Tichys Einblick
Eine Stagflation für Deutschland?

Die EU-Haftungsunion kommt auch ohne Corona-Bonds – in verklausulierter Form

Die Finanzminister der EU erzielten einen Kompromiss, der den Namen nicht verdient. Die Südländer haben sich durchgesetzt. Die Lehre lautet: Es lohnt sich für Deutschland nicht mehr, solide zu wirtschaften. 

Bundesfinanzminister Olaf Scholz, SPD, nimmt an einer Videokonferenz der Euro-Gruppe teil. Berlin, 09.04.2020 Berlin Deutschland

imago images / photothek

In der DDR kannte man die Taktik des Kampfes um den weißen Elefanten. Wollte man im Theater oder in einem Text etwas Kritisches durchsetzen, wurde bewusst eine Provokation eingebaut, die man nach intensiver Diskussion aus dem Text oder aus der Inszenierung nahm, aber den Zensoren die Aufmerksamkeit für das raubte, um das es eigentlich ging. Gestern erzielten die Finanzminister der EU einen Kompromiss, der den Namen nicht verdient. Schaut man unter die wie immer perfekte Verpackung wird deutlich, dass sich die Südländer durchgesetzt haben, auch weil der deutsche Finanzminister seinem niederländischen – soweit ich sehe – in den Rücken gefallen zu sein scheint. 

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Dafür, dass Frankreich, Italien und Spanien erst einmal nicht weiter auf die gemeinsame Kreditaufnahme und somit Vergemeinschaftung der Schulden und auf die Schaffung einer Transferunion auf diesem Weg beharrten, Stichwort: Corona- oder Euro-Bonds, erklärten sich die Nordländer bereit, die Regeln des schon bestehenden Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM soweit zu lockern, dass sie kaum noch bestehen. Die Finanzierung des europäischen Kurzarbeitergeldes erfolgt über eine Art Eurobond und der Einsatz der Europäischen Investitionsbank beschädigt das Haushaltsrecht des Parlaments. Im Grunde besteht die Transferunion bereits, nun wird sie ausgeweitet.

Im Einzelnen schlagen die Finanzminister ihren Regierungen Folgendes vor:

  1. Die Europäische Investitionsbank (EIB), die laut einem Bericht der Welt Kredite in der Corona-Krise von 45 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt hat, soll nun einen „Pan-Europäischen Garantiefonds“ auflegen, der weitere 25 Milliarden enthält, der notleidenden Unternehmen in den am stärksten betroffenen Ländern zu Gute kommen soll. Man wird sehen, für wen die europäischen Steuerzahler einzahlen sollen. Aber die 25 Milliarden sind im Grunde nur Spielgeld, denn der Fonds soll, wie die Welt schreibt, „durch Hebel und Garantien…bis zu 200 Milliarden Euro mobilisieren.“ Mit Hebeln kann man, ohne das Parlament befragen zu müssen, mehr Geld aus den nationalen Haushalten brechen, denn ein Hebel muss nicht nur in die Finanzmärkte hinein funktionieren, er hebelt, wenn es schlecht läuft, auch zurück. Jeder Hebel hat nun einmal zwei Enden. Mit Garantien werden in der Regel Kredite besichert. Wo, wenn nicht auf den Finanzmärkten, will also die EIB die 200 Milliarden „mobilisieren“, für die Deutschland, aber auch Frankreich und Italien haften? So gesehen scheint der „Paneuropäische Garantiefonds“ nichts anderes als ein auf EIB-Bonds konzipierter Euro-Bond zu sein. Er unterscheidet sich meines Erachtens nur in zweierlei Hinsicht von den gewünschten Euro-Bonds, nämlich dadurch dass er begrenzt ist und die Staaten nicht unmittelbar, sondern mittelbar die Garantien übernehmen. Der Kompromiss mag in der Formulierung, nicht aber in der Sache bestehen. 
  2. Italien und Spanien hatten die Unterstützung durch den ESM abgelehnt, weil sie die volkswirtschaftlichen Bedingungen, die mit der Mittelvergabe verknüpft sind, als Eingriff in ihre nationale Souveränität sehen. Diese Bedingungen wurden so weit gelockert, dass sie praktisch nicht mehr existieren. Wieder einmal bricht die EU ihre eigenen Regeln. Laut Welt dürfe das „Geld…nur genutzt werden, um die direkten und indirekten medizinischen Kosten der Corona-Krise zu finanzieren oder die Kosten der Vorbeugung“ – aber das sind doch Sprenkeln für die Drosseln. Nicht nur, dass die direkten und vor allem indirekten Kosten und die der Vorbeugung großzügig bewertet werden sollen: Die Formulierungen selbst erlauben, alles und jedes darunter zu fassen, denn von den indirekten Folgen und den Vorbeugungen sind alle betroffen. So hat Mario Centeno eingeschätzt, dass wohl jedes Land, problemlos Kosten in Höhe von zwei Prozent der eigenen Wirtschaftsleistung aufzurufen in der Lage ist, was auch sonst niemanden verwundern dürfte. Auch hier stellt sich die Frage, worin außer in den Floskeln der Kompromiss in der Sache bestehen soll. 
  3. Die dritte Maßnahme betrifft das europäische Kurzarbeitergeld SURE, das 100 Milliarden Euro umfasst und aus dem bestehenden EU-Haushalt und aus Krediten finanziert wird, um auch die Länder, denen das Mittel des Kurzarbeitsgeldes bisher fremd ist, dazu zu bringen, es einzuführen. Heißt im Klartext, die EU nimmt Kredite auf, für die dann alle Mitglieder haften, auch das wäre eine mittelbare Form der Eurobonds. In Deutschland wurde das Kurzarbeitergeld mit Wirkung zum 1. Januar 1957 durch Artikel II des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung eingeführt. Es wird mithin über die Jobcenter ausgezahlt und ist Teil des deutschen Arbeitslosenversicherungsgesetzes. So gesehen stellt sich die Frage, ob das Kurzarbeitergeld nicht der Hebel ist, der insofern auf die deutsche Arbeitslosenversicherung zurückschlägt, indem er mittelfristig zur europäischen Öffnung der deutschen Arbeitslosenversicherung in Form einer europäischen Arbeitslosenversicherung führt. 
  4. Die vielleicht weitreichendste Überlegung betrifft die Finanzierung des „Wiederaufbaus“ der Wirtschaft nach der Krise. Hierzu muss bemerkt werden, dass keine einzige Produktionsstätte zerstört wurde und auch die Arbeitnehmer ihre Tätigkeiten wieder aufnehmen können. Die Frage ist, wie man die Transaktionskrise bewältigt, die aufgelaufenen Schulden, die Zerstörung der  Liquidität der Realwirtschaft. Durch die Stärkung der Finanzwirtschaft? An dieser Stelle wäre eine grundsätzliche Debatte notwendig, die aber wohl nicht geführt werden wird, weil die deutsche Regierung längst die traditionelle deutsche Vorstellung darüber, was Geld ist, der französischen Auffassung geopfert hat. Der Chef der EURO-Gruppe, der Portugiese Mario Centeno, forderte, dass nach der Krise ein Fonds für den Wiederaufbau bereitgestellt werden müsse. Den wollen die Südländer über Corona- oder Euro-Bonds finanzieren, wozu sich die Nordländer nicht bereit finden. In dieser Situation brachte der französische Finanzminister einen europäischen Fonds zum Wiederaufbau der europäischen Wirtschaft ins Spiel, der Teil des siebenjährigen Haushaltes der EU, der gerade beraten wird, werden soll. Die Bundesregierung, nicht untätig darin, immer neue wirtschaftliche und finanzielle Belastungen den deutschen Bürgern für die „europäische Idee“ aufzuerlegen, überlegt, ob nicht zusätzliche Mittel für den „Wiederaufbau“ über die Hebelung des EU-Haushaltes gewonnen werden könnten. Und auch hier ginge es am Ende – wie immer bei Hebelungen – um neue Kredite, deren Rückzahlung der Staat verspricht. Er haftet also, wenn die Rückzahlung aus welchen Gründen auch immer nicht erfolgt. Das Wort Hebel ist im Zusammenhang mit der Finanzpolitik der EU als Euphemismus für die Aufnahme neuer Schulden zu verstehen, für die der europäische Steuerzahler nach bestimmten Verteilungsschlüsseln in Haftung steht.

Auf dem Weg zur EU-Arbeitslosenversicherung
Fasst man das am 9. April 2020 von den Finanzministern der EU beschlossene Programm, das allerdings noch von den Regierungen bestätigt werden muss, zusammen, dann wird deutlich, dass es zu hohen Kreditaufnahmen und einer Finanzpolitik kommt, die Deutschland ruinieren wird. Getrieben wird die EU auch von der Furcht, dass in Italien und Frankreich die Populisten an die Macht kommen könnten. Um das zu verhindern, scheint jeder Preis gerechtfertigt zu sein. Dass die Corona-Krise kühl benutzt wird, um die wirtschaftlichen Probleme Italiens, Frankreichs und Spaniens zu beheben, stellt den Begriff der Solidarität in Frage. 

Es bedarf eigentlich keiner Coronabonds im engeren Sinne, denn sie sind in anderer Form in den Hilfsprogrammen bereits da, dennoch werden sie wohl etwas später unter anderen Namen noch zusätzlich kommen, weil die Krise dazu benutzt wird, die Transferunion dauerhaft herzustellen. Doch, was man in Brüssel nicht bedenkt, ist, dass die Dauer von der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Nordländer begrenzt wird. Stürzt Deutschland in die Rezession und in eine Hyperinflation, vielleicht sogar in eine Stagflation, wird für alle am Ende mehr verloren sein, als das, was einige momentan zu gewinnen hoffen. Zahlen für die Misswirtschaft werden nicht die Politiker und die Banker, sondern die Bürger.

Die Vorschläge skizzieren, wohin die Reise geht, nämlich in einen seltsam konstruierten EU-Zentralstaat, in dem die Südstaaten keinerlei Abstriche an den nationalen Souveränitätsrechten vornehmen und die Nordstaaten keinerlei Vetorechte gegen weitreichende finanzielle Transfers mehr einlegen können. Die Transferunion wird die Axt an die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit Europa legen. Die gestrige Lehre von Brüssel lautet: Es lohnt sich für Deutschland nicht mehr, solide zu wirtschaften. 

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