Wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel die deutsche Öffentlichkeit mit einer ihrer seltenen politischen Stellungnahmen beehrt, bleiben in der Regel nur einzelne Sätze hängen. So war es auch am Mittwoch, als sie in der Bundespressekonferenz über die Corona-Pandemie sprach. Der zentrale Merkel-Satz war dieser: „Da sind unsere Solidarität, unsere Vernunft, unser Herz füreinander schon auf eine Probe gestellt, von der ich mir wünsche, dass wir diese Probe auch bestehen.“ Wir werden also von einer Kanzlerin regiert, die im Angesicht einer ernsten Bedrohung spricht, wie eine Pfarrerin, die nicht predigen kann. Aber das erstaunlichste an diesem Schauspiel nicht so sehr die Pfarrerin, sondern die Gemeinde, die so tut, als würde sie vor einer großen Prophetin sitzen.
Geschätzte 90 Prozent ihres Sprechens in solchen Situationen sind Feststellungen, die jeder auch nur oberflächlich informierte Bürger aus den Massenmedien bereits kennt, der Rest ist ein Nebel aus Sentimentalität. Gestern fielen etwa Sätze wie: „Das Virus ist in Europa angelangt, es ist da, das müssen wir verstehen.“ Sie stellt banale Tatsachen fest – und dann müssen, sollen oder können „wir“ etwas tun. Und sie selbst, unsere Regierungschefin? Sie „wünscht“ sich, dass „wir“ eine „Probe“ bestehen, auf die „unser Herz füreinander“ gestellt wird. Von wem eigentlich? Und warum ist das angeblich nur eine Probe und nicht der Ernstfall? Und warum wünscht sie sich nur etwas? Ist sie nicht die Bundeskanzlerin, die mächtigste Frau Deutschlands und Europas?
Die Corona-Krise ist, wie nun allmählich auch dem letzten Optimisten klar wird, eine ernsthafte Bedrohung – für das Leben vieler Menschen, für das Funktionieren des Staates, der Wirtschaft, der Gesellschaft. Solch eine fundamentale, für viele Menschen existentielle Bedrohung führt den Staat und die Regierenden auf ihren ersten und ursprünglichen Daseinszweck zurück: die Menschen im eigenen Gemeinwesen zu beschützen und dessen Strukturen zu bewahren. Dafür entstanden Staaten in Europa. Wer vor dieser Aufgabe offensichtlich versagt, kann sehr schnell die Legitimation seiner herausragenden, führenden Position im Staat einbüßen. Die Corona-Pandemie mit all ihren bereits absehbaren Neben- und Folgeerscheinungen könnte möglicherweise vielen Bürgern einen deutlichen Eindruck davon geben, ob die politischen Institutionen und vor allem die sie Führenden dieser Aufgabe gewachsen sind – oder nicht. Nach aktuellem Stand gibt die Bundesrepublik kein besonders positiv herausragendes Bild ab: Verglichen etwa mit Taiwan oder auch Japan, die es trotz Nähe zum Ausbruchsherd des Virus offenbar deutlich besser schaffen, dessen Verbreitung einzudämmen. Verglichen aber auch mit unseren Nachbarländern, die längst Schulen und andere Einrichtungen geschlossen haben.
Gerade für Merkel und die mit ihr Regierenden könnte das Coronavirus durchaus gefährlich werden. Gefährlich für ihre Legitimation. Denn Merkel regierte bislang ein Land und eine Gesellschaft, die auf diese ursprüngliche und erste Funktion des Staates – Schutz und Bewahren – nicht angewiesen zu sein meinten. Stattdessen ging es um die richtigen Gefühle, um gute Werke für andere und die Welt. Ein „freundliches Gesicht“ – das konnte und wollte Merkel bieten. Für den Schutz der Bürger dagegen sieht sie sich nicht zuständig. Aber jetzt ist solcher Schutz gefragt.
Eine Regierungschefin, die sich als Schützerin ihrer Bürger und des Staates sieht, hätte gestern nicht den Nachrichtenstand repetiert und vom „Herz füreinander“ gepredigt, sondern gesagt, was ihre Regierung tut und tun wird – und das dann auch gleich umgesetzt. Eine Beschützerin „wünscht“ sich nicht, dass ihre Bürger „Proben“ bestehen, sondern handelt, gibt Anweisungen, zeigt Führungsstärke, übernimmt Verantwortung. Das tut Merkel aber letztlich nur, wenn es um ihre eigene Machtposition und ihr Vermächtnis geht – wie in Thüringen.
Es ist wohl nicht anzunehmen, dass Merkel ihre Erfolgsmethode der vergangenen 15 Jahre revidieren will. Merkel taugt nicht zur Schützerin. Sie brauchte es auch nicht zu sein. Die Nachfrage nach Schutz war gering, als Merkel zur Macht aufstieg.
In der Finanz- und Eurokrise konnte sie so tun, als sei sie eine Schützerin. Da ging es (und geht es weiterhin) aber nicht eigentlich ums Schützen, sondern um den Ausbau des in die Wirtschaft eingreifenden Staates – als Steuereintreiber, Versorger und Wachstumsantreiber. Seit 2015 ist zwar alles anders. Das Jahr mit dem hohen Migrationsaufkommen, die Selfiebilder mit männlichen Zuwanderern und der Kontrollverlust an den Grenzen, aber auch in der Gesellschaft, bedeuteten eine Zäsur. Merkel hat das Land gespalten, eine Minderheit hat endgültig das Vertrauen in die Kanzlerin verloren. Auch durch die CDU geht ein gewaltiger Riss. Aber die Umfragewerte sehen sie bis heute an der Spitze. Dass dem so ist, mit den zustimmenden Beliebtheitswerten, zeigt eigentlich nur, dass es sich viele treue CDU-Wähler und Basismitglieder, einfach nicht vorstellen können, wie es ohne die Kanzlerin nur weiter gehen solle. Für Merkel ist es angesichts dessen wohl fast unmöglich, nicht an einer Art Hybris zu leiden.
Die Mehrheit blieb – parteienübergreifend – auf ihrer Seite. Die Mehrheit hat kein Bedürfnis nach Schutz. Vielleicht noch nicht. Vielleicht kommt das noch. Das Coronavirus könnte dazu jedenfalls beitragen.
Einigen CDU-Funktionären blieb wohl schon in der Fraktionssitzung die Spucke weg, als gerade jetzt angesichts des täglichen Anstiegs der Coronavirus-Infizierten, die Kanzlerin das Wort ergriff und eröffnete, dass sich „60 bis 70 Prozent der Menschen in Deutschland“, mit dem Coronavirus infizieren würden.
Deutschland hat also eine Kanzlerin, die einfach hinnimmt, dass sich über zwei Drittel der Gesellschaft wohl anstecken, und ältere vorbelastete Menschen, wohl wegsterben werden. Was soll man davon halten? Das wochenlange Zögern und Zaudern in dieser Krise mit dem Covid19-Virus, von Merkel und Spahn zu verantworten, verkauft die Kanzlerin zugleich als Beruhigungspille oder als Offenheit und Transparenz fürs eigene Versagen.
Jetzt ist die Krise da, Merkel könnte ihre große politische Verliererin und die Republik ein Pflegefall werden.
Co-Autor: Giovanni Deriu