In den letzten Tagen schlugen einmal mehr die Wogen zur Einordnung der Straftat von Hanau hoch. Nachdem mehrere große Tageszeitungen und die Tagesschau gemeldet hatten, „Nach Erkenntnissen der BKA-Ermittler soll Tobias R. keine typisch rechtsextreme Radikalisierung durchlaufen haben“, erfolgte kurze Zeit später das Dementi.
Dabei hatte sich bereits zwei Tage nach der Tat, am 21.02.2020 Alice Echtermann von „Correctiv“ mächtig ins Zeug gelegt. Im Kampf gegen Fake-News las sie aus der Glaskugel und nahm das Ermittlungsergebnis des Bundeskriminalamtes vorweg:
„(…) verbreitete sich das Narrativ, der Täter sei psychisch krank und kein Rechtsextremer, die Tat sei deshalb kein rechter Terror. Dem widersprechen die Aussagen der Behörden. Bundesinnenminister Horst Seehofer bezeichnete die Tat am 21. Februar als „rassistisch motivierten Terroranschlag“ (Youtube-Video ab Minute 0:10).“
Der MDR berichtete am gleichen Tag exakt das Gegenteil: „Mutmaßlicher Schütze von Hanau war offenbar psychisch schwer krank. BKA-Präsident Münch spricht von schwierigen psychotischen Krankheit.“
Fake-News des BKA-Präsidenten Münch und des öffentlich-rechtlichen Senders MDR? Wohl kaum.
Der Streitgegenstand über die Deutungshoheit des tragischen Geschehens, wurde schon kurz nach der Tat entschieden, der Täter könne nur ein Rechtsextremist sein. Nach der medialen Rolle rückwärts ließ das Dementi nicht lange auf sich warten. Die Erkrankung spielt inzwischen keine tragende Rolle mehr:
Was war zuerst da, Huhn oder Ei, Erkrankung oder Rechtsextremismus?
Tobias Rathjen soll nach Presseberichten in der Vergangenheit mehrfach Schreiben an verschiedene Behörden, darunter die Bundesanwaltschaft, geschickt haben, weil er sich von Geheimdiensten verfolgt fühlte. Eine Reaktion, Maßnahmen oder Sanktionen der Adressaten sind der Öffentlichkeit bisher nicht bekannt geworden, mit anderen Worten: Es gab mutmaßlich keine, offensichtlich wurde er als Spinner abgetan. Behörden und sich engagierende Einzelpersonen erhalten viele solcher Schreiben. Daraus tatsächliche Bedrohungslagen abzuleiten, ist sehr schwierig.
Unmittelbar nach der Tat begann der Streit darüber, ob ein rechter Extremist, ein psychisch Kranker oder beides die Morde begangen hat. Nach den Umständen, die recht schnell bekannt geworden sind, musste eine schwere psychische Erkrankung als Tatursache dringend in die Ermittlungen einbezogen werden.
Jeder erfahrene Polizeibeamte kennt das Phänomen. In der harmlosen Variante kommt ein Bürger auf die Wache, der felsenfest behauptet, dass sein Kugelschreiber von einem Geheimdienst (KGB, CAI, BND etc.) verstrahlt worden wäre, dass ihn dieser beobachten würde und durch ein schikanöses Stechen in der Lendengegend oder im Kopf piesacken würde. Dann nimmt der erfahrene Beamte kopfnickend und verständnisvoll das Corpus Delicti an sich, geht damit zur Entstrahlungsecke, hält vielsagend den Gegenstand eine gewisse Dauer in diese Richtung und bringt die vermeintliche Tatwaffe, natürlich entstrahlt, zum Besitzer zurück. Damit ist das Problem zufriedenstellend für alle Seiten gelöst. Eine gute Tat für den sozialen Frieden.
Wir leben in einer Gesellschaft, die sich immer mehr individualisiert, in der Vereinsamung und Ausgrenzung zunehmen. Einige Menschen, die gesundheitlich eine persönliche Disposition mitbringen und sich zusätzlich ausgegrenzt und damit gesellschaftlich isoliert fühlen, können auch an diesen sozialen Gegensätzen schwer erkranken. Schizophrenie, Psychopathie und Substanzmittelmissbrauch erhöhen die tödlichen Gefahren für den Betroffenen selbst auf der einen- und für das Umfeld auf der anderen Seite. Diese Personen unterliegen einem deutlich erhöhten Risiko, da sie in der Anzahl sowie Intensität von Gewalthandlungen deutlich hervortreten.
Statistisch gesehen sind psychisch erkrankte Personen tatsächlich nicht gefährlicher als der Durchschnitt der Bevölkerung. Dabei ist die häufigste unnatürliche Todesursache der Suizid; 90 Prozent dieser Suizidenten gelten als psychisch krank (PDF Punkt 5.2. Suizidalität, S. 70). Andere Personen fallen nie als Gewalttäter auf, sie schädigen sich selbst, vereinsamen, verwahrlosen, verletzen sich oder erkranken aufgrund ihrer Lebensweise und sterben. Aber diese Zahl gehört auch dazu: Nach einer schwedisch-amerikanischen Studie waren in Schweden in einem Untersuchungszeitraum von acht Jahren fast ein Viertel (141 von 615 Ermordeten) psychisch krank. Die Wissenschaftler Crump und Sundquist beispielsweise konstatierten für die Getöteten ein vermindertes Gefahrenbewusstsein aufgrund ihrer krankheitsbedingten kognitiven Einschränkungen. (Asmus Finzen)
Nach einer finnischen Studie ist die Wahrscheinlichkeit, als Schizophrener für ein Tötungsdelikt verurteilt zu werden, achtmal höher, nach einer australischen Untersuchung zehnmal höher als der Durchschnitt der dortigen Bevölkerung. Nach amerikanischen Studien betrug der dortige Anteil an gewalttätigen Verhaltensweisen bei Schizophrenen acht Prozent, kam ein Drogenmissbrauch hinzu, 30 Prozent gegenüber zwei Prozent zur übrigen Bevölkerung. Überhaupt ist zu sagen, dass vom Substanzmissbrauch die höchste Anzahl solcherart Delikte ausgeht.
Personen, die paranoid sind, können nicht mehr mit den Maßstäben gesunder Personen in ihren Handlungen bewertet werden, mögen sie noch so brutal und aufsehenerregend sein.
Diese Zusammenhänge hätten bei der Einschätzung der furchtbaren Tötungen in der öffentlichen Wahrnehmung von Beginn an einbezogen werden müssen. Ab einer bestimmten Erkrankungsintensität gibt es kein „bisschen irrational“ mehr, genauso wenig, wie es kein „wenig Schwanger“ gibt. Viele Polizeibeamte haben diesen Irrtum mit ihrem Leben bezahlen müssen, ebenso wie psychisch Kranke, die bei polizeilichen Einsätzen selbst getötet wurden. Menschen mit einer Schizophrenie werden sich immer schneller verfolgt, bedrängt und bedroht fühlen als der sogenannte Otto Normal. Polizeibeamte, die diesen Umstand nicht bei ihrer Eigensicherung auf dem Schirm gehabt haben, wurden schwer verletzt oder verloren ihr Leben. Solche tragische Beispiele gibt es leider mehr als genügend. Auch hierbei wird oftmals heftig gestritten, haben Polizeibeamte überreagiert oder konnte der Täter seinen Angriff mit einem Messer nicht rational steuern? Dann wird regelmäßig schnell zugunsten des psychisch Erkrankten Partei ergriffen. Der polizeiliche Fortbildungsstand zum Umgang mit psychisch Kranken ist in den Ländern sehr unterschiedlich zu bewerten. Währenddessen die bayerische Polizei hierbei als vorbildlich zu bewerten ist, gab es zum Beispiel in Brandenburg jahrelange Versäumnisse (Steffen Meltzer, Deutsche Polizei, S. 12 bis 24: „Drei Ermordete, immer wieder „Bewährung“ – Fatale Gutachten bei Intensivtätern“).
Der Beitrag enthält Ausschnitte aus dem Buch „Ratgeber Gefahrenabwehr – So schützen Sie sich vor Kriminalität – Ein Polizeitrainer klärt auf“ und aus seiner Veröffentlichung: „Die Gefahr aus dem ‚Nichts‘ – Der Umgang mit gefährlichen oder instabilen Personen im polizeilichen Einsatz“, Steffen Meltzer, Titelstory Bundesausgabe Deutsche Polizei 01/2015, S. 4 – 9
Hier bekommen Sie umgehend Hilfe:
Wenn Sie selbst depressiv sind, Selbstmord-Gedanken haben, kontaktieren Sie bitte die Telefonseelsorge (www.telefonseelsorge.de). Hier finden Sie rund um die Uhr Ansprechpartner.
Unter der kostenlosen Hotline 0800 – 111 0 111 oder 0800 – 111 0 222 erhalten Sie Hilfe von Beratern, die Auswege aus schwierigen Situationen aufzeigen können.
Steffen Meltzer, Autor von Mobbing! Ursachen, Schutz und Abhilfe