Die politische Elite in Deutschland – aber auch in fast allen übrigen europäischen Ländern – zieht sich in ihrem mittlerweile von ihr selbst erkannten sachlich-inhaltlichen Versagen gerne darauf zurück, dass Politik die Kunst des Machbaren sei und man schließlich immer Kompromisse schließen müsse, wenn man nicht die absolute Mehrheit im Parlament habe – was aber praktisch seit den 1950er-Jahren nicht mehr vorgekommen ist.
Dies ist die Rückzugslinie, ja die taktische Nebelgranate, mit der vom eigenen radikalen Komplettversagen, aber auch von der eigenen Korruption, Freunderlswirtschaft und Selbstbedienungsmentalität abgelenkt werden soll. Denn die brutale Wahrheit ist: Es sind nicht die Kompromisse, die man sich in der Politik gegenseitig aufzwingt, die zu den bekannten Ergebnissen führen. Vielmehr ist man dem jeweiligen politischen Gegner für dieses Alibi dankbar, in dessen Windschatten man das eigene Interesse über die langfristigen Anliegen der Wähler stellen kann.
Die Betonung liegt auf langfristig. Denn die kurzfristigen Interessen der Wähler werden sehr wohl von der Politik bedient. Ja, sie sind geradezu der Motor, der es der Politik ermöglicht, den Eigennutz der bürokratisch-administrativen Klasse über das Wohl des Volkes zu stellen, weil kurzfristige Bedürfnisbefriedigung und das langfristig Richtige weit auseinanderklaffen. Nachdem alle konventionellen Möglichkeiten ausgeschöpft sind, die Gegenwart zulasten der Zukunft zu beleihen und so die kurzfristige Befriedigung über das langfristig Notwendige zu stellen, hat man nun mit dem Nullzins den finalen Punkt der resultierenden Illusionswelt erreicht. Er gaukelt vor, dass es zwischen beiden gar keinen Unterschied gebe.
Und wenn man die Folgen der von dieser Haltung inspirierten Politik betrachtet, dann geht das Konzept der kollektiven Beraubung ja auch auf – jedenfalls eine Zeit lang. Deshalb agiert der Mensch in der Masse völlig anders, als er es als Individuum tut. Die Masse derationalisiert den Menschen in gewisser Weise. Eine irrationale Ideologie wie der Sozialismus bedient sich daher des Begriffes der Massen, um eine gegen die wahren Interessen der Menschen gerichtete Politik durchsetzen zu können.
Der Mensch agiert in der Masse nicht so, wie er als Individuum agiert. Es lohnt sich, diesen Umstand genauer zu betrachten. Wie wir sehen werden, gibt es eine Beziehung zwischen der menschlichen Freiheit als Individuum, seiner Wahrnehmung der Zeit, daraus folgend dem Zins (!), der Existenz individueller Freiheit, die Unmöglichkeit einer Freiheit der »Masse« und der daraus zwingend folgenden Fehlleitung der politischen Klasse in der von uns so weinselig gepriesenen Parteiendemokratie.
Der Mensch unterscheidet sich vom Tier, basierend auf seinem Intellekt, also seiner Fähigkeit zur Einsicht, durch seine Fähigkeit zum individuell planvollen Handeln. Das Tier hingegen folgt seinem Instinkt, und zwar auch dann, wenn sein Handeln für uns Menschen planvoll erscheint, wie zum Beispiel die Vorratshaltung des Eichhörnchens. Das wirklich planvolle Handeln benötigt jedoch die Erfüllung von zwei Voraussetzungen: erstens die Erkenntnis des Selbst, also das »Cogito, ergo sum« (Ich denke, also bin ich) zur Definition der Zielgerichtetheit des Handelns, und zweitens die Wahrnehmung der Zeit, also das Wissen um die Existenz einer Zukunft, in der unser heutiges Handeln auf unser sich dann einstellendes Wohlbefinden, unsere Existenz, ja unser Überleben und das unserer Nachkommen einen Einfluss hat.
Die Form des uns gegebenen Intellektes ermöglicht durch seine Erkenntnis des Selbst und der Zeit also ein Handeln, welches nicht weniger als die physische Grundlage des freien Willens und damit der Freiheit schlechthin ist.
Der Irrtum wird von der Evolution mit dem Tod bestraft. Der erfolgreiche Versuch mit dem Überleben belohnt. Auch der Mensch lernt durch Versuch und Irrtum, kann diesen evolutionären Prozess aber dank seines Gehirns innerhalb seiner Lebensspanne durchführen. Er irrt sich, erleidet dadurch Kosten und lernt so. Er irrt sich nicht, erzielt dadurch Gewinn und lernt ebenfalls.
Es ist eine der wichtigsten Lektionen, die das Leben in der endlosen Kette von Versuch und Irrtum dem Menschen erteilt, dass es eine Wahl zwischen kurzfristiger Bedürfnisbefriedigung und langfristigem Wohlstand und Erfolg gibt. Diese Erkenntnis steht im Widerstreit mit unserer aus der tierischen Vergangenheit ererbten Nutzenfunktion, die die kurzfristige Bedürfnisbefriedigung, den Konsum heute, höher bewertet als die spätere Bedürfnisbefriedigung, also den Konsum morgen, in einem Jahr oder in zehn Jahren.
Ein Kind, das an der Supermarktkasse vor der buchstäblich so genannten »Quengelware« steht und die Schokolade jetzt, sofort, unverzüglich haben möchte, demonstriert uns, wie die Verkaufsstrategen diese menschliche Tendenz ausnutzen in der Hoffnung, dass auch die Mutter die schnelle Befreiung vom kurzfristigen Schmerz des Geschreis nach der Süßigkeit über die langfristige Zahngesundheit ihres Kindes stellt.
Tiere haben diese Form der Zeitpräferenz in exzessiver Form. Mein Hund, wenn er sich Zugang zum Fressvorrat verschaffen kann, wird buchstäblich nicht aufhören zu fressen, bis er schier platzt. Affen, insbesondere Bonobos, sind für ihren »Affenappetit« bekannt. Ihre Nutzenfunktion kennt keine
Abwägung zwischen dem Hier und Jetzt und der Zukunft, weil das Konzept Zukunft jenseits eines sehr kurzen Zeithorizonts im begrenzten Universum des Affen schlicht keinen Platz hat. Die Planungsfähigkeit der Bonobos hat ihre maximale Entfaltung in der Erfahrung, dass die Weibchen dieser Art für das Anbieten von Essen sexuelle Gefälligkeiten erweisen.
Dieser Effekt, der sich im Laufe der Menschheitsgeschichte immer feiner verästelnden Arbeitsteilung ist nichts Geringeres als die Grundlage der menschlichen Zivilisation, weil Arbeitsteilung und Produktivität Hand in Hand gehen.
Die Quelle des Zinses
Daraus folgt: Der Konsumverzicht, in Form von Sparen, verzinst sich. Der Zins setzt Konsum und Zeit in eine preisliche Beziehung und ermöglicht es so den Mitgliedern der Gesellschaft, ebenso planvoll eine Abwägung zu treffen, die heutige und künftige Bedürfnisse ins Gleichgewicht bringt. Diese Preisinformation kann in ihrer Bedeutung kaum überschätzt werden. Deshalb ist die Existenz des Zinses eine zwingend notwendige Voraussetzung für Sparen und Investieren und damit wiederum für die Verfeinerung der Arbeitsteilung und den menschlichen Fortschritt schlechthin. Es ist daher keine Überraschung, dass Unternehmen bei Nullzinsen weniger Zukunftsinvestitionen tätigen: Ihre existierende Ineffizienz und Unproduktivität im Vergleich zu ihren Möglichkeiten hindert sie nicht am Überleben oder am Erzielen von Gewinn. Dieser Befund steht im diametralen Gegensatz zum keynesianischen Postulat, dass fallende Zinsen Investitionen fördern würden. Das tun sie vor allem bei schlechten Investitionen, die sonst keiner bei Verstand unternehmen würde, wenn das dafür aufgewendete Kapital etwas kostet.
In welchem Umfang die Verzinsung stattfindet, hängt davon ab, wie produktiv die durch Konsumverzicht investierten Ressourcen eingesetzt werden können. Je höher das Wachstum der Produktivität durch technischen Fortschritt, desto höher auch die Verzinsung. Da die Menge produktivitätssteigernder Investitionen bei gegebenem Wissen aber begrenzt ist, ist das Produktivitätswachstum der Investitionen auch abhängig vom Sparangebot. Der Preis des Konsumverzichtes wird so – wie in jedem Markt – zu einem Ergebnis des Wechselspiels von Angebot und Nachfrage.
Der Zins wird damit zum Preis der in einer Gesellschaft im Durchschnitt vorhandenen zeitlichen Konsumpräferenzen bei gegebenem technologischem Produktivitätsfortschritt. In einer Gesellschaft aus individuell planvoll handelnden Menschen kommt ihm daher die kritische Signal- und Informationsfunktion zu. Je höher der Zins ist, desto höher ist der Preis sofortigen, kurzfristigen Konsums in Form von Opportunitätskosten. Ist der Zins sehr hoch, dann lautet die Botschaft: Verzichte heute auf einen Kleinwagen, dann kannst du dir in 15 Jahren einen Oberklasse-12-Zylinder leisten.
Die politische Elite, wie sie sich in Europa entwickelt hat, gedeiht jedoch in ihrer korrumpierten Selbstverliebtheit auf dem Dünger dieser kurzfristigen Bedürfnisbefriedigung. Es ist geradezu die neue Staatsraison, jede kurzfristige Unbequemlichkeit, jede Volatilität, jede Abweichung vom gewohnten Trott vom Wähler fernzuhalten. Dieser erweist sich als dankbares Objekt der Bevormundung einer als Fürsorge verkleideten Entmündigung, weil ihm die langfristigen Folgen dieser Politik nicht bewusst sind. Um diese zu erkennen, müsste er sich entweder mit den historischen Erfahrungen einer auf Kurzfristigkeit angelegten Politik auseinandersetzen oder sich mit dem ökonomisch-analytischen Rüstzeug ausstatten, welches ihm die Zusammenhänge transparent macht. Beides wird in den bildungsfernen Konsumwelten unseres Landes nur von einer kleinen Minderheit betrieben.
Eine politische Elite, die diesen Namen auch verdient hätte, würde sich daher Gedanken darüber machen, wie sie trotz dieser kurzfristigen Wählerwünsche durch Aufklärung und geistige Führung das langfristig Notwendige rational und mit Argumenten vermittelt und so unbequeme Entscheidungen wählbar macht. Ich rede dabei ausdrücklich von Argumenten und nicht von »Nudging«, »Framing« und einer immer häufiger anzutreffenden manipulativen Presseberichterstattung, die sich zum willfährigen Instrument der Macht deklassiert hat.
Dies kann unsere politische Klasse aber nicht leisten. Sie kann es deshalb nicht leisten, weil sie durch adverse ökonomische Selektionsprozesse ausgewählt wird, die die intellektuell nicht-befähigten und die Rückgratlosen an die Spitze bringt. Kaum eine Hypothese hat mir wütendere und schrillere Proteste eingetragen als diese Aussage, getätigt in meinem Buch »Wenn schwarze Schwäne Junge kriegen« und in einigen öffentlichen Vorträgen. Ich will diesen Gedanken hier im Folgenden noch einmal kurz darstellen.
Die tieferen Ursachen für das Elitenversagen in der Politik liegen demnach in der Auswahl unseres politischen Personals. Es unterliegt zwei ökonomischen adversen Selektionen:
1. Die Fixeinkommen der Abgeordneten in Höhe vom Zwei- bis Dreifachen des Durchschnittseinkommens der Bürger machen es für Bezieher unterdurchschnittlicher Einkommen attraktiver, in die Politik zu gehen, als für Bezieher höherer Einkommen. Da aber Einkommen und Intelligenz positiv korreliert sind, führt dies zu einer Negativauswahl. Die intellektuelle Elite dieser Republik geht nicht in die Politik, und es gilt der Satz von Franz Josef Strauß: »Man muss sich die Gestalten nur anschauen.«
2. Das Listensystem der Parteien sorgt dafür, dass die Karriere der Politiker der Kontrolle durch die Parteiführung unterliegt. Nicht der Wähler, sondern die Parteiführungen entscheiden. Das macht unabhängiges Denken und Rückgrat zu einem Karrierehindernis.
Beide Effekte in Kombination lassen stark daran zweifeln, dass unsere politische Klasse der aufziehenden Krise gewachsen ist. Das gilt nicht nur für die Frage ihrer Eingrenzung, sondern auch bezüglich der Bewältigung der Folgen, wenn diese Krise in vollem Umfang ausgebrochen sein wird.
Die politische Klasse hat über Jahrzehnte die kurzfristige Konsumneigung mit immer neuen Schulden akkommodiert. Als dies durch die einer Exponentialfunktion folgenden Zins- und Zinseszinskosten an seine Grenzen stieß, hat man die Geldpolitik vor den Karren gespannt und einen Manipulationsnullzins eingeführt, der die Party noch eine Weile am Laufen hielt und hält. Man hat sich mit dieser Manipulation absichtsvoll und sehenden Auges in die Überschuldung begeben und hofft nun, durch dauerhafte Manipulation des Zinses auf null oder darunter die nicht nachhaltige Party ad infinitum fortsetzen zu können. Man verzögert aber lediglich den Offenbarungseid, während das wirtschaftliche Lebensblut des Landes ausgepresst und vergeudet wird.
Dieser Nullzins hat gewaltige Verwerfungen und Spannungen in unser Wirtschafts-, Finanz- und Bankensystem eingeführt. Auf sie soll hier nicht näher eingegangen werden, denn sie wurden in meinen früheren Publikationen im Detail dargestellt.
Der Nullzins hat jedoch darüber hinaus noch etwas anderes bewirkt: Er hat die gesellschaftliche Nutzenfunktion auf die Bonobo-Wirtschaft umgestellt. Die Verschiebung des Konsums bringt keinen Vorteil mehr. Der Anreiz zur Vorsorge ist maximal unterdrückt. Die Voraussicht und die individuelle Lebensplanung wird durch den Nullzins sabotiert in einer Weise, als gäbe es keine Einsicht in die künftigen Notwendigkeiten der Vorsorge. Es wird, mit anderen Worten, gewirtschaftet, als gäbe es kein Morgen.
Das Gleiche gilt für Aktien und Immobilien, Kunst, Oldtimer und was sonst noch an »alternativen Assets« kreucht und fleucht. Verluste sind programmiert, wenn die Blasen platzen. Und platzen werden sie.
Zugleich führt der Nullzins dazu, dass auch die real in der Volkswirtschaft erwirtschafteten Kapitalrenditen schrumpfen. Dies geschieht durch nachhaltige Zerstörung des Produktivitätswachstums. Da der Nullzins ineffiziente, unproduktive und schlechte Unternehmen als unsichtbare Subvention künstlich am Leben erhält, fließen immer mehr Ressourcen in unproduktive und schlechte Verwendungen. Von Mises, von Hayek, Rothbard und andere haben das vorausgesehen und daraus die österreichische Konjunkturtheorie abgeleitet. Wo durch Fehlallokation das Produktivitätswachstum abgewürgt wird, trocknen aber die Investitionsmöglichkeiten immer mehr aus.
Die Zinspolitik hat es so geschafft, für die Anleger und Sparer den risikofreien Zins abzuschaffen und durch das zinsfreie Risiko zu ersetzen.
Die Enteignung künftiger Erträge macht die Altersarmut unvermeidlich. Der Bürger wird so zu der Schlussfolgerung kommen, dass er im Alter sowieso Sozialhilfe in Anspruch nehmen muss. Was er dann noch übrig hat, wird ihm angerechnet werden. Dann ist es also auch egal, wenn er nichts übrig hat. So richtet er seine Bedürfnisbefriedigung auf das Hier und Jetzt – und zwar sofort bitte!
Die Väter unseres Grundgesetzes haben dieses Problem in gewissem Umfang vorausgesehen. Es war ihnen klar, dass die polit-ökonomischen Anreizstrukturen auch in einer Demokratie das Risiko bergen, dass sich die Gesellschaft auf einen abschüssigen Pfad begibt, bei dem eine Art Teufelskreislauf von Anreizen die Wechselwirkung zwischen Souverän und politischer Elite in einer Weise determiniert, die die Voraussetzungen des wirtschaftlichen Erfolges und damit letztlich auch die Voraussetzungen für eine funktionierende Demokratie untergräbt.
An den Folgen der Geldpolitik können wir erkennen, dass die Ausschaltung des Zinses genau das bewirkt. Die Wachstumskräfte der Volkswirtschaft erlahmen, und die wirtschaftliche Krise ist die unausweichliche Folge.
Exklusiver Auszug aus dem am 17. März erscheinenden neuen Buch von
Markus Krall, Die Bürgerliche Revolution. Wie wir unsere Freiheit und unseren Wohlstand erhalten. LangenMüller, 300 Seiten, 22,00 €
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