar als eine konkrete Bedrohung unserer gemeinsamen Lebensweise. Menschen, die das Gefühl eint, dass sie nichts zu sagen haben, keine Möglichkeit haben, zu kontrollieren, wie die Globalisierung ihre Umgebung verändert, projizieren dies oft auf die Migration. Sie ist gewissermaßen zu einem Symbol der Globalisierung und des Kontrollverlusts geworden. Und Tatsache ist, dass das Gefühl der fehlenden Kontrolle über die Globalisierung immer noch damit zu tun hat, dass nicht jeder und alles auf einmal globalisiert wird. Das Kapital bewegt sich global, aber das Arbeitsrecht nicht. Auch der Informationsfluss bewegt sich global, aber der Zugang zu Informationen ist nicht für alle weltweit gleich. Die Struktur des Medienbesitzes ist alles andere als globalisiert, aber ihre Wirkung ist vielfältig. Die ungleiche Ausbreitung der Globalisierung sowie der ungleiche Zugang zu den Früchten der Globalisierung können nicht durch ein vorgeschriebenes Gutmenschentum ausgeglichen werden.
„Ist es eine legitime Aussage, dass ein Nationalstaat in erster Linie für die eigenen Bürger da zu sein hat?“
Die Vorschrift, jeden zu akzeptieren und jeden mit der gleichen Empathie zu behandeln, entspricht nicht den Grundbedürfnissen der Menschen. Den ungarischen Bürgern geht es vielmehr darum, ein politisches Organ zu haben, das ihnen selbst gehört und das ihnen gegenüber rechenschaftspflichtig ist. So hysterisch die Debatte über Migration auch war (und das war sie tatsächlich), hat sie uns doch gezwungen, über einige wichtige Fragen nachzudenken: Ist es eine legitime Aussage, dass ein Nationalstaat in erster Linie für die eigenen Bürger da zu sein hat? Akzeptieren wir, dass der wichtigste moralische Grund für die Existenz eines Nationalstaates darin besteht, den größtmöglichen Wohlstand für die eigenen Bürger zu schaffen? Oder dass es nicht die Aufgabe einer Regierung ist, die Probleme der Welt zu lösen?
Leider vermochte die Pro-Migrations-Seite nie, ihre Argumente vor dem Hintergrund der nationalen Interessen zu erklären. Tatsächlich liegt es im nationalen Interesse Ungarns, dass eine bestimmte Anzahl Migranten zu uns kommt, um in unserem Land zu arbeiten. Darüber hätte viel mehr diskutiert werden müssen. Doch stattdessen wurde ein moralisches Schwarz-Weiß-Bild gemalt, in dem alle kritischen Stimmen als Rassisten oder Ausländerfeinde bezeichnet wurden. Es ging nie darum, was das Beste für uns, die Bürger, ist.
Die Migrationsdebatte heute
Für Ungarn aber gibt es noch einen anderen Grund, weshalb die Ablehnung der Migration so stark war und vielleicht noch immer ist. Dieser Grund hat etwas mit unserem Platz in der EU zu tun. Um es einfach auszudrücken: Uns wurde ausnahmsweise einmal ein gleichwertiger Platz im Gewinnerclub versprochen. 1990 dachten wir alle, wir befinden uns diesmal auf der richtigen Seite der Geschichte. Unsere Komplexe würden verschwinden, unser Lebensstandard steigen und wir würden unseren eigenen Marshall-Plan bekommen. Kurzum, wenn wir Teil des Clubs würden, seien unsere Leiden beendet. Und tatsächlich: Zu einem großen Teil ist der Lebensstandard gestiegen, es gibt Freizügigkeit und eine gewisse nationale Souveränität.
Doch auf eine grundlegende Weise fühlt sich der Prozess der europäischen Integration nicht so an, wie er hätte sein sollen. Wir werden in vielerlei Hinsicht nicht als gleichwertige Akteure wahrgenommen. So zumindest sehen es viele im Land. Die gesamte Debatte über Migration wurde im Westen von einem Gefühl der Schuld des zurückliegenden Kolonialismus des 19. und 20. Jahrhunderts geprägt. Doch das ist etwas, an dem sich die ehemaligen Ostblockländer nicht beteiligen wollten, denn diese Länder wurden ja selbst kolonisiert. Gleichzeitig waren die Länder im Osten entsetzt darüber, dass in Westeuropa die Geschichte der stalinistischen Diktatur überhaupt keine Anerkennung fand.
„Wir müssen aufhören, denen, die kritische Fragen stellen oder eine andere Meinung haben, die Legitimität abzusprechen.“
Diese Unterschiede erklären, weshalb in mittel- und osteuropäischen Ländern Regierungen der Meinung waren, dass sie auf das neue Phänomen der Massenmigration anders reagieren sollten als die Länder mit einer bereits bestehenden großen Migrantenpopulation. (Neu ist das Phänomen der Massenmigration für die Länder im Osten nur seit dem 20. Jahrhundert). Doch als man ihnen dann mit dem erhobenen Zeigefinger drohte und sie zurechtzuweisen suchte, reagierten die Regierungen verärgert: Du regst dich über uns auf? Wir werden dich noch mehr aufregen, lautete ihre Antwort, die manchmal ebenso kindisch daherkam wie die Anklagen der Gegenseite.
Die derzeitige Migrationsdebatte ist die Debatte, die wir führen, um nicht über andere, wichtige Themen streiten zu müssen. Mit ihr umgehen wir die schwierigere Frage darüber, welche Erfolge und Misserfolge die ehemaligen Ostblockstaaten auszeichnen, die der Europäischen Union beigetreten sind. Wir umgehen auch die Debatte darüber, ob es so etwas wie eine europäische kulturelle Basis gibt, die uns alle eint.
Wir werden den großen europäischen Kompromiss in der Migrationsfrage nur dann erreichen können, wenn wir aufhören, die Debatte so zu führen, wie wir es bisher getan haben, nämlich als Moralgeschichte. Dazu gehört auch, dass wir aufhören, denen, die kritische Fragen stellen oder eine andere Meinung haben, die Legitimität abzusprechen.
Péter Ungár gehört dem Parlament Ungarns für die ungarische Grüne Partei an. Sein Beitrag ist zuerst bei Novo erschienen.