Die Nervosität im deutschen Asylsystem wächst. Die Arbeit mit den neu Ankommenden ist wohl nie ganz leicht. Doch die aktuelle Covid-19-Pandemie verschärft die Zustände noch einmal deutlich. Zwei sensible Bereiche stoßen so aneinander, reiben sich und erzeugen Wärme: ein Gesundheitssystem, das jeden Tag in den Stress geraten kann, und das System der Erstaufnahmeeinrichtungen im Land, das ohnehin unter einem gewissen Dauerstress steht. Denn eines nimmt auch inmitten der Corona-Krise nicht vollständig ab: der Druck der Asyleinwanderung.
Gleichzeitig tritt allmählich eine Verfahrensänderung im Inland ein. Denn Abschiebungen sind aufgrund der gegebenen Einschränkungen – abgesagte Flüge, Einreisestopps von Drittländern – praktisch undurchführbar geworden. Duldungen werden einfach fortgeführt, weil Amtstermine aufgrund von »social distancing« unmöglich geworden sind. Da helfen wohl auch Schlagzeilen nicht weiter, wie sie das hessische Innenministerium in der Welt produzierte (»Abschiebungen werden wegen Coronakrise nicht ausgesetzt«, 19. März). Denn nur einen Tag später kam schon das Quasi-Dementi. Das Land Niedersachsen setzte alle Abschiebungen aus und hat daher vier Albaner, einen Serben und einen Gambier auf freien Fuß gesetzt. Deren Abschiebehaft sei »leergelaufen«, erklärt der Leiter der JVA Hannover, Matthias Bormann. Ein Abschiebebeschluss gilt immer nur für eine begrenzte Zeit.
Den fünf Südosteuropäern wurden Fahrkarten ausgehändigt und die Rückreise in ihre Heimatstaaten aufgegeben, der Gambier darf mangels Flugverbindung in Deutschland bleiben. Auch die sechs Personen in der hessischen Abschiebehaft in Darmstadt verlangen ihre Freilassung und sind laut Welt in einen Halbtags-Hungerstreik getreten. Daneben hat Deutschland natürlich auch die Abschiebungen in andere EU-Staaten gemäß dem Dublin-System ausgesetzt. Derzeit kommen also Migranten in den Erstaufnahmelagern an, ohne dass abgelehnte Asylbewerber abgeschoben werden.
Vom Wahnsinn der Präsenz
Das ist der eine Teil, das Asylsystem mit seiner derzeitigen Sackgassenregelung: viele dürfen hinein, keiner kommt raus. Was aber ist mit dem anderen Systemteil, der Gesundheitsversorgung für die ankommenden Migranten? In den Erläuterungen zum EU-Einreisestopp – der, wie erwähnt, eigentlich gar keiner ist – heißt es zu diesem Thema: »Für Personen, die in den erweiterten EU-Raum einreisen dürfen, sollten koordinierte und verstärkte Gesundheitskontrollen durchgeführt werden.« Die etwas vage Formulierung soll in der derzeitigen Situation wohl heißen: Bitte testet die Einreisenden auf SARS-CoV-2! In Sachsen scheint das zu passieren. In Berlin eher nicht. Auch in Brandenburg wird zunächst nur Fieber gemessen und dann erst bei gegebenem Verdacht auch auf das Coronavirus getestet.
In brandenburgischen Erstaufnahmelagern konstruiert man vorsorglich Quarantäne-Einrichtungen. Dadurch sollen die örtlichen Krankenhäuser im Falle einer Infektion entlastet werden, vor allem aber soll damit Sicherheit für die Mitarbeiter und Mitbewohner hergestellt werden. Ein zentrales Problem der Erstaufnahmeeinrichtungen ist, dass die Bewohner nicht immer mit den staatlichen Behörden kooperieren. Zahllose Verwicklungen sind denkbar und haben sich bereits ereignet. So musste die Landeshauptstadt Schwerin vor wenigen Tagen eine Buslinie teilweise einstellen, weil zwei Asylbewerber, die eigentlich als Kontaktpersonen unter Quarantäne standen, einen Bus in die Stadt genommen hatten.
Der Fall Suhl-Friedberg (TE berichtete) hat eindrücklich gezeigt, wie schnell die Sicherheit einer Sammelunterkunft auf Messers Schneide stehen kann, wenn Zweifel am Infektionsschutz bestehen. In der thüringischen Erstaufnahmestelle war ein Bewohner positiv auf das neue Coronavirus getestet worden. In der Folge musste die gesamte Einrichtung mit 533 Bewohnern unter Quarantäne gestellt werden. Einige Bewohner revoltierten gegen die Maßnahme, versuchten auszubüchsen und mussten schließlich in einem Polizeieinsatz separat untergebracht werden.
Brodeln von der anderen Seite
In süddeutschen Zentren scheint die Lage derzeit von der anderen Seite her zu brodeln. Hier sind ebenfalls Neuankünfte der Asyleinwanderung für die kommenden Tage angekündigt. Woher, das bleibt einstweilen unklar, es kann wohl nur aus südlicher Richtung sein.
Auch die Einrichtungsmitarbeiter wissen noch nichts Genaues, fragen sich aber bereits, wie sie diesen Zuwachs bewältigen sollen. Ihre erste Aufgabe wird es sein, die Infektionssicherheit bei jedem einzelnen Immigranten sicherzustellen. Schon jetzt befinden sich acht positiv Getestete in baden-württembergischen Einrichtungen. Innenminister Thomas Strobl (CDU) gab sich zufrieden mit der Testpraxis in den Aufnahmelagern des Landes: »Die positiv getesteten Fälle zeigen deutlich, wie notwendig es ist, alle neu ankommenden Flüchtlinge auf das Coronavirus zu untersuchen«. Sein Dank gelte »allen Haupt- und Ehrenamtlichen, die in der Erstaufnahme von Flüchtlingen tätig sind. Ich weiß, dass sie in dieser Zeit über sich hinauswachsen, und sehr, sehr viel leisten«. Es ist schön, wenn man so von seiner Landesregierung gelobt wird, aber ganz uneigennützig ist solcher Dank wohl selten.
Getestet werden soll demnach – in den Asyleinrichtungen wie andernorts – nur noch in begründeten Fällen, wobei wiederum auf die Kriterien des Robert-Koch-Instituts verwiesen wird. In der Tat, so gibt der klagende Arzt zu, ein Test ergebe keinen Sinn, wenn man durch die Überlastung der Labore kein Ergebnis erhält. Vor allem aber kritisiert er den Mangel an Schutzkleidung. Wenn der Schutz des Personals nicht gewährleistet ist, dann kann natürlich die medizinische Versorgung überhaupt jederzeit zusammenbrechen – zum einen durch die reale Gefahr der Infektion mit folgender Quarantänierung und eventueller Krankheit, zum anderen durch die (verständliche) mangelnde Bereitschaft, ohne geeignete Schutzkleidung überhaupt den Dienst anzutreten.
Entschleunigt in die Krise
Auf die angehende Krankheitswelle hatten sich die Medizinischen Versorgungszentren eigentlich durch eine selbstverordnete »Entschleunigung« vorbereiten wollen, wie ein Vademecum aus einer baden-württembergischen Einrichtung verrät. Ein bisschen von der eskapistischen Energie der regierenden Kreise klingt in diesem Wort an. Angesichts der zu erwartenden Corona-Krise wollte man Freiräume schaffen, für besseren Schutz sorgen und die Bewohner auf veränderte Abläufe vorbereiten. Das Ärzteteam machte sich derweil Gedanken über die Einrichtung eines Zwei-Schichten-Betriebs, damit bei einem Infektionsfall nicht gleich alle Mitarbeiter ausfallen.
Die angekündigten Neuankömmlinge der Asyleinwanderung wirbeln diese Vorbereitungen durcheinander. Nun werden wohl in kurzer Frist alle angesammelten Ressourcen verbraucht werden. Um alle neuen Bewohner zu testen, braucht man logischerweise mehr Schutzbekleidung, die ohnehin wie überall bald aufgebraucht sein wird. Auch geeignete Desinfektionsmittel gehen den Wohnstätten schon jetzt aus. Ohne beides weigern sich aber die Ärzte zu arbeiten. Ausgang offen.
Und auch in einem hessischen Aufnahmelager in Gießen gibt es mittlerweile einen Covid-19-Fall. Ein 24-jähriger Afghane war den Ärzten schon bei seiner Ankunft aufgefallen und wurde umgehend isoliert. Inzwischen fiel sein Test positiv aus. Sämtliche Besuche in den hessischen Erstaufnahmelagern wurden untersagt. Weiter südlich macht derweil die Kunde von »Corona-Parties« in Erstaufnahmelagern die Runde. Kann man Leute wirklich nicht einsperren oder nur die der Asyleinwanderung nicht?