Tichys Einblick
Habeck

Socken und Inkubationszeit

Alle zwei Tage könnte sich die Inkubationszeit verdoppeln, sagt Habeck, und andere Dinge, die ihm einfallen, während er Wäsche faltet. Grüne sagen nüchtern Dinge, für die bekäme man in der Kneipe einen Kamillentee serviert und die Autoschlüssel abgenommen.

imago Images/Christian Spiecker

»Ich kenne nichts Ärmeres unter der Sonn’ als euch, Götter!«, so ruft der junge Goethe es im Prometheus dem Himmel entgegen, »Ihr nähret kümmerlich von Opfersteuern und Gebetshauch eure Majestät«, und ich möchte es heute ebenso »denen da oben« zurufen. Goethes Prometheus ist ein Glaubensverlustbekenntnis, und auch heute teilt sich die Bürgerschaft in jene, die sich gläubig und treu um die Kanzlerin scharen – und die Ungläubigen, die nicht an die politischen Götter glauben und doch zugleich hoffen, dass der Götter Zorn an ihnen vorbeigeht.

Apropos Glauben: »Ja, Islamisierung findet statt, nach praktisch allen plausiblen Deutungen des Wortes«, so schrieb ich zur Einleitung meines Essays vom 6. Juni 2018. Im Text legte ich dann zunächst verschiedene mögliche Deutungen des Begriffes vor und prüfte die Frage nach den jeweiligen Bedeutungen.

Wir sind heute weiter, und weil wir weiter sind, sollten wir neue Fragen stellen.

Zur Stärkung der Moral

Ostern fällt dieses Jahr aus, also was den Besuch der Kirche angeht. Wegen eines Virus. Christen können daheim sitzen und neu über die Theodizee-Frage nachdenken, »aktualisiert« quasi: Wenn Gott allmächtig ist, wieso lässt er Menschen etwa ausgerechnet im katholischen Italien qualvoll röchelnd sterben – kann er nicht helfen oder will er es nicht?

Eine Frage, deren »Ob« nicht mehr diskutiert werden muss, sondern das »Wie-weit-bereits«, ist die sachliche Frage nach der Islamisierung. An immer mehr Orten in Deutschland erklingt der Ruf des Muezzins, über Lautsprecher, »zur Stärkung der Moral«, wie es heißt (siehe etwa tichyseinblick.de, 6.4.2020). Viele Moscheen stehen unter Aufsicht der Türkei, also Erdoğans, welcher Moscheen einst romantisch mit »Kasernen« verglichen hatte (siehe auch meinen Essay vom 30.9.2018).

Wenn Erdoğan wie ein Eroberer auftritt, und zum höchsten Fest der Christen die Kirchen leer bleiben, während die Moscheen zum Gebet rufen, wäre dann bereits der Zeitpunkt gekommen, sich zu informieren, was die Pflichten und Rechte eines guten »Dhimmi« sind?

Vielleicht nicht so schnell: das Thema ist tatsächlich breiter, umfassender und wohl auch verschlungener.

Socken und andere Viren

Die Gebetsrufe von den Moscheen durch gewisse Viertel in Deutschland hallen an einem Ort wieder, den man nicht zwingend und nicht sofort erwartet hätte: In einer Talkshow mit einem Herren, der sogar mit den Löchern in seinen Socken die weichen Journalistinnen zum Schmelzen zu bringen vermag – Herrn Habecks Auftritt im Abendprogramm des Staatsfunks.

Nachdem sie wochenlang hochgefährliche Verharmlosung betrieben und dann, wie zu erwarten, mit der Regierung mitgeschwenkt sind, feuern ARD und ZDF aktuell gefühlt »aus allen Rohren«, zumindest aus den ganz großen, und sogar die Sonntags-Abend-Talkshow wird doppelt besetzt, einmal mit Maybrit Illner (SED ab 1986), und dann mit der Merkel-Interviewerin Anne Will.

Am 5. April 2020 trat Staatsfunk-Darling und Grünen-Chef Habeck bei Frau Illner auf, und er durfte Erklärungen und Einordnungen zur Krise treffen, die in jeder Dorfkneipe, wenn man denn noch in Kneipen gehen dürfte, ob ihrer Oberflächlichkeit und schlichten Unsinnigkeit verlacht würden, auch nach der fünften Bio-Hopfen-Kaltschale. Kostprobe: »… ist ja nicht die Alternative, so weiter wie vorher, und die so schön gezeigte Kurve, geht auf einmal wieder durch die Decke, oder in diesem Fall fällt sie ab, und die, mpft, und die, mhmhm, die Inkubationszeit verdoppelt sich wieder alle zwei Tage« (zdf.de, 5.4.2020 – Randnotiz: Wie einige Bürger nachgerechnet haben, z.B. @rasenspiesser, entspräche die Inkubationszeit damit innerhalb von weniger als drei Wochen in etwa der durchschnittlichen Lebenserwartung – Politiker sind wirklich, wirklich schlecht in Exponentialrechnung).

Über Duisburg erklingt der Ruf des Muezzin. Im Staatsfunk erklingt Herr Habeck. Die Grünen pendeln in den Umfragen um die 20 Prozent. Man darf bei allen Religionen fragen, ob die die Krise verschärfen oder abmildern werden.

Absicht, Macht, Reduktion

Zu viele Denker der Vergangenheit haben die Ereignisse ihrer Zeit als Anlass für Hoffnung auf den Siegeszug der Vernunft gesehen, als dass ich heute darauf setzen würde, dass nach der Coronakrise ein neues Zeitalter der Vernunft und geistigen Klarheit einkehrt. Und dennoch… nicht alles wird »wie vorher« sein.

In der Coronakrise werden alte wie auch neue Religionen, sagen wir mal: »Neu bewertet.« – Wer einen trockenen Husten entwickelt, ruft meist nach einem Arzt, nicht nach einem Gottesmann. Im Fernsehen werden heute Mediziner interviewt, nicht autistische schwedische Mädchen (die eben noch mit Jesus verglichen wurden und jetzt plötzlich keinen mehr interessieren).

Religionen setzen funktional auf den »Rausch der Masse« (und wenn der fehlt, dann zumindest auf die Überwältigung durch Architektur und Ritus); Religionen, wie auch Grüne und »Woke-Sein« (pop-kulturelle Variante politischer Korrektheit) appellieren an Gruppengefühle, ans »Wir sind mehr!« und andere basale, emotionale Trigger – die Zusammenkunft in der Masse ist aber gerade durch das Coronavirus verboten, und im Angesicht der realen Möglichkeit, Tage und Wochen (vielleicht die letzten Tage überhaupt) auf der Intensivstation zu verbringen (so man dort überhaupt einen Platz bekommt), interessieren sich die Menschen spürbar weniger für »gefühlte Wahrheit« und weit mehr für »wahre Wahrheit«, für Wissenschaft und »Übertragungswege«.

Wissenschaftliches Denken beginnt mit den Fakten und gelangt von diesen zur Prämisse. Dogmatisches Denken beginnt mit der Absicht (Macht) und dem Gefühl (auch das häufig mit Macht verbunden), und aus dem Gefühl leitet es Handlungsanweisungen, samt Ad-Hoc-Welterklärungen ab.

Zu Beginn der Coronakrise versuchten es Regierung und Staatsfunk noch mit den üblichen Dogmen (»alles, was schlecht ist, kann nur irgendwie die Schuld von ›Rechten‹ sein«) – bis es plötzlich nicht mehr funktionierte.

Eine in rationalen Dingen ungeübte Öffentlichkeit soll auf rationales Denken umgepolt werden, von Journalisten und Politikern, die seit nun Jahrzehnten mit wenig mehr außer Emotionalisierung und Reduktion aufs Reden übers Gefühl operieren.

»Geht nicht in Gruppen heraus!«, ruft die Politik, und Bürger verstehen es nicht, und sie widersprechen: »Habt ihr nicht eben noch gesagt, dass alles wahr und richtig ist, was im »Kampf gegen Rechts« geschieht, egal was die Fakten sagen – und nun sollen wir tun, was die Rechten eben noch forderten?«

Dogmenkrise

In der Krise offenbart sich der wahre Charakter (siehe auch Essay vom 17.3.2020), und in der Krise wird manches glasklar, was vorher im Nebel des alltäglichen Unsinns verschwommen erschien.

Natürlich hoffe ich, dass auch nach der Krise etwas vom Bewusstsein bleibt, welche Anti-Rolle diverse Dogmen während der Krise spielten – ich bin aber nicht bereit, darauf zu wetten, dass diese Erkenntnis sich wirklich durchsetzt.

Man würde meinen, dass es schon vorher klar gewesen sein sollte, doch nein, es ist neu und für viele noch immer überraschend: In der Krise haben Dogmen wenig zu bieten – sie machen vielmehr nur Probleme. Ob ein Grüner Parteichef, der im Staatsfunk wirren Unsinn stammelt, oder ein Religionsführer, der die Menschen zur Versammlung zusammenruft (aber dem ungläubigen Staat auf die Augen drücken wird, wenn sie krank werden) – Dogmen helfen gar nichts bis wenig, aber in der Krise können sie neue Probleme schaffen und die Lösung bestehender Probleme unnötig verzögern.

In Berlin, so hört man, klagt eine katholische Gemeinde gegen das Gottesdienstverbot (domradio.de, 5.4.2020).

Der diesjährige Ramadan, diesmal in der Zeit der Ausgehverbote, wird eine Prüfung sein, wessen Recht in Deutschland gilt, sprich: wer der »Stärkere« ist.

Menschen nach meinem Bilde

Im Text »Wer half mir wider der Titanen Übermut?« berichtete ich davon, wie unser Töchterlein auf der Weihnachtsfeier dereinst Goethes Absage an die höheren Mächte deklamierte.

Ich sehe absehbares Versagen der Dogmen in der Krise, und die Zeilen gehen mir heute neu durch den Kopf – also habe ich das Gedicht für Sie selbst aufgenommen (siehe etwa YouTube und Spotify, aber auch meinen neuen Podcast generell).

»Hier sitz’ ich, forme Menschen nach meinem Bilde«, so schließt der große Goethe den Prometheus, »ein Geschlecht, das mir gleich sei, zu leiden, zu weinen, zu genießen und zu freuen sich, und dein nicht zu achten – wie ich!«

Ach, der Goethe darf das sagen, unsereins wäre schon froh, wenn wir uns selbst formen und selbst im Griff hätten.

In der Krise ziehen wir ganz selbstverständlich eine Linie zwischen Ratio und Dogmen, zwischen Vernunft und Glaubenssätze.

Zumindest selbst, zumindest im Privaten wäre es eine gute Schule, wenn wir auch nach der Krise rational blieben.

»Wähntest du etwa«, so fragt Goethe gen Himmel, »ich sollte das Leben hassen, in Wüsten fliehen, weil nicht alle Blütenträume reiften?« – Nein, in Wüsten sollten wir nicht fliehen (wenn auch in »Innenhöfe«, was aktuell ja sogar vorgeschrieben ist!), doch das Bewusstsein dafür, dass Blütenträume nicht reifen, dass am Ende die Realität gewinnt, und dass die Realität wenig Humor aufweist, dieses Bewusstsein sollte bleiben.

»Kinder und Bettler«, sind es, so Goethe, die den Göttern noch ihren Glauben schenken, »hoffnungsvolle Toren«. – Nun, nach aktuellen Umfragen würden die »hoffnungsvollen Toren« wieder die Wahl entscheiden.

Nur unser Verstand, nur die Arbeit unserer Hände und unseres Verstandes können uns »wider der Titanen Übermut« retten. Derzeit schwanken einige Titanen ja erschreckend heftig – es liegt an uns, nicht darunter zu liegen, wenn sie umfallen.

Den Kopf rechtzeitig wegzuziehen, wenn die Titanen umfallen – das ist doch immerhin ein Ziel, das ist etwas, wofür sich die Mühe lohnen sollte!


Dieser Beitrag erschien zuerst auf dushanwegner.com

Dushan Wegner (geb. 1974 in Tschechien, Mag. Philosophie 2008 in Köln) pendelt als Publizist zwischen Berlin, Bayern und den Kanaren. In seinem Buch „Relevante Strukturen“ erklärt Wegner, wie er ethische Vorhersagen trifft und warum Glück immer Ordnung braucht.

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