»Laßt, die ihr eingeht, jede Hoffnung fahren« – woher kennen wir diese Warnung? Richtig: Es ist Dantes Göttliche Komödie, erster von drei Teilen – »Die Hölle« – und da die dritte Zeile im dritten Vers des dritten von dreiunddreißig plus einem Gesängen.
Der Italiener Dante Alighieri wurde 1265 in Florenz geboren und starb 1321 in Ravenna. Dante war Soldat und Gelehrter. Er kämpfte in der guelfischen Bürgerwehr und, so raten die Experten, könnte in Florenz selbst, aber auch in Bologna oder sogar in Paris in der Kunst der geordneten Gedanken unterrichtet worden sein.
Seine politische Laufbahn war wenig glücklich – er wurde in Florenz zu Geldstrafen verurteilt und floh ins Exil nach Ravenna, wo sich seine Gebeine bis heute befinden. (Florenz will sie wiederhaben, aber bis Ravenna sie hergibt, wird man sich mit einem leeren Fake-Grab begnügen müssen.)
Die Göttliche Komödie erzählt in Versen den Weg seines literarischen Ichs, in Begleitung des römischen Dichters Vergil, durch Hölle und Fegefeuer zum Paradies – und das Werk entwickelt seine Kraft aus der Wechselwirkung seiner Eigenschaften, ein Geschichten- und Geschichtsbuch zu sein, zugleich eine moralische Anklageschrift, eine (eher lockere) theologische Parabel und etwas, das man heute wohl eine »Horrorkomödie« nennen könnte.
Dantes Hölle ist konzentrisch aufgebaut, und der erste Kreis, der nach dem Tor mit jener Inschrift, also der äußerste Kreis, ist ein nebliges Tal, wo all jene ziellos umherlaufen, welchen nichts vorzuwerfen ist, außer dass sie dummerweise keine Christen waren, weil sie zu früh lebten – oder zu früh starben.
Im zweiten Kreis der Hölle sind die Sünder versammelt, welche sich der Wollust und dem »Sturm der Leidenschaften« hingaben. Im dritten Kreis der Hölle heulen die, welche im Leben allzu gierig waren. Der vierte Kreis der Hölle ist den Geizigen und den Verschwendern vorbehalten – eine interessante Kombination. Im fünften Höllenkreis erhalten die Jähzornigen und Verdrossenen ihre Strafe (die Kombination ist wiederum bemerkenswert). Im sechsten Höllenkreis liegen die Ketzer (die »Anhänger Epikurs«) und Materialisten in Särgen – sie sind auch in der Hölle noch Leichen, denn was sonst soll einer sein, der meint, es gäbe nichts als das Diesseits, die Materie? Der siebente Höllenkreis, der Kreis der Gewalt, ist selbst wieder geteilt in einen Ring für die Mörder, einen für jene, welche sich ihr eigenes Leben nahmen, und im innersten Ring der siebten Hölle befinden sich die Gotteslästerer und, pardon, Sodomiten. Im achten der danteschen Höllenkreise dann hausen die Betrüger – und noch heute lässt es uns lachen, was Dante etwa von den Großkopferten Bolognas hält, wenn er sie im achten Höllenkreis verortet:
Und aus Bologna ist auf gleichem Pfad an diesen Qualort so viel Volk gekommen, als jetzo diese Stadt kaum Bürger hat.
(Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie, Teil 1: Die Hölle, 18. Gesang, Vers 20, Übersetzung hier und im Folgenden: Karl Steckfuß)
Dieser achte Höllenkreis ist wieder geteilt, diesmal in Gräben, in denen etwa die Wahrsager und Zauberer umherirren, mit den Köpfen falsch herum aufgesetzt, oder die Schmeichler im Kot sitzen und korrupte Beamte in kochendem Pech stehen – und die Teufel haben sichtlichen Spaß daran, die Korrupten ins siedende Pech zu werfen:
»Von Lucca bring’ ich einen Ratsherrn mit«, schrie er, »auf, taucht ihn unter, Grimmetatzen! Und jene Stadt ist wohlversehn damit,
Drum hol’ ich gleich noch mehr von solchen Fratzen.
Gauner sind alle dort, nur nicht Bontur,
Und machen Ja aus Nein für blanke Batzen.
(Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie, Teil 1: Die Hölle 21:13f)
Was sagt es uns über die menschliche Natur, dass wir noch heute Dantes Wut gut verstehen? In einem der Gräben des achten Höllenkreises rotten die Fälscher vor sich hin, an ekelerregenden Krankheiten leidend, in einem anderen die Zwietrachtstifter, von Teufeln gepeinigt, und wir können heute nicht anders, als uns zu fragen, welche amüsante Höllenpein der Herr Dante wohl den Staatsfunkern, Propagandisten und Haltungsjournalisten zuteilen würde.
Und schließlich, der letzte, neunte Höllenkreis. Die Hölle der Verräter. Die Verräter sind im Eis eingefroren, der Kopf schaut hervor, manchmal der Oberkörper, einer geistert umher, da sein Körper noch lebt, nur seine Seele ist schon tot (es ist »Frate Alberigo«, siehe ital. Wikipedia – Die Hölle 33:38ff).
Die Verräter, die Verrat an ihren Verwandten übten. Die politischen Verräter. Zuletzt, die Verräter an Gott selbst – deren übelster der gestürzte Luzifer ist – der Teufel – Satan.
Der Anblick des Teufels lässt den in allen anderen Fällen sprachgewaltigen Erzähler seine Worte verlieren:
Wie ich da starr und heiser ward vor Grauen,
Darüber schweigt, o Leser, mein Bericht,
Denn keiner Sprache läßt sich dies vertrauen.
Nicht starb ich hier, auch lebend blieb ich nicht.
Nun denke, was dem Zustand dessen gleiche,
Dem Tod und Leben allzugleich gebricht.
(Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie, Teil 1: Die Hölle 34:8f)
(In dieser Sprachlosigkeit im Angesicht des Teufels wird übrigens eine Klammer geöffnet, die sich im 33. Gesang des dritten Teiles, des Paradieses, in Vers 41 wieder schließt, als der Erzähler die Heilige Dreieinigkeit erkennt, und sprachlos ausruft: »Wie kurz, wie rauh mein Wort für solch Gesicht! Und dem, was zu erschau’n mir ward beschieden, genügen wenig schwache Worte nicht.«)
Weder Verrat noch Verräter
Manches Wort, das eben noch schmerzte, hat heute seinen Biss verloren und gilt heute schon bald als Auszeichnung.
Ach, unschuldige Zeiten waren es, als »rechts« noch ein scharfes Wort war, und ich fragen konnte: »Wenn sie dich nicht »rechts« nennen, was machst du falsch?« – Die Frage steht nach wie vor, und »Rechts« ist keine inhaltliche Aussage mehr, zumindest nicht politisch, sondern schlicht das Gegenstück zu »Mitläufer ohne erkennbares Rückgrat«.
Die Dysphemismus-Mühle lässt Politiker und Propagandisten immer schärfere Worte für Abweichler und Andersdenkende abfeuern – inzwischen wurde selbst dem einst brutalen Vorwurf »Faschist« das Profil runtergefahren. Als »Faschist« gilt heute einer schon, der darauf besteht, dass Recht und Gesetz gelten.
Ein Wort aber brennt noch immer, und dieses Wort ist: Verräter.
Eine alte Redensart besagt, die Menschen würden »den Verrat lieben, aber den Verräter verachten«, doch mein Eindruck ist, dass weder noch so wirklich geliebt wird.
Das Kampfwort »Verrat« findet sich etwa im Kampfbegriff »Volksverräter«, wie er von Karl Marx, Rosa Luxemburg oder Pegida gegen politische Gegner eingesetzt wird. In Thüringen versuchte die CDU sich im Zauberstück, den Mann von der umbenannten SED wieder an die Macht zu bringen, ohne dass AfD und Wähler sie des »Verrats« zeihen könnten (siehe etwa welt.de, 3.3.2020).
Das Wort »Faschist« aus der DDR-Rhetorik schockt also nicht mehr, auch »Mauermörder« erschreckt nicht mehr (wohl auch weil innerhalb der umbenannten SED der Bundesrepublik Deutschland die »Schuld« an den Mauermorden gegeben wird), doch »Verräter«, das schmerzt immer noch.
Bruch eines Vertrauensverhältnisses
Wenn die Pegida sich bei Karl Marx und Rosa Luxemburg bedient, und frech der Regierung bescheinigt, »Volksverräter« zu sein, dann sorgt das noch immer für Empörung – warum?
Der Duden beschreibt die Bedeutung von »Verrat« so:
Bruch eines Vertrauensverhältnisses, Zerstörung des Vertrauens durch eine Handlungsweise, mit der jemand hintergangen, getäuscht, betrogen o. Ä. wird, durch Preisgabe einer Person oder Sache
(duden.de/rechtschreibung/Verrat )
Es ist durchaus auffällig, dass dem Vorwurf des Verräter-Seins heute selten durch Entkräften begegnet wird, sondern durch Tabuisierung.
Man könnte ja widersprechen: »Nein, es ist nicht wahr, dass Person X das in sie gelegte Vertrauen gebrochen hat! Es ist nicht wahr, dass Person X uns getäuscht hat, dass X unsere gemeinsame Sache hintergangen hat!« – Nein, man lässt sich auf keine Debatte ein, man antwortet vielmehr: »Schweig, das darfst du nicht sagen! Das darfst du nicht denken! Das darf man nicht fragen!«
Roh oder künstlerisch verfeinert
Es sind nicht die Diebe und Mörder, die Dante in die innerste und letzte Hölle wirft, nicht die Wollüstigen, nicht einmal die Gotteslästerer – es sind die Verräter.
Wer Kaufmann ist (oder eine Kauffrau, klar), der einmal von einem Geschäftspartner betrogen wurde, wird nie wieder frei und mit ganzem Vertrauen eine Partnerschaft eingehen. Der eine Verrat wird immer in seinem Hinterkopf bleiben, als Möglichkeit weiteren Verratenwerdens.
Ein Mensch, der seinen Ehepartner beim Betrug erwischt hat, der verraten wurde, wird nie wieder derselbe Mensch sein und er wird sein Leben lang diese und jede andere Beziehung immer im Schatten jenes Verrats sehen.
Wie wäre es nun mit einem Volk, wenn in ihm die Furcht wachsen sollte, von seinen Mächtigen verraten worden zu sein? Und was, wenn dieses Gefühl nicht so einfach mit Hinweis auf die Fakten entkräftet werden kann?
Es sind zwei Dimensionen, die den Menschen vom Tier unterscheiden – die innere Welt der bewussten Gefühle und abstrakten Gedanken, ob roh oder künstlerisch verfeinert – und es ist die äußere Welt, die Gesellschaft, in der Menschen einander stärken, einander vertrauen, voneinander klüger werden. Der große Verrat zerstört die Hälfte dessen, was Menschen zu Menschen macht – der große Verrat zerstört unser Vertrauen in die Gemeinschaft – und damit die Gemeinschaft selbst.
Nationen, in denen die Regierung die ausgesprochenen und unausgesprochenen Vereinbarungen bricht, tragen in sich was es braucht, den Menschen die Hölle auf Erden zu bereiten.
Wenn einer dich einen »Verräter« nennt, solltest du schon mehr und besseres entgegnen können, als nur ihm Strafe fürs Aussprechen anzudrohen.
Für die Weisheit der Alten
Dantes Inferno ist natürlich »nur« der erste Teil seiner Göttlichen Komödie. Es geht weiter, und es wird gut! – Gesang 34 endet mit diesen Worten:
Da blickte durch der Felsschlucht obre Rundung
Der schöne Himmel mir aus heitrer Ferne,
Und eilig stiegen wir aus enger Mundung
Und traten vor zum Wiedersehn der Sterne.
(Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie, Teil 1: Die Hölle 34:46f)
Der zweite der drei Teile ist im Deutschen mit »Das Fegefeuer« betitelt (der dritte mit »Das Paradies«), und er beginnt so:
Zur Fahrt in bess’re Fluten aufgezogen
Hat seine Segel meines Geistes Kahn,
Und läßt nun hinter sich so grimme Wogen.
(Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie, Teil 2: Das Fegefeuer 1:1))
Der Abgrund, in den wir heute schauen, ist die Angst, von eben den Gestalten verraten worden zu sein, denen wir unser Schicksal anvertrauten (und die wir mehr als fürstlich dafür bezahlen), weiter zu denken als wir und die Verantwortung zu tragen, wo unsere Schultern zu schwach sind.
»Laßt, die ihr eingeht, jede Hoffnung fahren«, so liest Dantes Erzähler über dem Tor zur Hölle – doch er ist erst eingetreten und dann wieder hinausgegangen.
Dantes Erzähler wird von Vergil begleitet, stellvertretend für alte Weisheit, und dennoch hat er seine eigene Überzeugung (in Dantes Fall: zutiefst konservativ christlich), die anders als die des römischen Heiden Vergil ist.
Das Gefühl, verraten worden zu sein, das ist ein Stück der Hölle. Eine Regierung aber, die ihr Volk verraten würde, die könnte die Hölle hervorbringen.
Merkels Macht-Taktik wurde zu den neuen deutschen Lebenslügen. Im Text »Merkels eskalierte Facebook-Party« beschrieb ich, wie diese Lügen sich selbst als solche zu entlarven beginnen. Sicher, Propaganda und machtfreundliche Medien werden versuchen, die Lügen als Wahrheit zu verkaufen und den Bruch des Amtseids als alternativlos – doch die Tünche, die es braucht, die Rissen in den Mauern zu verkitten, die wird mehr, und sie wird täglich teurer, täglich weniger wirksam.
Wir wollen nicht auf den echten Dante schauen, der im Exil starb, wir wollen auf den Dante und Erzähler der Göttlichen Komödie schauen.
Dantes Schiff hat, so schreibt er, nachdem er aus der Hölle heraufstieg, seine Segel zur »Fahrt in bess’re Fluten aufgezogen«, und am Ende jener Komödie, wurde alles gut, „durch Liebe, die beweget Sonn’ und Sterne.«
Ist es wahr? Ist es sicher, dass es durch Liebe gut wird, dass es gut werden kann? – Es wäre unzweifelhaft schön, und unzweifelhaft schön ist allemal besser als Verrat und Hölle.
Dieser Beitrag erschien zuerst auf dushanwegner.com
Dushan Wegner (geb. 1974 in Tschechien, Mag. Philosophie 2008 in Köln) pendelt als Publizist zwischen Berlin, Bayern und den Kanaren. In seinem Buch „Relevante Strukturen“ erklärt Wegner, wie er ethische Vorhersagen trifft und warum Glück immer Ordnung braucht.