Immerhin: Beim Vorsitzenden der CSU und bayerischen Ministerpräsidenten, Markus Söder, scheinen die jüngsten Umfrageergebnisse zum weiteren Abstieg der Union und Aufstieg der Grünen in der Wählergunst angekommen zu sein. In einem Interview mit der WELT AM SONNTAG prognostiziert er für die kommenden Bundestagswahl: „Der Kampf um Platz eins wird zwischen Schwarz und Grün ausgetragen“. Er verspricht deswegen den Lesern: „Wir werden mit den Grünen um das Kanzleramt kämpfen“. Indirekt deutet er dabei an, dass er für diesen Kampf das von der CDU-Führung inszenierte „Schwarz-Grün als Modell“ für den falschen Weg hält, weil das „auch schnell zu Grün-Schwarz“ führen könne. Dies würde die Union dann laut Söder zerreißen.
Allein schon der Umstand, dass die derzeit mit knapp neun Prozent kleinste im Bundestag vertretene Partei von einem der beiden Vorsitzenden der mit 33 Prozent größten Partei zum neuen Hauptgegner im Kampf um das Kanzleramt erklärt wird, ist ein in der Geschichte der Bundesrepublik bislang erstmaliger Vorgang. Er ist nicht zuletzt das Ergebnis der mittlerweile seit rund zwei Jahren fortgeführten Großen Koalition (GroKo), an der neben der SPD und der CDU auch die CSU unter der Führung von Söder beteiligt ist. In diesem Zeitraum ist es den Grünen gelungen, nicht nur in den Umfragen, sondern auch bei den zwischenzeitlich durchgeführten Europa- und Landtagswahlen so stark zuzulegen, dass sie nun selbst vom Vorsitzenden der CSU zum Hauptkonkurrenten der Union ausgerufen werden müssen.
Dieser bis heute andauernde Friedensschluss ging schon bei den bayerischen Landtagswahlen im Herbst 2018 mit einem deutlichen Erstarken der Grünen einher. Sie gewannen insgesamt 680.000 Wähler hinzu, davon 170.000 von der CSU, die insgesamt rund 10 Prozentpunkte schlechter abschnitt als 2013. Wie Söder angesichts dieser Zahlen und dem seitdem weiter anhaltenden Aufstieg der Grünen zu der Auffassung kommt, die Union als Ganzes könne als Volkspartei nur überleben, wenn CDU und CSU sich „gegenseitig unterhaken“ und sich als „einig und geschlossen“ präsentieren, bleibt in dem Interview ebenso sein Geheimnis wie die Antwort auf die Frage, worauf diese Einigkeit denn inhaltlich gründen soll. Auf einer „weltoffeneren“ oder einer restriktiveren Asyl- und Migrationspolitik, auf einem schnelleren oder einem langsameren Ausstieg aus der fossilen Stromerzeugung, aus einer Beibehaltung des Ausstiegs aus der Atomenergie oder einem Wiedereinstieg, aus einer weiteren Zentralisierung der EU oder ihrer Dezentralisierung, aus dem weiteren Ausbau von finanziellen Transferverpflichtungen innerhalb der EU oder deren Rückbau, aus einer weiteren Forcierung der Quotenpolitik bei der Besetzung von Positionen in Politik, Verwaltung und Wirtschaft oder einer Rückkehr zum Leistungsprinzip ? Alles Fragen, die innerhalb der Union höchst umstritten sind und dort nach einer Klärung verlangen.
Statt sich in diesen Fragen eindeutig zu positionieren, beschwört Söder ein weitgehend inhaltsleeres „modern-liberal-konservatives und ökologisches Gedankengut“, mit dem die Union „stärkste politische Kraft bleiben“ könne. Auf seiner Grundlage solle spätestens nach der Wahl des neuen CDU-Vorsitzenden Ende April jeglicher Richtungsstreit innerhalb der Union beendet werden. Sollte sich dort also Armin Laschet durchsetzen, der schon erklärt hat, dass er die bisherige politische Linie der CDU in den innerparteilich höchst umstrittenen Politikfeldern fortsetzen möchte, dann darf er auf die vorbehaltlose Unterstützung des CSU-Vorsitzeden zählen. Sollte sich hingegen Merz durchsetzen, der einen Richtungswechsel und eine Erneuerung der CDU anstrebt, gilt das Gleiche auch für ihn.
Sollte Söder Wort halten, dürfen die Wähler nach dem 24. April gespannt sein, in welche Richtung er seine Partei steuert. Sein Verhalten gleicht dem eines Seglers, dem der Wind direkt aus der Richtung des von ihm anvisierten Ziels entgegenbläst. Er muss sein Boot deswegen immer wieder mittels einer Wende durch den Wind in eine andere Richtung steuern, um sich so mittels des Kreuzens auf Umwegen langsam dem Ziel zu nähern. Söder wartet deswegen im Moment noch ab, wohin sich der Wind am 24. April drehen wird, um zu wissen, welchen neuen Kurs er mit der CSU gegebenenfalls steuern muss, damit die Union wieder im Hafen des Kanzleramts landen kann. Auf See ist dieses Vorgehen nicht nur zwingend und bei guter Seemannschaft meist auch von Erfolg gekrönt. In der Politik läuft man bei all den Wenden hingegen Gefahr, immer mehr der eigenen Wähler zu verlieren, die nicht mehr wissen, wohin die Reise eigentlich gehen soll.
Ans angestrebte Ziel kommt man so in der Politik, im Unterschied zum Segeln, eher nicht. Das Kanzleramt selbst ist zwar der Union, nicht aber ihren Wählern ein so lohnenswertes Ziel, für das sie bereit wären, mal in die eine, mal in die andere Richtung zu fahren. Sie bevorzugen eher Parteien, die den einmal eingeschlagenen Kurs beibehalten und ihre politischen Inhalte nicht bedingungslos dem Ziel des Regierens unterordnen. Auch die Grünen haben im Laufe ihrer vierzigjährigen Geschichte so manche politischen Wenden vollzogen und dabei einige Hochs wie auch Tiefs erlebt. Und auch die Grünen sind, wie alle Parteien, gerne bereit, politische Inhalte der Aussicht auf Regierungsämter zu opfern, wenn diese erst einmal in greifbare Nähe gerückt sind. Anders als die Union steuern sie seit der letzten Bundestagswahl aber einen weitgehend klaren Kurs in Richtung einer möglichst „weltoffenen“ Asyl- und Migrationspolitik, einer weiteren Zentralisierung der EU, einem weiteren Ausbau der EU zur Transferunion, einer planwirtschaftlichen Umwelt- und Klimapolitik und einer Quotenpolitik nicht nur für Frauen, sondern für weitere „Opfer“ tatsächlicher oder auch nur vermeintlicher gesellschaftlicher Diskriminierung.
Während immer mehr Wähler die klare Richtungsfestlegung der Grünen mit ihrer Stimmabgabe für sie belohnen, gehen der Union demgegenüber aufgrund ihres Opportunismus und ihrer Richtungslosigkeit immer mehr Stamm- wie auch Wechselwähler verloren. Dieser Prozess wird wohl kaum damit zu stoppen sein, dass die Union weiterhin nach außen Geschlossenheit und Einigkeit demonstriert, wo es sie nach innen nicht mehr gibt. Söders Diagnose, dass die Grünen das Kanzleramt erobern könnten, ist zwar richtig, seine von ihm gegen diese Gefahr praktizierte Therapie der bedingungslosen Geschlossenheit dagegen nicht. Sie gleicht eher dem Vorschlag eines Ehe-Therapeuten, der einem Ehepaar, das sich in zentralen Fragen seines gemeinsamen Lebens schwer zerstritten hat, empfiehlt, gegenüber Verwandten, Freunden und Nachbarn so zu tun, als führe man eine harmonische Ehe und einem der Ehepartner empfiehlt, sich den Vorstellungen des anderen um des lieben Friedens willen einfach unterzuordnen.