Tichys Einblick
Buch Robert Kardinal Sarah und Nicolas Diat

Das Abendland geht seinem Untergang entgegen

In einem Gesprächsbuch mit Nicolas Diat widmet sich Robert Kardinal Sarah den Krisen unserer heutigen Zeit. Das Wesen der Dekadenz – und wie es sich bereits im Römischen Reich gezeigt hat – ist Ausgangspunkt des hier veröffentlichten Kapitels

Robert Kardinal Sarah

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Der heilige Augustinus schrieb in seiner Predigt 81: »Du wunderst dich, dass die Welt darniedersinkt? Dass die Welt altert? So ist der Mensch: Er wird geboren, er reift heran und ergraut. Im Alter hat er viele Gebrechen: Husten, Schnupfen, Augenentzündung, Ängstlichkeit und Ermattung. Wenn der Mensch altert, jammert er viel. Wenn die Welt altert, erdrückt es uns. […] Klammere dich nicht an die greise Welt, sondern strebe danach, in Christus jung zu werden, der sagt: Die Welt keucht, schwindet und vergeht, sie altert und keucht in den letzten Atemzügen. Fürchte dich nicht, denn ›wie dem Adler wird dir die Jugend erneuert‹ (Ps 103,5).«

Diese Worte des betagten Bischofs von Hippo scheinen den Zustand Roms zu schildern. Das große Reich war entkräftet durch seine Sittenlosigkeit, seine Wollust, seine grausamen, blutrünstigen Spiele, in denen Sklaven zur Belustigung der Römer geopfert wurden, die nur eine Parole kannten: »Panem et circenses – Brot und Spiele«. Die Römer ertranken in ihrer zügellosen Suche nach Vergnügen, sie lechzten im Circus, wo wilde, ausgehungerte Bestien Menschen verschlangen, nach Blut. Wie schrecklich waren die Sitten dieser Zeit!

Doch Rom wurde belagert und schließlich erobert – die Stadt, welche die ganze Welt beherrscht hatte. Eine Hauptstadt der Antike brach zusammen. Mehrere Jahrhunderte hindurch war diese Metropole der Nabel der Welt gewesen. Die Einnahme der Ewigen Stadt symbolisiert den Untergang und das Verschwinden einer uralten Zivilisation.

Zur kulturellen und Identitäts-Krise Europas
Robert Kardinal Sarah: „Ich glaube, dass das Abendland im Sterben liegt.“
»Was kann dann noch heil bleiben, wenn Rom untergeht?«, klagte der heilige Hieronymus in einem Brief. Das Universum vergeht so schnell. »Wer hätte gedacht, dass Rom, welches durch seine Siege über die ganze Welt so mächtig geworden war, eines Tages so grandios scheitern würde, dass es selbst zum Grab seiner Völker werde, deren Mutter es einst gewesen war.«

Als die Westgoten unter Alarich I. zu Beginn des fünften Jahrhunderts Rom plünderten, war der Bischof von Hippo traurig, allerdings war für ihn die Größe Roms weit mehr als seine Lustspiele oder seine Triumphbögen: »Vielleicht wird Rom fortbestehen, falls die Römer nicht untergehen. […] Denn was es ausmacht, sind weder Steine noch Hölzer, weder hohe Gebäude noch breite Mauern.« Was Augustinus befürchtete, trat überraschend und äußerst schmerzvoll ein. Am 24. August 410 fielen die Horden Alarichs in der Hauptstadt des Reichs ein. Auf den Sturz der Stadt folgten Plünderung, Brände, Gewalt und Gemetzel. Da beschuldigten die Heiden die Christen: »Seht, wie alles einstürzt wegen des Christengottes!« Die Heiden waren überzeugt, dass ihre Götter nun Rache übten, weil man sich der neuen Religion wegen von ihnen abgewandt hatte.

Die Christen selbst waren irritiert. Obwohl viele Kaiser sich mit aller Macht gegen die Kirche verschworen hatten, war es ihr gelungen, das Reich im vierten Jahrhundert zum Christentum zu bekehren. Dann strömten die Barbaren herbei, doch die Kirche erblühte in neuem Glanz und bekehrte die fremden Völker zu Christus. Unsere heutige Jugend wird sich – wie damals die Jugend von Rom – nur dann erneuern, wenn sie zu Christus umkehrt. Nur so kann sie ihre Kraft und Stärke zurückerlangen.

Die Kirche hat das Mittelalter geformt, sie hat Impulse gesetzt, sie hat das Abendland hervorgebracht. Doch dann musste die Kirche miterleben, wie die mittelalterliche Kultur dahinschwand, die unter ihrer Einwirkung entstanden und gewachsen war. Sie sah die Moderne kommen, welche sich nun immer mehr ihrem Einfluss entzog und sich radikal ihrer Lehre widersetzte.

Jahrhunderte vergehen, die Kirche bleibt. Erneut steht unsere Gesellschaft vor einem Zusammenbruch – mit all den Ängsten und Sorgen, die er mit sich bringt.

Von der Idee der Zugehörigkeit
Wenn wir nicht für das konservative Denken einstehen, droht eine kulturelle Finsternis
Montesqieu, der scharfe Beobachter der Weltgeschichte, schrieb in seinem Werk Größe und Niedergang Roms: »Mehr Staaten sind durch Untergrabung der Sitten als durch Untergrabung der Gesetze untergegangen.« Der Kampf gegen die Verschmutzung von Luft und Wasser, für die Bewahrung der natürlichen Ressourcen ist ein berechtigtes Anliegen der Gesellschaft und das Ziel einer neuen Wissenschaft, der Ökologie. Aber es gibt noch andere Gefahren, die unsere Zukunft bedrohen: die vielen Formen von moralischer Verschmutzung. Auch sie vergiften die Luft, die wir einatmen. Sie deformieren unser Gewissen, verzerren unsere Urteilskraft und unsere Sensibilität, pervertieren die reale Liebe, treiben die Menschheit in den Untergang. Der Ort, von dem diese moralische Verschmutzung ausgeht, ist der Westen und deshalb läuft er Gefahr zu verschwinden, wie damals das antike Rom.

Warum betonen Sie immer wieder, dass die Moral am Ende ist?

Für die Jünger der Postmoderne sind die traditionellen Werte der jüdisch-christlichen Kultur überholt, unnütz, gefährlich. Noch nie wurde die Familie so verächtlich gemacht. Unter dem Deckmantel von Humanismus und Brüderlichkeit wird die Würde des Menschen mit Füßen getreten. Der Sittenverfall und die Gewalt gegen Frauen haben einen Punkt erreicht wie wohl noch nie zuvor.

Der Westen ist mit Gedanken vergiftet, die unser Gewissen verbilden und unser Empfinden pervertieren.

Immer gab es Bosheit, Gewalt, Verbrechen und sexuelle Perversion. Mit Sicherheit gab es Epochen in der Geschichte, als das Hässliche, Brutale, Obszöne, Niederträchtige, als erotische Zügellosigkeit und Sexbesessenheit ebenso den Ton angaben wie heute. Aber im Gegensatz zu jenen Zeiten herrscht heute eine institutionalisierte hedonistische Kultur, welche die Lebensgrundlagen unserer Nachwelt bedroht. Es ist noch gar nicht so lange her, dass die Jugendlichen sich in einer Welt unbestrittener, von der jüdisch-christlichen Zivilisation überlieferter Werte bewegten. Heute werden diese Werte als unangebracht und veraltet abgetan, ja sogar bekämpft.

Indem der Westen sich auf die Vernunft beruft, versucht er, die »alte Welt« zu überwinden. Das größte Drama unserer Zeit ist die Verwechslung von Gut und Böse. Unser Geist vermag nicht mehr klar zu unterscheiden. Unser Verstand hat vergessen, was der Menschennatur, was unserem Wesen schadet und was nicht. Zu viele junge Leute – aber auch Erwachsene – verkennen die Bedeutung ethischer Grundsätze oder lehnen sie kategorisch ab. Wir haben den Kompass verloren, an dem wir unser moralisches Urteil ausrichten sollten.

Wenn die Vernunft der einzige Maßstab bleibt, um die Wahrheit zu finden, wird sie sich in Sumpf und Nebel verlieren, unser Blick wird verdunkelt und schließlich vermögen wir uns der Wahrheit nicht mehr zu öffnen.

Neue moralische Ständeordnung
Die zersplitterte Gesellschaft
Der westliche Mensch vergiftet sich selbst. Wir können eine auffällige Parallele ziehen zwischen der Verschmutzung der Umwelt und jener des Menschen. Wir wissen, dass wir gewisse Chemikalien nicht benutzen sollten, die unsere landwirtschaftlichen Erträge steigern, und tun es trotzdem. Ähnliches können wir im Bereich der Moral beobachten: Die Menschen haben den Sinn für das Absolute verloren. Wir stecken in einem betäubenden Relativismus fest. Also zerstreuen wir uns, werden deprimiert und finden nicht mehr auf den rechten Weg zurück.

Ein Satz aus dem zweiten Petrusbrief wirft eine sehr aktuelle Frage auf: »Wenn sich das alles in dieser Weise auflöst: Wie heilig und fromm müsst ihr dann leben!« (2 Petr 3,11).

Die Verkümmerung der Bildungseinrichtungen ist umso bedauerlicher, als sie die Wiege aller großen Reformen sind. Eine besondere Rolle spielt dabei der Geschichtsunterricht. Dieses hervorragende Fach war einmal der Dreh- und Angelpunkt der Geisteswissenschaften. Heute hat man es zu einer beinahe nutzlosen Lehre degradiert.

Der Wunsch, sich von der Vergangenheit und all ihren Traditionen loszusagen, hat in vielen westlichen Ländern zu verdeckten Bürgerkriegen geführt. Der Mensch liebt sich selbst nicht mehr. Er liebt weder seinen Nächsten noch das Land seiner Vorfahren. Er hasst seine Kultur und die Werte der Vergangenheit. Man hat unserem religiösen, kulturellen und historischen Erbe, ja unseren eigenen Wurzeln den Kampf angesagt.

Es gibt eine neue Form von kultureller Diktatur und Kolonisation, welche in einem Teil der Bevölkerung Groll erweckt. Dieser Krieg der Werte ist dramatisch. Weil Europa seine christlichen Wurzeln leugnet, fehlt ihm das gemeinsame Fundament. Immer tiefer versinkt es in Gewalt und Kommunitarismus. Am Horizont zeichnen sich bereits Bürgerkriege ab. Die Nationen lösen sich auf, Eigentümlichkeiten verschwinden. Die Bürger flüchten in künstliche Ideale und verwechseln dann ihre Gefühle mit einem Gemeinschaftsprojekt.

Im Namen von Modernität und Fortschritt wird alles niedergebrannt, was an die Vergangenheit erinnert.

Es geht mir nicht darum, wehmütig einer längst vergangenen Zeit nachzutrauern. Doch es ist wichtig, dass die jungen Menschen eine klare Identität haben, dass sie sich als Erben eines großen Vermächtnisses wissen und ihre Geschichte kennen. Ich glaube, dass die Jugendlichen im Abendland sich im Grunde nach einer Welt sehnen, wo nicht jede Generation wieder mühsam bei Null anzufangen braucht. Wir müssen ihnen die Freiheit zurückgeben, auf die Sicherheiten und erfahrungsgesättigten Regeln ihrer Väter zurückzugreifen. Wie mühselig ist es, stets alles neu erfinden zu müssen. Erbe sein, also empfangen dürfen ist auch eine Form von Freiheit.

Heldenhaft im Alltag
Vergnügliches Plädoyer für lässigen Anstand und ritterliche Tugenden
Aber was bietet man uns stattdessen an? Die Verfechter von Gender wollen die Familie zerstören. Die Gender-Theorie strebt sogar noch eine entscheidende weitere Stufe an: Sie entwickelt sich zur Queer-Bewegung. Diese begnügt sich nicht mit der Dekonstruktion des Subjekts; sie ist vor allem an der Dekonstruktion der sozialen Ordnung interessiert. Sie möchte Chaos in die sexuelle Identität und Orientierung bringen, möchte Misstrauen gegen Regeln säen, welche bislang als Erbe und Ausdruck der Menschennatur betrachtet wurden. Letztlich will sie die Kultur und die gesellschaftlichen Bindungen von innen her ummodeln, indem sie den Umgang mit Sexualität völlig verändert.

Johannes Paul II. sprach häufig von einer nihilistischen Leidenschaft der Zerstörung.

Der postmoderne Mensch ergötzt sich an der Zerstörung. Krankhafte Vorstellungen ziehen ihn in ihren Bann. Die moderne Kunst liefert uns hierfür anschauliche Beispiele. Man liebt und lobt das Hässliche. Wie im Flug verbreitet sich der Virus des Abscheulichen; Unverständliches nimmt den Platz der Harmonie ein.

Bewährte Strukturen unserer Gesellschaft werden angegriffen; man verdammt sie zum langsamen Absterben. Ich denke, dass wir mit der Vernichtung des Humanen nun eine neue Schwelle erreichen. Die westlichen Menschen sind fast immer beschäftigt, sie haben einen hellen, doch unruhigen Kopf, sind nie mit sich selbst zufrieden, streben nach ständiger Verbesserung ihrer selbst und der Mitmenschen. Wir müssen ihnen unbedingt helfen, zur Ruhe zu kommen, indem sie demütig, aber beherzt ihre Schwachheit und ihre Grenzen anerkennen. Definiert sich der Mensch durch Aktion und Produktion – oder ist er nicht vielmehr in erster Linie ein kontemplatives Wesen? Der Mensch schafft sich nicht selbst, er empfängt viel als Erbe.

Am Ende unseres Buches Kraft der Stille haben wir betont, wie stark Unrast, Aktivismus und Lärm unsere Zeit kennzeichnen und unser inneres Leben zerstören. Der Lärm ist der größte Feind des Nachdenkens, der Ruhe und der Liebe. Doch heute ist der Lärm selbstverständlich geworden, er gehört zu unserer Umgebung, zu unserer Lebensweise. Er hält uns davon ab, dass wir uns unserem inneren Leben stellen.

Leider gehören auch Selbstmordgedanken schon zum normalen Lebensgefühl…

Der moderne Mensch ist ein unreflektierter Konsument. Der Überfluss und die Anreize der Werbung betören ihn, maßlos zu genießen. Früher oder später gehen ihm die Augen auf, er blickt auf seine jämmerliche Existenz und stellt fest, dass er den Himmel nicht mehr sehen kann. Er ist in einem Teufelskreis gefangen: produzieren, verbrauchen, mehr produzieren und noch mehr verbrauchen.

Der Mensch leidet an materiellem Übergewicht. Doch auf geistiger Ebene ist er so orientierungslos wie ein Landstreicher. Über einen langen Zeitraum hinweg kannte er kein Unglück; das Universum schien ihm voller materieller Versprechungen.

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Der Niedergang unserer Gesellschaft hüllt die Menschen nach und nach in angsteinflößenden Nebel: Die Institutionen, die Kulturen, die geschichtlichen Zusammenhänge verschwinden unaufhaltsam. Wir müssen uns dem Anblick der Ruinen des Forum Romanum aussetzen, um die Endlichkeit der Zivilisationen zu erkennen.

Der Selbstmord des Westens ist dramatisch. Er hat zu viel preisgegeben: Er hat keine Kraft mehr, keine Kinder, keine Moral, keine Hoffnung. Das führt die gesamte Menschheit in eine Sackgasse. Hoffnung auf Überleben gibt es nur noch, wenn der Westen zu dem zurückfindet, der von sich gesagt hat: »Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben« (Joh 14,6).

Das Abendland geht seinem Untergang entgegen, weil die Christen ihre Sendung aufgegeben haben. Sie blicken nicht mehr gen Himmel, sondern sind Geiseln von neuen Paradigmen. Sie passen sich der Welt an. Selbst das Gebetsleben, welches sie doch stärken und nähren, ihnen Ausstrahlung verleihen sollte, wird immer mehr von Show und Sensation geprägt. Zweitausend Jahre hindurch hat das Gebet das Leben der Heiligen und aller Jünger Jesu Christi getragen. Das Gebet ist das einzige große Heilmittel.


Auszug aus: Robert Kardinal Sarah und Nicolas DiatHerr bleibe bei uns denn es will Abend werden. fe-medienverlag, 436 Seiten, 19,80 €


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