Wenn man in einigen Jahren über diese Tage und Wochen im März 2020 berichtet, was wird dann in den Geschichtsbüchern stehen? Welche Bilder werden dann auf den Fernsehbildschirmen zu sehen sein? Und wird man sagen können, diese Corona-Krise hat die Gesellschaft zusammengebracht, oder wird man konstatieren, dass die große Pandemie den Untergang der Bürgergesellschaft besiegelt hat?
Diese Fragen sind zweifelsohne nicht leicht zu beantworten und keiner, egal was er oder sie auch behaupten mag, niemand kann uns jetzt schon mit Sicherheit die Antworten verraten. Natürlich kann man Prognosen wagen und sich dafür die aktuelle Lage im Land anschauen, so wie auch ich es in der vergangenen Woche bereits einmal in einer Kolumne hier getan habe.
Und eines muss ich dabei, mit großer Zufriedenheit, zugeben: Die Welle der Solidarität war in den letzten Tagen überwältigend und scheint bis heute ungebrochen. Der größte Teil aller Bürger nimmt diesen kräftezehrenden und sehr entbehrungsreichen „Stresstest“ auf sich, nimmt die Vorschriften und Einschränkungen des öffentlichen Lebens positiv auf und erkennt, dass es jetzt an der Zeit ist, gemeinsam füreinander einzustehen. Füreinander einstehen heißt dabei besonders in diesen Tagen auch, die eigenen Freiheiten einzuschränken, um die anderen zu schützen. Ein Schritt, der allen nicht leichtfällt, der auch alte Ängste wiedererwecken kann, der aber unvermeidbar und dringend notwendig ist.
Man sagt ja bekanntlich, Not macht erfinderisch: An vielen Orten sprießen dieser Tage nicht nur die ersten Frühlingsblumen, sondern mindestens genauso zahlreich hervorragende Ideen, wie man in diesen Zeiten zusammenstehen, einander helfen, eben das tun kann, was eigentlich die Bürgerpflicht eines jeden sein sollte: Füreinander einstehen, einander unterstützen, brüderlich zusammen streben nach Einigkeit und Recht und Freiheit.
Die Nachrichten und Erzählungen, die uns von dort erreichen, lassen einen erschaudern: Krankenhäuser, in denen Ärzte innerhalb von Sekunden entscheiden müssen, wer ein Beatmungsgerät erhält, wer damit die Chance bekommt zu leben – und wer nicht. Pflegeheime, in denen zahlreiche Senioren erkranken und ihnen nicht geholfen werden kann, weil die Ausrüstung, das Personal oder die Zeit fehlen.
Bitte verstehen sie mich nicht falsch: Ich möchte unseren europäischen Nachbarn, den Pflegern, Krankenschwestern und Ärzten in diesen krisengebeutelten Regionen unseres Kontinents keinen Vorwurf machen. Eine solche Zurechtweisung kann und will ich mir nicht anmaßen, denn es wäre ein Vorwurf, den keiner in diesen Tagen ernsthaft erheben könnte. Die Pfleger und Ärzte kämpfen jeden Tag um jedes Leben, in einem Wettlauf gegen die Zeit und gegen einen scheinbar unaufhaltsamen Virus.
Jeden Tag riskieren diese Heldinnen und Helden, oftmals selbst Mütter und Väter, ihr Leben, um das anderer Menschen zu retten. Und in diesen Tagen müssen sie viel zu oft und viel zu schmerzhaft erfahren, dass sie viel zu häufig machtlos sind im Kampf gegen das Covid-19-Virus. Zum Trauern bleibt ihnen jedoch keine Zeit, sie müssen weiterkämpfen, weiter versuchen Leben zu retten und vor allem nicht aufgeben, nicht resignieren und vor dem schier nicht zu bewältigen scheinenden Ansturm Erkrankter kapitulieren.
Die Opfer dieses schleichenden System-Kollaps sind vor allem diejenigen, die zu krank oder zu schwach sind, sich gegen das Virus zu stemmen. Es sind vor allem die älteren Mitbürger, die Seniorinnen und Senioren, die jetzt besonders gefährdet sind, die wegen ihres Alters und ihrer körperlichen Verfassung besonders anfällig für eine Ansteckung sind.
Gerade jetzt müssen alle darauf achten, alles tun, um sie zu schützen. Dazu gibt es in unserem Land bereits jetzt zahlreiche Initiativen: Freiwillige übernehmen die Einkäufe der Senioren, holen in ihrem Auftrag Arztrezepte ab, besorgen ihnen Medikamente oder zeichnen Gottesdienste auf, damit auch die älteren Menschen hieran weiterhin teilhaben können.
Besonders die Senioren werden von den Kontaktbeschränkungen schwer und hart getroffen, obgleich es zu ihrem eigenen Schutz dient. Wenn die eigenen Enkel einen nicht mehr besuchen dürfen und man womöglich noch im Altersheim liegt, wo die Einsamkeit einen auch unter normalen Umständen quälen kann, ist der Corona-Stresstest jetzt eine Horrorvorstellung. Zugleich müssen wir aber froh sein, dass unsere Senioren hier gut versorgt werden und es so viele Menschen gibt, die ihnen Hilfe anbieten. Hinzu kommt, dass die sozialen Medien viele neue Kommunikationsmöglichkeiten eröffnen, zum Beispiel ein Videotelefonat zwischen den Großeltern und ihren Enkelkindern.
Dennoch möchte ich an dieser Stelle mahnen: Die Senioren, unsere Urgroßeltern, Großeltern und Eltern, sind es, die uns unser heutiges Leben in Sicherheit und Freiheit, in Frieden und Wohlstand ermöglicht haben. Sie sind es, denen wir das Friedensprojekt Europa, unsere Freiheit und den technologischen und medizinischen Fortschritt zu verdanken haben. Es waren eben diese Menschen, die Deutschland aus den Trümmern des Krieges wiederaufgebaut und zu einer der stärksten Volkswirtschaften weltweit, zu einem respektierten und hochgeschätzten Partner auf der internationalen politischen Bühne und zu unser aller Heimat gemacht haben. Diese Lebensleistung der Senioren verdient allergrößten Respekt. Ich empfinde ihnen gegenüber eine große Dankbarkeit und Ehrfurcht.
Deswegen meine ich: Wir dürfen in dieser schweren Zeit die Seniorinnen und Senioren nicht aus dem Blick verlieren. Sie gehören keinesfalls an den Rand, sondern vielmehr in die schützende Mitte unserer Gesellschaft. Wir müssen mit vereinten Kräften für sie da sein und um jeden Preis verhindern, dass wir ebenso schreckliche Szenen erleben müssen, wie sie beispielsweise Spanien und Italien im Moment erfahren.
Sofern es uns möglich ist, sollten wir darüber hinaus unsere europäischen Freunde in ihren Anstrengungen die Alten, Kranken und Schwachen besonders zu schützen, unterstützen. Die Aufnahme schwer erkrankter Personen beispielsweise aus Frankreich begrüße ich daher ausdrücklich, denn auch die europäische Partnerschaft haben wir unseren Senioren zu verdanken und durch ein aktives Zusammenstehen in Europa, auch in dieser Krisenzeit, zollen wir ihnen Respekt.
Wenn wir uns also in einigen Jahren fragen, wie die Gesellschaft die Corona-Krise gemeistert hat, dann wird nicht allein ausschlaggebend sein, ob sich alle an die Vorschriften und Beschränkungen gehalten haben. Vielmehr noch wird sich unser Einsatz, unser Selbstverständnis als Solidargemeinschaft daran bemessen, ob wir für unsere Alten, für die besonders anfälligen und schwachen gesorgt haben, uns ihrer angenommen und um jeden einzelnen von ihnen gekämpft haben. Ich hoffe, dass wir in einigen Jahren zurückschauen können und sagen werden, ja, wir haben richtig gehandelt, wir haben zusammengestanden und alle Menschen in unsrem Land beschützt, haben um jeden einzelnen mit allergrößter Aufopferung gekämpft.
Denken wir also an diejenigen, denen wir helfen können, für die wir zum Beispiel einkaufen können oder die wir mit dem Auto zum Arzt bringen können. Jeder einzelne von uns kann in diesen Tagen sehr einfach ein Held sein und für andere da sein. Dazu rufe ich Sie alle auf. Denken wir aneinander, geben wir aufeinander, besonders auf unsere älteren Mitbürger, acht und meistern wir gemeinsam die Krise.