Ostern ohne Gottesdienste? In Berlin und Hessen haben sich Katholiken vor Gericht gegen die in der Corona-Krise auf der Grundlage von Rechtsverordnungen geltenden Gottesdienstverbote gewendet. Sie beantragten, im Wege Einstweiliger Anordnungen die Verbote vorläufig außer Kraft zu setzen und Gottesdienste zuzulassen.
Sowohl das Verwaltungsgericht Berlin als auch der Hessische Verwaltungsgerichtshof lehnten fast gleichzeitig am Nachmittag des 7. April 2020 die Anträge ab.
Streitpunkt ist die Reichweite des verfassungsmäßig garantierten Rechts auf freie Religionsausübung gemäß Art. 4 Abs. 2 des Grundgesetzes.
Beide Gerichte stellten fest, dass das Gottesdienstverbot, das in Berlin und Hessen aufgrund landesrechtlicher Corona-Schutzbestimmungen gilt, einen Eingriff in die freie Religionsausübung darstellt.
Grenzen des Rechts auf freie Religionsausübung
In dieses Recht kann mangels eines in die Verfassung aufgenommenen Gesetzesvorbehalts nicht durch einfache Gesetze eingegriffen werden. Zu diesen einfachen Gesetzen gehören auch die Maßnahmen, wie sie zur Bekämpfung der Corona-Seuche erlassen wurden. Allerdings ist auch die Religionsfreiheit und das dazugehörige Recht auf freie Religionsausübung deswegen keineswegs schrankenlos.
Es findet seine Grenze dort, wo die Religionsfreiheit mit anderen Rechtsgütern von Verfassungsrang kollidiert. Im vorliegenden Streit besteht eine Kollision mit dem in Art. 2 Abs. 2 GG geschützten Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Dieser Rechtsschutz soll durch die Gottesdienstverbote verwirklicht werden, indem die dabei gegebene Infektionsgefahr unterbunden wird.
Kollision von Grundrechten
Beide Gerichte scheiterten an eben dieser Aufgabe. Das Verwaltungsgericht Berlin ließ den Schutz von Leib und Leben uneingeschränkt gelten. Die dadurch erfolgende Einschränkung des Rechts auf freie Religionsausübung hielt das Gericht für verhältnismäßig, weil die Dauer beschränkt sei. Zudem seien die Katholiken ja auch von den Bischöfen von der Sonntagspflicht befreit worden und könnten – so die katholischen Bischöfe einvernehmlich – auf Fernseh- oder Rundfunkgottesdienste ausweichen. Zudem stünden die Kirchen für das persönliche Gebet weiterhin offen. Diese Auffassung vertrat wenigstens im Ergebnis auch der Hessische Verwaltungsgerichtshof.
Lösung des Konflikts: praktische Konkordanz
Sowohl die Verbotsregeln in Berlin, als auch in Hessen enthalten – im Detail unterschiedliche – Ausnahmeregelungen vom generellen Verbot von Zusammenkünften. So erlaubt Berlin neben allen Sitzungen der Bundesregierung, des Bundestages und sämtlicher Ausschüsse auch Bezirksverordnetenversammlungen und Betriebsratssitzungen. In Hessen dürfen auch weiterhin Gaststätten besucht werden.
Diese Ausnahmeregelungen zeigen, dass das Versammlungsverbot und damit der Schutz von Leib und Leben keineswegs absolut gelten. Vielmehr lassen die Verordnungen sogar ausdrücklich aus für „wichtig“ befundenen Gründen Versammlungen zu. Das Risikopotential einer Ansteckung scheint jedoch offenkundig mit dem von Gottesdiensten vergleichbar zu sein, vorausgesetzt, entsprechende Regeln zum Schutz der Teilnehmer werden beachtet. In Betracht kommen in allen Fällen insbesondere Abstandsregeln und Hygienemaßnahmen.
In allen also weiterhin unverändert zugelassenen Zusammenkünften kann unterstellt werden, dass trotz der Auflagen zur Vorbeugung von Infektionen ein Restrisiko besteht, das größer ist, als wenn auch diese Veranstaltungen verboten wären.
Hätten nun die Gerichte ihr Augenmerk auf die genannten Ausnahmen gerichtet, hätte ein mit Verfassungsrang geschützter Gottesdienst zumindest ebenso weiter zugelassen werden müssen, wie das Speisen in einer Gaststätte oder die Durchführung einer Bezirksversammlung.
Würden diese Ausnahmeregelungen richtigerweise auch auf das Grundrecht auf freie Ausübung der Religion ausgedehnt, ergäben sich analoge Einschränkungen wie zum Beispiel die Beschränkung der Teilnehmerzahl und ein Abstandsgebot, aus dem sogar ein Verbot der allgemeinen Kommunionsausteilung hätte abgeleitet werden können. Das Grundrecht auf Schutz von Leib und Leben gälte ebenfalls nicht absolut und wäre durch das Restrisiko einer Infektionsgefahr trotz aller Vorsichtsmaßnahmen eingeschränkt – eben wie bei den zugelassenen Gaststättenbesuchen oder den Betriebsratssitzungen. Entsprechend dem Grundsatz der praktischen Konkordanz könnten beide konkurrierenden Verfassungswerte jeweils ihre größtmögliche Entfaltung und Wirksamkeit erlangen; dann wäre es auch nicht notwendig, dass einer der Werte den anderen überlagerte. Jede darüberhinausgehende Einschränkung des Rechts auf freie Religionsausübung ist somit unverhältnismäßig und verfassungswidrig!
Unerheblichkeit der zeitlichen Beschränkung der Gottesdienstverbote
Der Hinweis der Gerichte auf die zeitliche Beschränkung des Gottesdienstverbotes, um dessen Zurücksetzung zu rechtfertigen, überzeugt nicht. Dieses Argument müsste nämlich in gleicher Weise sämtlichen weiterhin zugelassenen Versammlungen entgegengehalten werden, was die Verordnungsgeber jedoch explizit nicht machen. Sie leiten in diesen Fällen aus einem möglichen zeitlich begrenzten Verbot ebenfalls gerade keinen unbedingten Vorrang des Rechts auf Leib und Leben ab. Verschärfend kommt hinzu, dass für eine Abwägung die letztendliche Dauer der verlängerbaren Verbote nicht bestimmbar ist.
Fernsehgottesdienste machen das Recht auf freie Religionsausübung nicht obsolet
Recht auf kollektive Glaubensfreiheit in gemeinsamen Gottesdiensten
Selbst die Möglichkeit, die Kirchen zum privaten Gebet aufsuchen zu können, bietet kein Argument gegen Gottesdienste. Denn Art. 4 GG schützt nicht nur die individuelle, sondern auch die kollektive Glaubensfreiheit. Gerade die Glaubensfreiheit ist eines der Grundrechte, das zusammen mit anderen Gläubigen, also in einer Gruppe wahrgenommen werden darf. Dieses zentrale Recht wird jedoch durch ein Gottesdienstverbot vollständig unterdrückt. Deswegen können bei genauer Betrachtung nur gerichtliche Entscheidungen ergehen, die dem Recht auf freie Religionsausübung die gebotene Geltung verschaffen.
Fehlendes Rechtsschutzbedürfnis vor den staatlichen Gerichten wegen der bischöflichen Gottesdienstverbote
Exemption des antragstellenden Vereins S. Philipp Neri
Anders lag der Fall in Berlin. Dort war die Antragstellerin der Trägerverein des Instituts päpstlichen Rechts S. Philipp Neri. Dieses Institut ist exempt! Damit untersteht es also nicht der bischöflichen Leitungsmacht und ist deswegen auch vom Gottesdienstverbot des Erzbischofs von Berlin nicht betroffen.
Verfahren gegen das Gottesdienstverbot vor den Diözesanbischöfen
Die missliche Lage anderer Antragsteller vor den staatlichen Gerichten spricht dafür, dass Diözesankatholiken zunächst ihr Recht bei ihrem Bischof suchen müssen. So hat in Köln ein Antragsteller – wie die Tagespost berichtete – richtigerweise den Erzbischof um Aufhebung des Gottesdienstverbots gebeten. Sieht sich ein Bischof durch staatliche Vorgaben daran gehindert, wäre es seine Pflicht, sich gegen die ihn bindenden Verwaltungsvorschriften aus denselben Gründen zu wehren, wie sie die Antragsteller in Berlin und Hessen geltend machen.
Keine Freizeichnung der Bischöfe durch Aufhebung der Sonntagspflicht
Der Bischof ist natürlich nicht aufgrund des verfassungsrechtlichen Schutzes der freien Religionsausübung verpflichtet, den Gottesdienstbesuch nach Kräften zu ermöglichen. Diese Pflicht entspringt vielmehr den Glaubensvorschriften sowie dem Kirchenrecht, dem zufolge die Katholiken verpflichtet sind zur sonntäglichen Teilnahme an der hl. Eucharistie. Daraus korrespondiert die Pflicht des Bischofs, die Teilnahmemöglichkeit nach Kräften zu gewährleisten. Seine Pflicht endet erst da, wo er sich gegen den staatlichen Verordnungsgeber nicht durchsetzen kann. Er darf sich aber nicht einfach mit dessen Vorgaben abfinden. Hiervon kann sich der Bischof durch Aufhebung des Sonntagsgebots nur teilweise befreien. Das wiederum nimmt dem Gläubigen nur seine Pflicht, nicht jedoch sein Recht, die hl. Eucharistie feiern zu können
Vorrang der hl. Eucharistie vor Telegottesdiensten
Dem Verweis auf eine Teilnahme an Fernsehgottesdienste ist im Austausch mit dem Bischof wirksam theologisch zu begegnen. Die Teilnahme an der Eucharistie ist durch nichts zu ersetzen. Ein solcher Notbehelf setzt voraus, dass der Bischof zunächst alles versucht hat, die reale Teilnahme am Gottesdienst zu ermöglichen.
Orientierungslose Geringschätzung der Verfassung
Die brandenburgische Verfassungsrichterin und Schriftstellerin Julie Zeh beklagte in der Süddeutschen Zeitung „die orientierungslose Geringschätzung gegenüber der Verfassung“, die auch bei den deutschen Bischöfen mit Blick auf die geschützte freie Religionsausübung konstatiert werden muss. Es kann schnell wie zum Beispiel in den jahrhundertealten sprichwörtlichen Auseinandersetzungen unter den christlichen Glaubensgemeinschaften in der Grabeskirche in Jerusalem gehen, wie es in dem Dokumentarfilm „Das Haus meines Vaters hat viele Wohnungen“ belegt ist: Wer dort ein Recht nicht ausübt, verwirkt es. Ebenso könnte es der Katholischen Kirche mit ihrer Religionsfreiheit gehen.
Die gebetsmühlenhaften Stellungnahmen der Bischöfe zugunsten der Verbotsregelungen zementieren den erkennbaren Verfassungsbruch durch die Verordnungen – ein Verfassungsbruch, der jedenfalls in Bezug auf die Religionsfreiheit unschwer erkennbar ist. Die Bischöfe ermunterten damit die Gerichte in Hessen und Berlin, sich ausdrücklich auf bischöfliche Weisungen zu berufen, um den Klägern den ihnen zustehenden Rechtsschutz zu verweigern. Da bedurfte es kaum noch einer direkten Desavouierung des Vereins S. Philipp Neri durch die Pressestelle des Erzbistums Berlin, es handele sich bei dessen Antrag um einen „Alleingang“, der nicht die Zustimmung der Katholischen Kirche in Deutschland finde.
Es steht zu befürchten, dass sich die Bischöfe durch die selbstreferentiellen Beschlüsse noch in ihrem Tun bestärkt sehen. Jedenfalls solange, bis der Verein S. Philipp Neri, der als bislang – und soweit erkennbar auch künftig – einziger Antragsteller ein Rechtsschutzbedürfnis hat, nach Erschöpfung des Instanzenweges gegebenenfalls den Weg zum Bundesverfassungsgericht beschreitet. Sollten bis dahin die Gottesdienstverbote zumindest eingeschränkt worden sein, bestünde dort für künftige Fälle ein Rechtsschutzinteresse festzustellen, dass die derzeitigen Regelungen verfassungswidrig sind. In diesem Fall hätte der Berliner Verein mehr für die Stellung der Kirche in der Bundesrepublik Deutschland getan, als alle Bischöfe zusammen. Falls er vor dem Bundesverfassungsgericht obsiegt. Die Chancen stehen nicht schlecht.
Dass insbesondere die katholische Presse den Berliner Antragsteller – immerhin ein Institut päpstlichen Rechts –, als traditionalistisch zu schmähen suchte, hat mit den hier aufgeworfenen Rechtsfragen gar nichts zu tun, sondern verweist zunächst nur auf die Vielfalt und Diversität kirchlich-katholischen Lebens in Berlin.
Michael F. Feldkamp (Berlin) studierte in Rom (Gregoriana) und in Bonn. Er ist promovierter Historiker und Autor zahlreicher Bücher zur Verfassungsgeschichte, Zeitgeschichte und kirchlichen Rechtsgeschichte.