Der griechische Hang zur Gastfreundschaft ist bekannt. Über dem offiziellen Grenzübergang am thrakischen Grenzfluss Evros steht es groß, in antikisierenden Lettern und in Blau und Weiß: »Griechenland – Seid willkommen«. Doch alles endet – auch die Zeiten, in denen man dem schwierigen Nachbarn im Osten unbesehen ein solches »Willkommen« zurief.
Es ist ein merkwürdiger, ein abgründiger Zustand, in den der türkische Präsident Europa versetzt hat. Der Dialogpartner der EU gab ganz offen zu, die im Lande anwesenden Migranten, die mehrheitlich nicht etwa aus Syrien, sondern vor allem aus Afghanistan, Pakistan, daneben auch aus Marokko oder Somalia stammen, nicht mehr von der Weiterreise abhalten zu wollen. Die Botschaft des Möchtegern-Sultans mit Eroberungsgelüsten in Syrien und andernorts hat zu einem Massenansturm auf den griechischen Grenzübergang von Kastaniés geführt.
Der zur Grenze geeilte Bürgerschutzminister Michalis Chrysochoidis (Pasok) stellte fest: »Die Migranten sind nicht von alleine hier hergekommen. Die Türkei weist sie aus, schiebt sie ab und benutzt sie.« Man werde niemanden ohne gültige Papiere einreisen lassen. »Griechenland hat Grenzen, Europa hat Grenzen. Und wir Griechen schützen unsere Grenzen.« Noch vor einer Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates verkündete Premierminister Kyriakos Mitsotakis die Aussetzung des Asylrechts für einen Monat, das Land sehe sich einer asymmetrischen, hybriden Bedrohung gegenüber. Kurz darauf kamen die Spitzen der Europäischen Union an den Evros. Ursula von der Leyen verkündete, die griechischen Grenzschützer seien nun »der Schutzschild Europas«. Der kroatische Premierminister Andrej Plenković sprach Mitsotakis, stellvertretend für die Mitgliedstaaten, seinen uneingeschränkten Dank aus.
Mittlerweile hat auch der Bundesnachrichtendienst herausgefunden, dass die Unruhen an der Evros-Grenze von türkischen Agenten gesteuert und angefacht wurden, wie der »Spiegel« berichtete. So ist nun quasi offiziell aus deutscher Geheimdienstperspektive bestätigt, dass türkische Behörden »Flüchtlinge in Busse gezwungen und sie ins Grenzgebiet gefahren« haben. Hinweise, dass dies so war, gab es in der Tat von Anbeginn der Geschehnisse. Griechische Kommentatoren reagierten freilich eher ironisch auf den »Spiegel«-Bericht: Sagt mir etwas Neues! Immerhin ist so zum Teil erklärt, warum an die fünf Prozent der aufgegriffenen illegalen Grenzübertreter türkische Staatsbürger waren.
Befürchtungen, Mut und Euphorie
Wie man inzwischen weiß, hat der türkische Innenminister seinem griechischen Amtskollegen schon im November letzten Jahres mit der einseitigen Grenzöffnung und zigtausenden Immigranten gedroht. Die Griechen hatten daher ausreichend Zeit, sich für den Angriff auf ihre Grenzen zu rüsten. Erdoğans Motive werden dabei immer vielgestaltiger, je länger man seine Lage erwägt. Da wären der syrische Feldzug und die türkischen Gefallenen dort, das Spähen auf EU-Gelder, die landeseigene Wirtschaftskrise, von der abgelenkt werden soll, Erdgasinteressen und territoriale Ansprüche im östlichen Mittelmeer, vielleicht noch anderes mehr … Zuletzt schienen Gespräche mit Merkel und Macron sowie die auch in der Türkei offen ausgebrochene Pandemie den türkischen Präsidenten nachgiebiger zu machen. Doch zunächst änderte sich nichts an der Grenze.
Inzwischen hat auch die Rapid Border Intervention »Evros 2020« der EU-Grenzschutzagentur Frontex ihre Arbeit begonnen. Eine Woche nach der griechischen Anfrage kamen 100 europäische Grenzpolizisten in Kastaniés an. Zudem schickten Polen, Österreich und Zypern eigene Verbände. Daneben wird der Küstenschutz durch eine zweite Mission »Aegean 2020« unterstützt. In diesem Rahmen wollen die EU-Mitgliedsländer unter anderem Schnellboote, Überwachungsflugzeuge und Fahrzeuge mit Wärmebildkameras bereitstellen. Der Grenzzaun wurde stellenweise durch Betonelemente verstärkt.
Griechische Medien berichteten, dass auch die Türken und wohl die Migranten selbst Tränengas eingesetzt haben. Die Belagerer versuchten, den Grenzzaun zu zerschneiden, während ihnen die türkischen Einsatzkommandos aus dem Hintergrund Schutz gaben, indem sie Tränengas auf die griechische Seite abfeuerten. Daneben bauten die Migranten sich Leitern, drückten mit Eisenkonstruktionen gegen den Zaun, warfen Molotow-Cocktails. Die Griechen setzten zur Abwehr der anstürmenden Gruppen den zum Wasserwerfer umgebauten Leopard-1A5 »David« ein. Bei anderer Gelegenheit setzten die Migranten einen Baum in Brand, um den Zaun niederzureißen. Ein herunterfallender Ast beschädigte die Grenzsicherung, aber die Grenzschützer konnten den Bereich rasch isolieren und wieder unter ihre Kontrolle bringen.
Krise auf Abruf
Hinzu kamen neue Taktiken. So war eines schönen Tages der Mobilfunk an der Evros-Grenze lahmgelegt. Die griechischen Soldaten, die dort über eine Handy-App miteinander kommunizieren, wären im Krisenfall ohne die Möglichkeit zur Verständigung. Offenbar hatte man von türkischer Seite die Sendeanlagen mit Signalen bombardiert und so die betreffenden Mobilfunksender blockiert. Kommunikation auf Distanz wird dabei in der noch vor uns liegenden Kampfphase von entscheidender Bedeutung sein. Denn die Griechen und ihre Frontex-Partner müssen ständig auf der Hut vor neuen Operationen der Türken und Migranten sein, die nun nicht mehr am offiziellen, pro forma geschlossenen Grenzübergang drohen, sondern auf einer längeren Strecke der Grenze und des Evros-Stromes.
Doch auch für die Griechen, so versicherte Premier Mitsotakis umgehend, ist die Schlacht damit nicht zu Ende. Zwei Tage später besuchten die Minister für Verteidigung und Bürgerschutz den Evros. Verteidigungsminister Nikolaos Panajotopoulos stellte fest, die griechischen Streitkräfte blieben in Alarmbereitschaft und hätten nun Zeit, sich auf alle kommenden Herausforderungen – mit immer besserer Ausrüstung – vorzubereiten. Bürgerschutzminister Michalis Chrysochoidis bestätigte, dass man zusammen mit den europäischen Partnern die griechischen und europäischen Grenzen schützen werde. Dank einer neuen Infrastruktur habe man dies bisher sicherstellen können.
Das europäische »Pearl Harbour«
Flankiert wurde die Grenzbelagerung am Evros durch riskante Bootsmanöver in der Ägäis, illegale Überflüge türkischer Jagdflugzeuge an allen Grenzen. Die EU agiert angesichts einer nach wie vor zugespitzten Lage leider immer noch unklar. Der Professor für internationales Recht und Außenpolitik und Europa-Abgeordnete Angelos Syrigos (Nea Dimokratia) verglich die Art, in der die EU der Lage am Evros begegnet, mit dem Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg: Man stelle sich nur vor, die Japaner bombardieren Pearl Harbour. Die Führung der USA geben eine Erklärung heraus: Wir stehen dem Bundesstaat Hawaii wegen der Vorfälle in Pearl Harbour bei. Wir werden aber auch weiterhin mit Japan zusammenarbeiten im festen Glauben, dass es verstehen wird, was in seinem eigenen Interesse ist. Abschließend stellte der Professor fest: »Leider spricht die EU nicht mit einer Stimme, sondern mit vielen, die zudem von Angst geprägt sind. Man hat anscheinend noch nicht verstanden, was die Stunde geschlagen hat.«
Kritik aus Genf – Loyalität am Evros
Der UN-Menschenrechtsrat hat Griechenland inzwischen aufgefordert, die Abwehr der Migranten an der Grenze aufzugeben und ihnen stattdessen Schutz zu gewähren. Der Sonderberichterstatter für die Menschenrechte der Migranten, Felipe González Morales, kritisierte die Politik der »pushbacks«, also der unmittelbaren Zurückweisung von Migranten an der Grenze. Dies werde unvermeidlich zu Situationen führen, in denen die abgewiesenen Migranten »Tod, Folter, Misshandlung, Verfolgung oder andere irreparable Schäden« erleiden könnten. Allerdings scheint evident, dass den Migranten zumindest in der Türkei nichts dergleichen droht. Das Land geriert sich ja vielmehr als Schutzmacht der Migranten aus aller Welt, auch wenn diese von Erdoğan für seine privaten politischen Interessen und damit für eine Destabilisierung seiner europäischen Nachbarstaaten instrumentalisiert werden.
Die Kritik des UN-Menschenrechtlers González Morales ist insofern vom Feldherrnhügel einer überlegenen Moral formuliert, die weder die Schwierigkeiten der »Asylgewährung« noch die daraus resultierenden Nachteile und Gefahren für die Inländer berücksichtigt. González Morales spricht schlicht pro domo und aus der Perspektive, die dem von ihm repräsentierten Organ seit seiner Entstehung aufgeprägt worden ist. Doch die Geschichte könnte über diese hochgesteckten Ideale bereits hinweggegangen sei.
Doch glücklicherweise haben auch die Grenzschützer am Evros noch loyale Verbündete. Ihr Einsatzleiter am Evros, Chrysovalantis Jalamas, stellte zu Beginn der Krise fest: »Der Evros wird nicht fallen, wir halten Stand. Wir kämpfen zusammen mit Soldaten und Bürgern, um unsere Grenzen am Leben zu erhalten. Es gibt eine große Einmütigkeit und viele Beistandsbekundungen, eine rührende Solidarität.« Die Moral in der Truppe sei auf ihrem Höhepunkt, und daran hat sich – dank einer zu 80 bis 90 Prozent hinter dem derzeitigen Kurs stehenden Bevölkerung – bis heute nichts geändert.
Die Spendenbereitschaft der Griechen für ihre Polizisten und Soldaten kennt kein Ende. Bei ihrer Rückkehr von der Frontlinie erhalten die Grenzschützer immer wieder den spontanen, ebenso aufrichtigen wie leidenschaftlich vorgetragenen Applaus der Bürger. Hier zeigt sich der wache patriotische Sinn der Grenzanwohner wie der Griechen insgesamt, der auch in Liedern und Gesängen zum Ausdruck kommen kann. Das Repertoire geht dabei weit über die Nationalhymne hinaus. In Freud’ und Leid haben die Griechen einen Schatz an Liedern und Gesängen, deren Texte häufig Allgemeingut sind und die griechische Mentalität und Weltsicht gültig ausdrücken. Die Lieder der Griechen bilden so ein Medium für das reale Leben der Nation.