Mit 1.238 gemeldeten Corona-Kranken und einem Toten steht Israel im internationalen Vergleich gut da. Die wirtschaftlichen Auswirkungen aber – das zeichnet sich schon jetzt ab – sind verheerend. Stündlich melden sich 5.000 Arbeitnehmer arbeitslos. In zwei Wochen stieg die Arbeitslosigkeit von 3,7 auf über 16 Prozent.
Israel ist an Zores gewöhnt. Zores – laut Duden ein Substantiv, maskulin, bedeutet Ärger, Gezänk, Wirrwarr – ist ein hebräisches Wort, das in der Bibel vorkommt und über das Jiddische Eingang gefunden hat ins Deutsche. Ein Land, das seit seiner Gründung vor knapp 72 Jahren von der noch nicht gebauten iranischen Atombombe bedroht ist, auf das geschätzte 150.000 Raketen der Hisbollah aus dem Libanon gerichtet sind, kann mit Bedrohungen besser umgehen als Völker, die in Panik verfallen, wenn der Zweiturlaub ausfällt. Seit dem Auszug aus Ägypten vor rund 3.000 Jahren kämpfen die Juden ums Überleben. Das macht erfinderisch, leidensfähig und lässt den inzwischen sprichwörtlichen jüdischen Humor gedeihen: Ein Jude rät seinem Glaubenspartner: Fang an Dir Sorgen zu machen – die Details liefere ich Dir später.
Israel hat – Stand 23. März früh – 1.238 Infizierte gemeldet und beklagt den Tod eines 88jährigen Shoah-Überlebenden. Im Vergleich dazu hat die Schweiz mit ebenfalls rund neun Millionen Einwohnern, aber fast doppelt so groß, 7.014 Infizierte und 60 Tote (Stand 22. März abends) registriert. Die Führung in Jerusalem hat mindestens eine Woche vor den meisten EU-Staaten und zwei Wochen vor Italien mit rigorosen Einschränkungen für die Bevölkerung wie Schließung aller Bildungseinrichtungen begonnen. Der amtierende Ministerpräsident Netanyahu, beraten und begleitet von einem ebenso umsichtigen wie TV-geeigneten jungen Generaldirektor im Gesundheitsministerium, hat sehr früh von einer Pandemie gesprochen und Vergleiche mit der „Spanischen Grippe“ am Ende des Ersten Weltkrieges herangezogen, die Millionen von Opfern forderte. Am vergangenen Samstagabend hat er seine Strategie erklärt: Wir müssen die Gesunden von den Kranken trennen. Dafür bedarf es eines strikten Ausgehverbotes und eines noch strikteren Begegnungsverbotes zwischen Alt und Jung, insbesondere zwischen Opa/Oma und Enkeln, wie es Verteidigungsminister Bennet formuliert.
Das Virus schafft im bedrohlichen politischen Nahost-Szenario Lösungsmöglichkeiten, die man vor drei Wochen noch für undenkbar gehalten hat:
- Israel hat die Grenzen und Übergänge zu Gaza und dem Westjordanland geschlossen – hilft aber der palästinensischen Führung, Corona gemeinsam zu bekämpfen. Die ersten in Bethlehem aufgetretenen Fälle sind inzwischen gelöst. Seit drei Wochen gab es keinen Terroranschlag mehr und der Raketenbeschuss aus Gaza ist (vorläufig) eingestellt.
- Der schier unlösbare Streit nach drei Parlamentswahlen in einem Jahr, wer die nächste Regierung bildet und führt, hat am Samstagabend zu einer TV-Premiere geführt: Netanyahu lud seinen Widersacher Gantz live – von der gewitzten Moderatorin dazu angestachelt – zur Bildung einer „Regierung der Nationalen Einheit“ auf – ohne „shticks und tricks“. „Im September 2021 räume ich für Benny den Stuhl des Ministerpräsidenten“. Und Netanyahu versprach sich bei diesem Satz nicht einmal. Dafür bekam der TV-Zuschauer über Netanyahus Ausdrucksweise einen tiefen Einblick in die Denk- und Handlungsweise der politischen Kontrahenten Bibi und Benny. „Shticks“ stammt sprachlich aus dem Deutschen „Stücke“ und ist über das Jiddische ins Hebräische hineingewachsen. In der politischen Gossensprache heisst es: also jetzt ist Schluss mit Fisimatenten. Ab jetzt geht’s ehrlich und ohne Schmonzes (siehe Duden).
- Die TV-Sendung hatte noch am gleichen Abend ein säkular-religiöses Nachspiel. Denn Netanyahu forderte die Bevölkerung auf, für eine schnelle und gründliche Bekämpfung des Covid-19-Virus zu beten. Worauf die Moderatorin schnippisch erwiderte: Vielleicht sollte man eher im Weizmann-Institut (eine weltberühmte Forschungseinrichtung für Biochemie in Rehovot nahe Tel Aviv) nach Lösungen suchen. Dafür musste sie sich auf ihrer Facebook-Seite umgehend entschuldigen. Denn ein Rabbiner, der mit seiner Partei ein möglicher Koalitionspartner Netanyahus ist, polterte lautstark gegen die sprachgewandte Journalistin.
Tatsächlich geht es um den Jahrtausende alten Streit im Judentum: Wer hat Vortritt? Diejenigen, die in erster Linie an Gott glauben oder jene, die den Bund mit Gott als Aufforderung verstehen, praktische Lösungen im Diesseits zu finden. Oder wie es der vielbesuchte Rabbiner Manis Friedman in den USA formuliert: „Gott hat uns Juden aufgefordert intelligent zu sein. Glauben kann jeder, so viel er will“.
Netanyahu wollte sich nicht neuen Zores aussetzen und zog sich diplomatisch aus der Affäre: „Das eine schließt das andere nicht aus“.