Unter der Überschrift: „Rassismus 871 Übergriffe auf Muslime in Deutschland in 2019“ berichtete Spiegel Online am 28. März 2020 über das Ergebnis einer kleinen Anfrage der Linkspartei-Abgeordneten Ulla Jelpke zu Übergriffen gegen Muslime im Jahr 2019.
Die Zahl der Übergriffe lag 2019 etwa so hoch wie 2017 und 2018, es gab also keine Steigerung. Die Online-Ausgabe des Spiegel schrieb deshalb in der Unterzeile:
„Die Zahl der Übergriffe auf Muslime konnte 2019 das dritte Jahr in Folge nicht gesenkt werden. Inzwischen geht die Polizei stärker gegen Rechtsextreme vor.“
Bei den meisten der 871 Übergriffe, die die Bundesregierung zählte, handelte es sich um verbale Attacken. In 33 Fällen wurde Muslime verletzt. An dieser Stelle des Textes schreibt Spiegel Online etwas, was in der Antwort der Bundesregierung auf Jelpkes Anfrage nicht steht, was nicht stimmt – aber dem Text mehr Dramatik gibt:
„Bei einem Attentat auf eine Synagoge in Halle im vergangenen Oktober wurden ebenfalls zwei Menschen aus islamfeindlichen Motiven getötet. Der Täter hatte zwei Menschen an einem Döner-Imbiss erschossen, nachdem er vergeblich versucht hatte, in die Synagoge einzudringen.“
Das ist, wie der Spiegel leicht hätte herausfinden können, falsch. Richtig ist, dass der Täter Stephan Balliet, nachdem er es bei seinem Anschlagsversuch am 9. Oktober 2019 nicht geschafft hatte, in die Synagoge einzudringen, aus Wut darüber die Passantin Jana L. , die in dem Moment zufällig auf der Straße vor der Synagoge lief, aus kurzer Distanz von hinten erschoss. Balliet hatte diese Szene wie den gesamten Attentatversuch gefilmt, live gestreamt und damit dokumentiert. Nach dem Mord an Jana L. erschoss er in – nicht, wie der Spiegel schreibt, an – einem nahegelegenen Dönerladen das ebenfalls zufällig ausgewählte Opfer Kevin S.. Offensichtlich versucht das Hamburger Blatt hier den Kurzschluss ’Opfer am Döner-Imbiss gleich islamfeindliches Motiv’. Jana L. hatte mit dem Ort Döner-Imbiss nichts zu tun, in ihrem Fall handelt es sich bei der Unterstellung „islamfeindliches Motiv“ um eine reine Erfindung.
Darauf, dass der Täter annehmen konnte, der als Gast in dem Dönerladen anwesende Kevin S. sei Muslim, gibt es nicht den geringsten Hinweis. In diesem Fall ist die Annahme eines islamfeindlichen Motivs grundlose Spekulation.
Interessanterweise verzichtet der Spiegel völlig darauf, die wenig spektakulären Zahlen aus der Antwort der Bundesregierung einzuordnen – beispielsweise durch einen Vergleich mit antijüdischen Straftaten. Gegen Juden gab es allein im ersten Halbjahr 2019 laut Bundesinnenministerium 442 Übergriffe. Im Jahr 2019 kam es zu 62 hassgetriebenen Gewaltdelikten gegen Juden, bei denen 43 Opfer verletzt wurden. Es gab also 2019 deutlich mehr gewalttätige Übergriffe auf Juden als auf Muslime in Deutschland. In Deutschland leben nach Schätzungen mindestens fünf Millionen Muslime, aber nur etwa 100.000 Juden. Im Jahr 2018 zählten die jüdischen Gemeinden in der Bundesrepublik 96.195 Mitglieder.
Jede Gewalttat ist selbstverständlich zu verurteilen und entsprechend zu bestrafen. Aber als Bevölkerungsgruppe sind Muslime nicht überdurchschnittlich bedroht. Juden dagegen schon. Ein Zufallsopfer des gescheiterten Synagogen-Anschlags von Halle nachträglich zu einem Opfer von antimuslimischer Gewalt umzuschreiben – das ist eine bemerkenswerte Fehlleistung eines Mediums, das nach dem Fall Relotius doch Besserung gelobt hatte.