Der wichtigste Roman der italienischen Literatur sind die „promessi sposi“, die Brautleute. Früher musste jeder italienische Schüler dieses Werk von Alessandro Manzoni lesen. Die Geschichte spielt im 17. Jahrhundert, sie handelt wie so oft von zwei Liebenden, die ungewollt getrennt werden. Renzo und Lucia müssen allerlei Hindernisse bestehen, weil der Feudalherr ihre Heirat verhindern will, bis sie zuletzt doch noch glücklich heiraten können. Die „promessi sposi“ sind aber nicht nur ein Bildungsroman, der die italienische Standardsprache von heute maßgeblich beeinflusste; sie sind zugleich ein Historienroman, der in seiner präzisen Darstellung ein Novum war. Eines der berühmtesten Kapitel beschreibt die Pest des Jahres 1630 in Mailand. Goethe ließ sich trotz der guten Rezension des Buches dazu hinreißen, Manzoni für das „umständliche Detail“ bei Dingen „widerwärtiger Art“ zu kritisieren. Die Pestdarstellung, die als ein Glanzpunkt italienischer Prosa gilt, wollte der Dichterfürst in einer deutschen Übersetzung getilgt wissen.
Mailand ist heute auch der Sitz der Brera, jener italienischen Galerie, in welcher der „Kuss“ von Francesco Hayez ausgestellt wird, der als einer der berühmtesten Beiträge italienischer Malerei des 19. Jahrhunderts gilt. Er hat vielerorts Einzug in die Popkultur gefunden oder wird als Kitsch vermarktet. Hayez Abschied zweier Liebenden gilt oftmals als malerische Umsetzung von Manzonis Werk. Ein gefundener Ansatzpunkt für den Spott der Italiener, die das Motiv aufgriffen: mit Mundschutz und Desinfektionsmitteln als StreetArt.
Mailand nimmt heute eine wichtige Stellung beim Ausbruch der Corona-Epidemie in Europa ein. Die Millionenmetropole liegt unweit der „roten Zone“ von Codogno-Castelpusterlengo, die am Wochenende von der Außenwelt isoliert wurde. Ein Übergriff auf die lombardische Hauptstadt könnte eine Kettenreaktion in Gang setzen. Ein Ausmaß wie die von Manzoni beschriebene Pest dürfte sie nicht haben. Das Chaos allein dürfte jedoch die Vorstellungskraft der Gegenwart sprengen. Die Vergangenheit kannte die Krisen aus Dürre, Hunger und Seuche besser als der Zeitgeist.
Mailand spielt aber auch noch eine andere Rolle. Denn es waren Forscher von der Universität dieser Stadt, die kürzlich einen Verdacht bestätigten, der schon länger kursierte. Eine epidemiologisch-molekularbiologische Studie untersuchte 52 Genome von COVID-19. Daraus schlussfolgerten die Wissenschaftler: Der Ursprung von Sars-CoV-2 kann zwischen der zweiten Oktoberhälfte und der ersten Novemberhälfte 2019 eingegrenzt werden. Das ist deutlich früher als das, was die chinesischen Medien bisher kommuniziert haben. Erst Anfang Januar hatte China den Ausbruch einer neuen Krankheit zugegeben und später eingeräumt, dass es bereits Anfang Dezember neue Fälle gegeben hätte. Laut jetziger Forschungen war auch das nicht richtig.
Vielmehr – so berichtet die Tageszeitung Repubblica – habe sich das Virus ab Dezember erst mit besonderer Beschleunigung verbreitet. Eine Verdopplung der Infizierten fand alle vier Tage statt. Warum sich das Virus ab dieser Zeit besonders stark verbreitete, ist noch nicht abschließend geklärt. Die Mailänder Wissenschaftler warfen verschiedene Möglichkeiten auf: bessere Anpassung an die Verbreitung von Mensch zu Mensch, besondere Eigenschaften der ersten Übertragungsopfer oder einer Virusvariation bzw. Mutation. Die vorherigen zwischenmenschlichen Übertragungen seien jedenfalls weniger effizient gewesen. Die große Anpassungsfähigkeit bestätigten chinesische Forscher, die nun auch Virus-Spuren in Tränen gefunden haben. Zugleich werde die Neuinfektion von eigentlich geheilten Patienten besorgt beobachtet.
Freitagabend meldete das italienische Gesundheitsministerium 888 Infizierte, davon 46 Geheilte und 21 Tote. 531 davon fallen allein auf die Lombardei, das wirtschaftliche Rückgrat des Landes. Obwohl bereits Stimmen laut werden, die zu einer „langsamen Normalisierung“ aufrufen, haben die Regionen Lombardei, Venetien und Emilia-Romagna vereinbart, ihre Schulen vorerst geschlossen zu halten. Premier Giuseppe Conte zeigte sich über Vorstöße zur Lockerung der Restriktionen verärgert: „Diejenigen, die heute sagten, man müsse alles wieder öffnen, haben gestern noch gesagt, man müsse alles schließen, inklusive Schengen.“
Eine mögliche, künstlich herbeigeführte Verringerung der Epidemie könnte in einem Vorstoß von Giuseppe Ippolito vom Institut Spallanzani liegen: „Wir arbeiten daran, in Zukunft nur noch klinische Fälle zu melden und nicht mehr alle Infektionen.“ Das entspräche WHO-Standards. In Italien richtete sich überdies Kritik gegen die Masse von Corona-Tests. Bis Freitagmittag hat Italien 11.085 Corona-Tests durchgeführt. In Deutschland und Frankreich waren es im Vergleichszeitraum nur wenige hundert. Die Angst davor, man könne in Europa den Schwarzen Peter zugeschoben bekommen, weil man transparenter vorgeht als mancher Nachbar, wiegt in Italien offensichtlich schwer.