Im Jahr 2006 veröffentlichte ich Der Crash kommt, in dem ich eine Finanzkrise voraussagte, hervorgerufen durch faule Immobilienkredite in den USA, einen insgesamt zu hohen Schuldenstand sowie eine Globalisierung, die zum Exzess getrieben wurde. Wahrscheinlich würde dieser Crash 2008 erfolgen, vielleicht schon 2007 oder spätestens 2010, schrieb ich damals. Der Crash würde eine handfeste Depression und eine Ära der De-Globalisierung einleiten. Vielleicht – das erwähnte ich nur nebenbei – würde es sogar Kriege geben. Dreizehn Jahre wartete ich, um ein Nachfolgewerk zu schreiben, Weltsystemcrash. Auch dieses Buch wurde ab Herbst 2019 zu einem Bestseller. In Weltsystemcrash analysiere ich, wie mittlerweile nicht nur die Finanzmärkte, sondern die ganze Welt aus den Fugen geraten ist.
Die Finanzkrise kam. Nach ersten Warnsignalen im Sommer 2007, die geflissentlich überhört wurden, brach sie im Herbst 2008 mit der Wucht eines Tsunami über uns herein. Panik machte sich breit. Für einige Wochen schien es, als könnten die Finanzmärkte, das Herz der globalisierten Wirtschaft, aussetzen. Ich wartete zum Beispiel vier Monate auf einen Scheck der Columbia University – er war einfach irgendwo im System stecken geblieben, weil die Banken Geld bunkerten. Und die Columbia University ist eine Institution allerhöchster Bonität. Meine Prognose machte mich in den Folgejahren in Deutschland und über die Grenzen unseres Landes hinaus bekannt. Ich wurde in den Medien herumgereicht und hielt in 10 Jahren an die 1000 Vorträge. Features über mich erschienen. Ich wurde zum „Krisenökonomen“.
Aber – die Depression blieb aus. Nach einem rapiden Einbruch des Welthandels im Jahr 2009 erholte sich die Wirtschaft rapide. Die Staaten und Notenbanken intervenierten in nie dagewesener Höhe. Banken wurden gerettet, Konjunkturprogramme aufgelegt, die Kapitalmarktzinsen auf immer neue Tiefs gedrückt. Die Weltwirtschaft wuchs weiter, wenn auch das Produktivitätswachstum aufgrund von immer mehr Staatsinterventionen drastisch zurückging. Wie die Dosis bei einer Droge mussten die Schulden und die Staatsinterventionen permanent erhöht werden, um dieses Wachstum aufrechtzuerhalten. Nach Schätzung der Ratingagentur S&P werden die Staatschulden bis Ende 2020 auf ein neues Rekordhoch von 35 Billionen Dollar steigen, fünf Prozent mehr als 2019. Und diese Schätzung erfolgte vor dem Ausbruch der Corona-Epidemie (vielleicht auch gepushte Hysterie, die den Regierungen ganz recht kommt, um weitere Zwangsmaßnahmen durchzusetzen?). Sechzig Prozent dieser Summe werden von den USA und Japan verantwortet. Mit Staatschulden von über 240 Prozent des BIP verfolgt Japan schon seit Einbruch der japanischen Aktien- und Finanzmärkte nach 1990 eine Politik des maßlosen Gelddruckens, die derjenigen der deutschen Reichsbank in der Weimarer Republik nicht mehr sehr nachsteht. Infolge der maßlosen Schuldenpolitik Donald Trumps und seiner Vorgänger hatte das amerikanische Haushaltdefizit 2019 eine Höhe von 1,1 Billionen Dollar und war Anfang 2020 dabei, für das Jahr um weitere 25 Prozent zu steigen.
Zudem griffen Staaten, getrieben durch mächtige Lobbys, immer massiver in die persönliche Freiheit ein, um wirtschaftspolitische Maßnahmen durchzusetzen. Eine, aber bei weitem nicht die einzige Maßnahme ist die Verdrängung des Bargeldes, mit deren Hilfe sich Negativzinsen besser durchsetzen und Bürger besser schleichend enteignen lassen. Die Bürgerlichen haben wenig Chancen, sich gegen die Allianz von hochverschuldeten Staaten, denen dies sehr entgegenkommt, und der e-Pay und e-Commerce-Lobby durchzusetzen, die durch die Privatisierung des öffentlichen Gutes Geld die Transparenz des Wirtschaftsverkehrs verringern und enorme Gewinnmargen durchsetzen können. Schon 2016 verwendete ich daher zur Charakterisierung dieser Zustände den Begriff DDR 2.0. Im selben Jahr schrieb ich ein Buch gegen die Bargeldabschaffung und nahm mit Hans-Joachim Starbatty und anderen an der ersten öffentlichen Demonstration meines Lebens teil.
Weniger als zwei Jahre nach der heißen Phase der Finanzkrise brach die Euro- und Staatsschuldenkrise über Europa herein. Das falsche Zwangskonstrukt des Euro hatte die ökonomischen Unterschiede zwischen dem Süden und dem Norden Europas vertieft, statt diese anzugleichen. Jahrelang hatten die meisten Ökonomen argumentiert, dass der Euro funktioniere, da die Zinsen zwischen den Ländern der Eurozone konvergierten. Was sie nicht bedacht hatten: In einer Währungsunion bedarf es der Mobilität von Waren und Dienstleistungen, Kapital und Arbeit (vgl. Robert A. Mundell, A Theory of Optimum Currency Areas, The American Economic Review, Vol. 51, No. 4. (Sep., 1961), pp. 657-665). In der Europäischen Union waren zuvor nur Waren und begrenzt Dienstleistungen mobil. Die Eurozone schuf nun die Mobilität von Kapital, nicht aber wirklich die von Arbeit. Die Südländer der Eurozone kamen nun in den Genuss der niedrigen Zinsen der traditionell stabileren Nordländer, so dass Kapital in den Süden und nach Irland strömte und dort Scheinblüten erzeugte, so zum Beispiel einen Immobilienboom in Spanien und Portugal, einen Konsumrausch in Griechenland, eine Staatschuldenorgie in Italien und einen künstlichen Investmentboom in Irland.
Wieder mussten Staatsprogramme aufgelegt und Banken gerettet werden. In Irland zum Beispiel war der Bankensektor so marode, dass die Staatschulden zwischen 2008 und 2012 von 86 auf 120 Prozent des BIP stiegen und infolgedessen der irische Staat zahlungsunfähig zu werden drohte. Mit diesem Erpressungspotential war es relativ leicht, EU-Gelder zu mobilisieren. Die politische Klasse in Europa hatte ein neues Projekt zur Rechtfertigung der eigenen Existenz, die sogenannte „Eurorettung“. „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa“, so schallte es uns mantraartig um die Ohren. Und wenn dies nicht reichte, dann wurde gleich noch Krieg und Frieden mit ins Spiel gebracht. Dabei wurde weder der Euro gerettet, noch Europa, und um Krieg und Frieden ging es schon gar nicht.
Verschiedene neue Institutionen wie zum Beispiel der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) wurden gegründet, um weitgehend am politischen Prozess vorbei Staatsgelder mobilisieren und technokratisch verteilen zu können. Die Beamten dieser Institutionen genießen weitgehende Immunität vor Strafverfolgung. „Whatever it takes“, was immer auch nötig ist, würde man tun, so 2012 der Präsident der Europäischen Zentralbank Mario Draghi.
Die Eurorettungshysterie erreichte 2015 noch einmal einen neuen Höhepunkt – Griechenland war wieder einmal zahlungsunfähig geworden. Um lästigen politischen Diskussionen fortan aus dem Weg zu gehen, wurde im August 2015 noch einmal ein „Rettungspaket“ von 86 Milliarden Dollar vereinbart, so dass Griechenland bis heute insgesamt 278 Milliarden Euro – weit mehr als die Hälfte des gesamten griechischen BIP – zur Verfügung gestellt wurden. Gerettet wurden, wie auch bei den anderen Rettungspaketen, Banken, Finanzdienstleister, Reiche und politische Funktionseliten, während die Bürger die Rechnung zahlten. Das griechische BIP liegt nominal 2020 um ein Viertel unter dem von 2010, die Staatschulden haben ein neues Rekordhoch erreicht.
Die Target-Salden bei der Europäischen Zentralbank – Überziehungskredite der strukturell schwachen Südländer bei den stärkeren Nordländern – gingen nach Mario Draghis „whatever-it-takes“-Rede 2012 tatsächlich zurück. Mit diesen Krediten finanzierten die Südlander Importüberschüsse (also Exportdefiztre) und Kapitalexporte. Wenn ein vermögender Italiener also Immobilien in Berlin erwerben wollte, wurde das auch durch Target-II-Salden finanziert. Es gelang, die Kapitalflucht zeitweilig einzudämmen. Seit 2015 steigen die Target-II-Salden aber wieder und haben neue Höchststände erreicht.
2020 steht die Eurozone in vielerlei Hinsicht schlechter da als zu Beginn der Eurokrise. Immer noch ist die Arbeitslosigkeit – besonders die Jugendarbeitslosigkeit – in den Ländern des Südens erschreckend hoch. Griechenland, Spanien, Portugal, Italien und Frankreich haben eine geringere Wirtschaftsleistung als vor Ausbruch der Krise. Das unter diesen Umständen junge Menschen aus den Ländern des Südens auf der Suche nach Arbeit in den Norden gehen, erhöht zwar die Mobilität des Faktors Arbeit (was für eine Währungsunion notwendig ist), aber so zynisch wollten wir Europa eigentlich nicht bauen. In Frankreich haben tiefe Einschnitte ins Sozialsystem zu den Aufständen der Gelbwesten geführt, die bis heute anhalten, und die nur mit massiver und brutaler Polizeigewalt unter Kontrolle gehalten werden können. Lediglich in Deutschland lässt sich ein leichter Anstieg der Wirtschaftsleistung verzeichnen. Aber auch der ist Lichtjahre entfernt von dem Wachstum, dass die USA in den letzten zehn Jahren hinlegten.
Am 31. Januar verließ Großbritannien nach langem Tauziehen zwischen Brexiteers und internationalistischen Eliten die Europäische Union. Zwar war der Euro nicht der Auslöser – Großbritannien war kein Mitglied der Eurozone – sondern die unkontrollierte Migration innerhalb der Europäischen Union. Aber mit Großbritannien geht eine relative leistungsstarke Wirtschaft, was den Druck in EU und Eurozone weiter steigen lassen wird.
Ein letzter Aufschub?
Schon mehrfach wurde seit der Finanzkrise der finale Kollaps vorausgesagt. Bis heute ist er nicht eingetreten. Auch ich habe im Januar 2018 auf dem Fondskongress in Mannheim vor einer erneuten Finanzkrise gewarnt, nachdem ich die Jahre davor sehr bullish für die Märkte war. Es bestünde eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Crash noch in der ersten Amtszeit von Donald Trump erfolgen würde. Tatsächlich erfolgte in der zweiten Jahreshälfte 2018 eine brutale und massive Korrektur, bei der große Indizes um 20 Prozent und mehr einbrachen und die Weltaktienmärkte zeitweilig über 18 Billionen Dollar an Wert verloren. Der Dezember war an den US-Börsen der schlimmste Dezember seit Ausbruch der Großen Depression. Aber- sowenig die Märkte mit dieser Korrektur gerechnet hatten, so wenig waren Sie auf die massive Erholung danach vorbereitet. Bereits im März 2019 hatten die US-Börsen ihre Verluste wettgemacht; der DAX folgte einen Monat später.
Die Trumpschen Steuerreformen, die Ende 2017 verabschiedet wurden, verschafften der US-Wirtschaft und damit auch der Weltwirtschaft noch einmal einen Aufschub. Der Reformen erfolgten nach klassischem republikanischem Muster: Steuern runter, Gesetze weg und Schulden hoch. Auch drosch Donald Trump – Populist, der er unzweifelhaft ist – auf Twitter massiv und gnadenlos auf die Fed und ihren Vorsitzenden Jerome Powell ein. Die Fed hatte 2016 mit dem Ausstieg aus der Niedrigzinspolitik begonnen und die Zinsen von Null bis auf immerhin 2,5 Prozent im Jahr 2019 angehoben. Sie sei das „einzige Problem der US-Wirtschaft“, man habe dort „keine Ahnung“, wäre „verrückt“ (loco) geworden. Ja, die Fed sei eine „größere ökonomische Bedrohung als China“. Im Sommer 2019 knickte Powell ein und begann die Zinsen wieder zu senken. Damit konnte ein Strohfeuer entfacht werden, das die US-Börsen noch einmal in ungeahnte Höhe trieb. Anfang 2020 scheint nun auch dieser Nachbrenner seine Wirkung zu verlieren. Im März 2020 schauen wir in den Abgrund.
Max Otte ist Investor, Fondsmanager, Publizist und politischer Aktivist. Er hatte Professuren an der Boston University, der Hochschule Worms und der Karl-Franzens-Universität Graz inne und nahm einen Lehrauftrag an der Universität Erfurt wahr. Ende 2018 schied er freiwillig und mit Dank des Ministers als Beamter und Professor auf Lebenszeit aus, um sich ganz diesen Tätigkeiten widmen zu können. Otte hat über ein Dutzend Bücher geschrieben, darunter die Bestseller „Der Crash kommt“ (2006), eines der bestverkauften deutschen Wirtschaftsbücher aller Zeiten, und „Weltsystemcrash“ (2018).