Historische Krisen formen gemeinsames Bewusstsein. Die englische Besatzung im Hundertjährigen Krieg weckte bei den Franzosen ein Zusammengehörigkeitsgefühl, aus dessen Keim der französische Nationalgeist entsprang. Aus den gemeinsamen Erinnerungen der Befreiungskriege gegen Napoleon und den Erfahrungen von 1870/71 schöpfte das Deutsche Reich seine Legitimation. Es sind realpolitische Konstellationen, die schon Machiavelli und Schmitt postulierten. Das alte Freund-Feind-Schema entwickelt sich in solchen Situationen der Außenbedrohung weiter, die Gruppe der eigenen Leute wird als größer wahrgenommen – im Widerstand gegen den oder das andere.
In weniger als 30 Tagen hat die Europäische Union ihre Belanglosigkeit in der Geschichte gezeigt. Nationen und Imperien hätten sich in jeder anderen historischen Situation gebildet, aus reiner Notwehr, um dem Strom der sich umwälzenden Epochen zu entgehen; nicht aber die EU, die in ihrer Geschichts- und Identitätslosigkeit keine Antwort auf uralte Bedrohungen weiß, sondern höchstens humanistische Wohlfühlvokabeln ausspricht.
Die eine Herausforderung heißt Erdogan. In jeder anderen Situation wäre die Erpressung durch einen autoritären Herrscher mit islamischen Tendenzen eine willkommene Gelegenheit gewesen, um nun an eine gemeinsame Linie zu appellieren. Die übliche Propaganda wäre gewesen: da steht der Feind, der den ganzen Kontinent herausfordert. Die Türkei setzt europäische Grenzen unter Druck, sie will ein kleines, von Schicksalsschlägen gebeuteltes Land erwürgen, sie führt Krieg in Syrien. Erdogan ist der Napoleon, von dem sich Europa erneut hätte befreien können; er ist der Osmanische Sultan, der die Christenheit in einer Heiligen Allianz eint. Die Narrative liegen auf dem Tisch. Sie werden nicht angefasst – weil es zwischen bräsiger Bürokratie, zögerlichen Beschlüssen und grauem Taktschlag Brüsseler Administration keinen Sinn für historischen Geist, europäische Solidarität oder wenigstens einen Hauch von Elan und Originalität gibt.
Das erste Land, das fallen gelassen wird, heißt Griechenland. Es wird geopfert. Aus Angst; aus Inkompetenz; aus Mangel an Alternativen. Welch Ironie, dass die EU jahrelang nur finanzielle und wirtschaftliche Interessen mit Griechenland verband. Brüssel verspricht, den Staatsbankrott abzuwenden, ist aber nicht in der Lage, das Überleben des griechischen Staates zu gewährleisten, wenn es nicht die fiskalische Not betrifft. Stattdessen darf Athen sich auch noch den einen oder anderen Rüffel aus Berlin gefallen lassen. Freier Handel und offene Grenzen sind ohne Sicherheit nichts wert. Die EU flickt am Dach, ohne sich um das Fundament zu kümmern. Der Konflikt mit der Türkei macht offenbar: es kann die nackte Existenz seiner Mitgliedsstaaten nicht sichern.
Offensichtlich waren alte Ressentiments, die suggerierten, dass „das“ nicht in Europa möglich sei, immer noch aktiv. Während Südkorea, Japan, Taiwan und Singapur als Anrainer schnell und rigide durchgriffen, hatten die Corona-Patienten in Europa den Status von exotischen Zootieren: isoliert, hinter Gittern, harmlos.
Spätestens am 23. Februar hätte die Europäische Union reagieren müssen. Es war der Tag X der modernen italienischen Seuchengeschichte. Es war der Tag von Codogno, als 11 Kommunen in Norditalien geschlossen wurde; es war der Tag der Schließung von öffentlichen Einrichtungen; es war der Tag der ersten Hamsterkäufe, der Tag der Schutzmasken, der Tag der abgesagten Messen. Plötzlich gab es im drittgrößten Euro-Land eine rote Zone. Von da an explodierten die Maßnahmen im Wettlauf mit der Krankheit. Italien, von Krisen erschüttert, an Krisen gewöhnt – erlebte eine Krise, wie sie die Republik seit ihrer Ausrufung nicht erlebt hatte. Selbst in den „Jahren des Bleis“, als der Linksterrorismus das öffentliche Leben erschütterte, gab es keinen Ausnahmezustand wie seit diesem Datum. Alles, was die Seele Italiens ausmacht – seine Bars, seine Restaurants, seine Museen, seine Opern, seine katholischen Messen – war von ein auf den anderen Tag Luxus geworden.
Ähnlich wie in der Phase der Wuhan-Seuche glaubte man wohl, dass Italien ein Ausnahmefall sei. Dass die Lombardei und Venetien zu den besten entwickelten Regionen gehören, fiel offensichtlich durch das Ressentiment-Raster. Ähnlich wie bei China hielt man sich für unangreifbar. Ähnlich wie in Manzonis „Promessi sposi“, wo die Pest sich 1630 ausbreitet, und langsam nach Mailand greift – es aber niemand wahrhaben will: „Der Oberarzt Lodovico Settala (…) berichtete am 20. October der Gesundheitsbehörde, daß in dem Dorfe Chiusa – dem letzten in dem Gebiete von Lecco, an der bergamaskischen Grenze – unzweifelhaft die Seuche ausgebrochen sei. Es ward jedoch darauf kein Entschluß gefaßt, wie aus den Berichten des Tadino hervorgeht. Darauf liefen ähnliche Nachrichten aus Lecco und Bellano ein. Die Gesundheitsbehörde begnügte sich damit, einen Commissar abzuschicken, der unterwegs zu Como einen Arzt nehmen und mit ihm die bezeichneten Ortschaften untersuchen sollte. Beide ließen sich, ob aus Unwissenheit oder sonst einem Grunde, von einem alten, einfältigen Barbier aus Bellano überreden, daß diese Art Uebel keine Pest wäre, sondern an einigen Orten die gewöhnliche Wirkung der herbstlichen Ausdünstungen der Sümpfe, an den übrigen eine Folge des Elends und der Mühseligkeiten, welche sie durch den Durchmarsch der Deutschen er litten hätten. Eine solche Versicherung ward der Gesundheitsbehörde überbracht, welche damit ihr Gewissen beruhigt zu haben schien.“
Massaris Appell ist drastisch. Doch vermutlich kommt er bereits zu spät. Die EU ist mehrfach an ihren eigenen Problemen gescheitert, nunmehr muss sie mit äußeren Proben kämpfen. Nichts lässt bisher darauf hindeuten, dass sie ausgerechnet diese Krisen bewältigen sollte. Sie hatte ihre Chance. Spätestens, wenn die wirtschaftlichen Verwerfungen der Euro-Länder die Finanzordnung erschüttern, wird kein Stein mehr auf dem anderen bleiben. Als reiner Funktionsbau ohne Fundament – droht sie zuletzt von den Gewalten des Stroms der Geschichte davongeschwemmt zu werden.