In den letzten Wochen häufen sich erstaunte Berichte darüber, dass in Deutschland die Zahl der Menschen, die an den Folgen einer Corona-Infektion sterben, „so niedrig“ ausfalle. Offenbar möchte man uns damit sagen, dass Deutschland die Lage dermaßen gut handhabt und im Griff hat, dass es gerade deswegen zu einer bisher so – im Vergleich mit anderen europäischen Ländern – geringen Zahl an Opfern geführt hat. Und dass darum die extremen Verbote gerechtfertigt sind. Außerdem möchte man den Bürgern trotz der „positiven Zwischenlage“ nicht zu viel der offenbar notwendigen und mit großen Mühen gesäten Angst wieder nehmen, damit diese sich weiterhin an die Verbote halten. Also getreu dem Motto: „Was nicht ist, kann ja noch werden.“
Nach der ersten Ansprache von Angela Merkel legte ich jedenfalls die Angst wie einen Mantel ab. Ich war wie kuriert von dieser „German Angst“. Denn nachdem die Liste „was alles noch offen und erlaubt ist“ von ihr herunter gerattert wurde, stellte ich fest, dass sich in meinem aktuellen Leben nicht viel verändert hatte und die Welt scheinbar doch nicht ein solch gefährlicher Ort mit drohender Apokalypse sein kann. Ich fragte mich, was das für ein Todesvirus sein muss, das uns alle vor Angst erstarren lässt.
Ich lehne mich nun weit aus dem Fenster und behaupte, dass es nicht an den Kontaktsperren und Verboten liegt, dass die Zahlen der Infektionen und Verstorbenen in Europa so unterschiedlich sind, sondern unter anderem an der unterschiedlichen Mentalität und Kultur des Miteinanders, die auch vor der Krise existierte. Was für die Bekämpfung von Corona hilfreich sein mag aber fördert Distanz, Ferne und Angst.
In Italien leben nun mal mehr Menschen miteinander, die wiederum mit vielen anderen Menschen Kontakt haben. Tägliche Besuche von Nachbarn oder sonstigen Personen gehören zum Alltag. So etwas gibt es in Deutschland kaum, oder auch: Immer seltener. Nicht unangekündigt, nicht ohne Termine, nicht einfach so! Man meldet sich an. Selbst die Kinder bei ihren Spielkameraden. Das mag in der derzeitigen Krise helfen. Aber sonst?
Hinzu kommen die sozialen Gepflogenheiten beim Begrüßen und Verabschieden. Generell handelt es sich um eine Kultur, die den Körperkontakt zu anderen Menschen nicht meidet oder fast ganz scheut – wieder. Kurz hatte man die französische Sitte der Drei Küsschen imitiert. Freunde wie auch Bekannte, teilweise sogar Fremde werden mit Umarmungen und mit Küsschen auf die Wangen begrüßt. Nicht alle, aber die meisten Menschen in Italien machen es so. Kinder, besonders Kleinkinder, werden meistens herzlich umarmt und geliebkost mit vielen Küsschen auf Kopf, Stirn oder Hände.
Das bedeutet, dass allein Kinder eine nahezu perfekte Virus-Schleuder sind, da diese gerne auch mal den ganzen Tag bei den Großeltern verbringen, was in Deutschland ins Verhältnis gesetzt eher weniger der Fall ist – und die Regierung empfahl zu Beginn der Krise, ganz auf Besuche zu verzichten oder die Betreuung durch Großeltern abzubrechen. Ohnehin müssen deutsche Großeltern sich oft mit nur einem Besuch am Sonntagnachmittag einmal im Monat zufrieden geben. Die Familien wurde auseinander gerückt, jetzt werden sie noch weiter distanziert. Was die körperliche Nähe betrifft sind die Spanier den Italienern und anderen „warmen“, „familienzentrierten“, Ländern ähnlich. Körperliche Nähe ist in der Kultur verankert und erschafft somit auch gleichzeitig eine gefühlte – und sei es eine fiktive – emotionale Nähe. Ob man das gut oder schlecht findet, kommt immer auf die Betrachtungsweise an. Bei einer Virus-Pandemie ist diese Nähe offensichtlich ein hoher Risikofaktor. Einsamkeit wird zum gesellschaftlichen Ideal. Nur vorübergehend oder auf Dauer?
Auf äußere Umstände als Ursache unterschiedlicher Belastungen wie das Gesundheitssystem oder das Klima werde ich hier nicht eingehen. Aber in einer Kultur der „Ferne“ wie der deutschen reicht bei der Begrüßung ein freundliches Lächeln und eine Mimik oder Handbewegung, um dem Gegenüber zu verstehen zu geben, dass man „sich selbst“ gerade unangenehm fühlt und den anderen nicht in seine Nähe lassen will. Das ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel. In Deutschland ist es normal und erlaubt, einen anderen nicht an sich ran zu lassen. Über solche Verhaltensweisen herrscht ein gewisser Konsens, den die Menschen untereinander unausgesprochen verstehen. Es muss nachvollziehbar sein, weshalb ein Mensch die körperliche Nähe und somit auch die emotionale vermeidet. Sich nicht daran zu halten, kann beleidigend sein. Jetzt gilt es als Erfolgsfaktor. Aber was geht dabei verloren?
Insofern machen auch in familienbezogenen Ländern Schilder und Plakate Sinn, die die Menschen auffordern, Abstand zu halten. Dass diese Order von „oben“ kommt, macht es den Menschen leichter, ihre Ängste ausnahmsweise über ihre geschätzte Alltagskultur zu erheben. In Deutschland ist es genau andersherum: Die Angst steht über allem und jedem, und wer sie sät, gilt als ein Messias, denn er rettet das Weltklima. Angst war immer schon ein Instrument der Politik. Auch vor Corona war Angst vor dem künftigen Weltuntergang in jeder Nachrichtensendung präsent. Jetzt wirkt sie bis in die Familien hinein.
Manchmal erlebt man Deutsche, die einen bei der Begrüßung umarmen möchten, um ihre Wärme zu zeigen. Sie umarmen einen – und schaffen es tatsächlich, mit dieser künstlich erzeugten Nähe trotzdem Distanz zu erschaffen. Denn diese Umarmungen sind so zögerlich, unsicher und untypisch, dass sie das Gegenteil von dem erzeugen, wofür die Geste eigentlich gedacht war. Kein Wunder – Angst ist amtlich erwünscht.
Viele haben Angst vor Nähe. Und so ein Virus kommt ihnen wie gerufen, um endlich offen Angst haben zu dürfen, die berechtigt und auch noch richtig ist. Und das Allerbeste: Es steht sogar auf Schildern, dass man sich so richtig verhält.
Deswegen wird nun auch immer mehr übertrieben. Aus 1,5 Meter Abstand sind mittlerweile 2 geworden. Man kann sich manchmal des Eindrucks nicht erwehren, dass es manchen Menschen auf eine seltsame Weise Spaß bereitet, diesen Abstand immer mehr zu vergrößern. Eine Gesellschaft rückt buchstäblich auseinander.
Ich glaube zu wissen, warum die Infektionzahlen so niedrig sind. Vor unserer Wohnung ist eine Bäckerei, die ich täglich beobachten kann. Die Schlange vor der Bäckerei ist während der Öffnungszeiten immer etwa 20 Meter den Gehweg entlang – bei 5 Personen. Die Menschen betreten die Bäckerei einzeln, da sie recht klein ist. Um zu zeigen, wie verantwortungsbewusst und wie gesetzeskonform sie sind, begannen die Menschen, die vor dem Laden warteten, über die letzten Wochen hinweg immer mehr Abstand zu halten, von der Eingangstür und voneinander. Mittlerweile kann man als Passant gar nicht mehr erkennen, dass die Leute beim Bäcker anstehen. Sie halten nicht nur mindestens 5 Meter voneinander in der Schlange Abstand, nein, sie halten auch 5 Meter vor dem Eingang Abstand, weil zwei oder drei Meter nicht mehr reichen, um zu zeigen wie ernst man die Lage nimmt. Wer aus Versehen die Schlange durchbricht wird zurechtgewiesen. Es herrscht wieder Disziplin.
Anhand des Abstandes zeigt man nun, wie „gut“ man ist. Proportional zum Abstand steigt der Moral- und Gutmenschlichkeitswert. Aber ich glaube, es gab außer politischer Propaganda, wie „#solidarität“, „#zusammengegenCorona“ und so weiter, auch vor der Coronakrise weder körperliche noch geistige Nähe. Weder in der Politik noch in der Gesellschaft oder in den Familien derer, die solche Sprüche absondern. Der erhobene Zeigefinger im Internet signalisiert die eigene Überlegenheit – womöglich auch Einsamkeit.
Insofern wird sich das Virus hier schnell langweilen, da die Wirte eben keine guten Gastgeber sind und die Quarantäne längst kein Umstand mehr ist, sondern eigentlich gelebter Alltag, für den man jetzt halt nur mehr Toilettenpapier braucht.
Da wünscht man jedem wirklich nur: bleibt gesund! Aber was macht ihr gegen eure Einsamkeit?