Globalisierung und Technisierung des Alltags haben eine nicht enden wollende Beschleunigung allen menschlichen Lebens mit sich gebracht. Aber obwohl der Mensch immer mehr Zeit hätte, zum Beispiel für Kulturelles, für Soziales, für Familiäres, für Meditation, für Lesen, für Bildung, wird ihm die Zeit immer kürzer. Beschleunigung ist zum Götzen, zum Gott Velozifer geworden. Velozifer – es war Goethe, der dieses Kunstwort prägte: „veloziferisch“ – das ist im Lateinischen „velocitas“ für Eile und „lucifer“ für den Gott des Lichts bzw. den gefallenen Erzengel.
Gewiss soll der Mensch etwas machen aus seiner Zeit und sie keineswegs vergeuden. Wahrscheinlich hätte es den Aufstieg Europas nicht gegeben ohne diese Haltung, deren besonders markantes Ergebnis der fleißige Michel ist.
Ja, eigentlich hätten die Leute immer mehr Zeit: Die Lebenserwartung steigt in der westlichen Welt unvermindert an. Die verbindliche Arbeitszeit hat sich in einem Jahrhundert zugunsten der „Frei“-Zeit fast halbiert. Die für einen Produktionsvorgang notwendige Zeit hat sich aufgrund neuer Werkzeuge und Technologien immer mehr verkürzt. Die Informationsbeschaffung hat sich dramatisch beschleunigt. Wir haben pro Familie immer weniger Kinder, um die man sich kümmern muss. Reisen und Transporte dauern nur noch einen Bruchteil der früheren Reisezeit. Denn Globalisierung ist ja auch eine Entfernung von Entfernungen. Wir haben damit einen Gewinn an Zeit.
Wir haben uns einem rasenden Stillstand ausgeliefert und damit den Zustand einer Stagnation durch tatsächliche oder vermeintliche Innovation erreicht. (Joseph Weizenbaum spricht von „Stagnovation“.) Damit sind wir bei einem Zustand angekommen, in dem – wie beim tödlichen Herzflimmern – das hektische Oszillieren von einem totalen Stillstand nicht mehr zu unterscheiden ist. Die Folge ist: Die Gegenwart schrumpft. Das Nächste, das Zukünftige ist schneller da, und wenn es da ist, dann ist es sofort schon Vergangenheit.
Es ist auch falsch, Zeit nur physikalisch als „Leistung ist gleich Arbeit je Zeiteinheit“ zu betrachten. Ebenso falsch ist es, Zeit nur ökonomisch nach dem Grundsatz „time is money“ zu betrachten. Vielmehr sollten wir Zeit gleichberechtigt philosophisch betrachten. Jeder Mensch verfügt dementsprechend nur (!) über ein gewisses Maß an Zeit. Seneca spricht von dem „tempus suum“ eines jeden Menschen. Diese je eigene Zeit – so Seneca – sei des Menschen wichtigstes Eigentum. Wird sie gestohlen, ist sie unwiederbringlich. Sie ist das Einzige, was man nicht verschenken kann (außer indem man andere in Ruhe lässt). Nichts macht zum Beispiel einen Menschen wütender, als wenn Wichtigtuer und Querulanten ihm Zeit rauben.
Und da kommt „Corona“ und verpasst – oder stiehlt – uns ungebeten und ungefragt Zeit. Vermeintlich verlorene Zeit, Zeit zum Totschlagen. Wie wir damit umgehen, ist eines jeden Einzelnen Entscheidung und Verantwortung. Ein kreativer Umgang mit unvermittelt geschenkter Zeit ist gefragt, zumindest ein Nachdenken darüber.
Zeit haben heißt Weile haben. Eine solche Weile kann kurz sein, als Weilchen ist sie etwas durchaus Nettes, und sie kann lang sein. Als lange Weile (Langeweile) kennen wir sie in zwei Ausprägungen: als niedere und als hohe Langeweile.
Niedere Langeweile – davor müssen wir uns bewahren, denn niedere Langeweile ist ätzend, macht aggressiv („Corona“ wird die Zahl an Familiendramen steigern), vermittelt das Gefühl der Verlorenheit, „vermittelt“ nicht selten ein Sinnvakuum. In der Folge kann sich eine schmerzliche Selbstaufmerksamkeit bis hin zur Hypochondrie einstellen. Es kann sich daraus unter anderem ein zielloser, sozial-„medialer“ Konsumismus ergeben. Folge: „Wir amüsieren uns zu Tode“, wie Neil Postman in seinem Buch gleichen Titels nachwies.
Es gibt daneben die „hohe“ Langeweile, die den Menschen erst zum Menschen macht. Voltaire wusste: Würden sich Affen langweilen, wären sie Menschen. Hohe Langeweile kann eine kreative Kraft sein, weil das Neue und das Wesentliche damit eine Chance erhalten. Deswegen braucht der Mensch neben der „vita activa“ die „vita contemplativa“, das Zurücklehnen, die Faulheit; das hat etwas enorm Konstruktives.
Viele Erfindungen der Menschheit gäbe es auch nicht, wenn die Menschen aus Faulheit nicht Erfindungen gemacht hätten, die ihnen die Arbeit erleichtern und die das Faulsein ermöglichen; man denke an Roboter oder Haushaltsautomaten.
Nennen wir das Ausleben einer höheren Langeweile Muße. Solche Muße ist schöpferische Gestaltung freier Zeit. Solche „hohe“ lange Weile stand womöglich schon an der Wiege der Menschheit. Laut Soeren Kierkegaard schufen die Götter den Menschen, weil sie sich langweilten und weil sie sich belustigen wollten. Und Adam bekam aus seiner Rippe Eva geschaffen, weil er sich sonst gelangweilt hätte.
Noch einen Schritt weiter: Ja, es gibt ein Recht auf Faulheit! Paul Lafargue kennt heute kaum noch jemand. Entreißen wir diesen französischen Arbeiterführer (1841 – 1911) trotz seines tragischen Endes kurz dem Vergessen. Lafargue schrieb nämlich 1883 ein Pamphlet mit dem Titel „Recht auf Faulheit“. Darin finden sich so poetische Sätze wie: „O Faulheit, Mutter der Künste und der edlen Tugenden, du Balsam für die Schmerzen der Menschheit.“ (Lafargue war der Schwiegersohn von Karl Marx. Er endete zusammen mit seiner Frau im erweiterten Suizid. Die Grabrede hielt ein gewisser Lenin.)
Natürlich ist bekannt, dass die Trägheit des Herzens eine der sieben Todsünden ist und dass laut Volksmund Müßiggang aller Laster Anfang ist. Dennoch sei eine Lanze gebrochen für die Faulheit. Auch in Zeiten von „Corona“. Also Finger weg von der (kreativen) Faulheit! Sie ist oft ein letztes Ich-Fenster, aus dem wir – noch unbeeindruckt vom „chillen“ und „entertainment“ – in die Welt schauen können. Deshalb sollten die Menschen jetzt zur Notbremse greifen und ihr Da-Sein ent-schleunigen, damit es kein bloßes Bis-Sein, kein bloßes Schielen auf Fristen und Termine wird. Und deshalb sollte diese Notbremse auch über „Corona“ hinaus griffbereit sein.
Für die These, dass der Mensch lange Weilen braucht, gibt es ansonsten hochkarätige Begründungen: Die gehirnphysiologische Begründung lautet: Der Mensch braucht den Schlaf, und die Geschwindigkeit der Abläufe im Gehirn ist nicht manipulierbar – allenfalls in Grenzen mit Drogen. Das heißt: Das Denken lässt sich nicht maßgeblich beschleunigen. Sodann die lernpsychologische Begründung: Das Neue braucht seine Zeit, damit es aus der Flüchtigkeit des Kurzzeitgedächtnisses in die Dauerhaftigkeit des Langzeitgedächtnisses hinübergelangt. Solches Lernen ist ein Schaffen von Redundanz, denn bislang Neues wird durch Lernen zum Überflüssigen – deshalb zum Überflüssigen, weil ich es dann ja weiß.
Das ist kein Plädoyer, faul zu sein und sich zu langweilen. Nein, das ist ein Plädoyer für ein Recht auf lange Weile – allerdings nur für den, der vorher fleißig war. Dann ist Müßiggang Trägheit mit Sinn. Kurz: Faulheit ist das Privileg der Fleißigen.
Auf Maß und Mitte kommt es also an: Nur zu „powern“ geht nicht, sonst ist man bald ausgebrannt. Nur zu „relaxen“ geht ebenfalls nicht, sonst verblödet man. All diese Besinnung notfalls erzwungen durch „Corona“.
Schließen wir mit zwei Aphorismen zum Nachdenken über „Zeit“ in Zeiten von „Corona“: In der „Fröhlichen Wissenschaft“ schreibt Friedrich Nietzsche (1844 – 1900) den Satz: „Unsere größten Stunden, das sind oft nicht unsere lautesten, sondern unsere stillsten.“ Und von Ödön von Horváth (1902 – 1938) stammt der Satz: „Ich bin eigentlich ganz anders, aber ich komme so selten dazu.“
Die reale Erfüllung dieser Gedanken muss ja nicht fünfzig Jahre dauern wie die Realisierung einer Liebe im 1985 erschienenen Roman „Die Liebe in den Zeiten der Cholera“ (El amor en los tiempos del cólera) des 1982 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichneten Kolumbianers Gabriel García Márquez‘ (1927 – 2014).