Tichys Einblick
Seid ihr noch ganz bei Trost?!

Der Anfang vom Ende der Meinungsfreiheit und Toleranz

Deutschland war einmal Maß und Mitte. Heute sind wir nicht mal Mittelmaß.

Was ist nur aus unserer guten alten Streitkultur geworden?! Früher flogen die Fetzen, und wenn man halbwegs zivilisiert miteinander umging, regelte die Toleranz das Niveau. Da prallten Standpunkte aufeinander, die alles gaben – und Streiter, die sich nichts schenkten. Heute ist aus gegenseitiger Toleranz längst allgemeine Akzeptanz geworden, eine Mogelpackung erster Güte. Was nicht passt, wird passend gemacht: Personen stigmatisiert, Positionen tabuisiert. Selbstgerechtigkeit kennt keine Grenzen. Was und wen wir nicht akzeptieren, kommt auf den Index. Und überhaupt: Zu viel Fakten stören nur. Seid ihr denn noch bei Trost, das Debattenkultur oder gar Meinungsstreit zu nennen?!

»Laaaaangweilig«, so die Bilanz der Redaktionsleiterin der Evangelischen Nachrichtenagentur idea, Daniela Städter, über eine der typischen Diskussionsveranstaltungen des Dortmunder Kirchentags im Juni 2019. Kuscheltalk wäre noch untertrieben: ein Gespräch zwischen der Vorsitzenden der (grünen) Heinrich-Böll-Stiftung und dem Juso-Chef. Eine rot-grüne Selbstbestätigung in wohliger Lagerfeueratmosphäre sei das gewesen, pure Selbstvergewisserung vor Publikum. Langweiliger geht es nicht, die beiden waren sich zu 99 Prozent einig.

Eine der Gähn-Thesen: »Wir brauchen ein Mainstreaming für Klima, wie wir es in Genderfragen haben.« Wer tosenden Applaus bekommen wollte, musste nur Gender oder Greta sagen und »Fridays for Future« über den grünen Klee loben. Gegenpositionen hatten es nicht nur schwer, sie wurden gar nicht erst gehört.

EKD in schlechter Tradition
Die demokratie-zerstörende Schlusspredigt des Kirchentags
Die AfD oder Messianische Juden sperrte man gleich ganz aus, beim Seminar »Vulven malen«, also das weibliche Geschlechtsteil kreativ darstellen, wurde gar die Presse ausgeschlossen. Man stelle sich vor, das hätte eine bestimmte Partei gemacht. BILD fragte angesichts der »Vulven« spöttisch: »Noch Kirchentag oder schon Sexmesse?« Hauptsache, wir bleiben unserem deutschen Ruf treu: Exportweltmeister bei der Ausfuhr von Hochmoral.

Daniela Städters Kirchentagsbilanz ist ein Paradebeispiel für die geistesgeschichtliche Lage, in der wir uns gerade befinden: »Der Kirchentag will Seismograf sein, eine Zeitansage. Und die ist er auch: für geringe Debattenkultur, Wohlfühlen in Blasen [und Biotopen und Paralleluniversen / Anm. des Autors], wenig Christus-Botschaft.« Insofern stimmt das mit der Zeitansage, denn so läufts inzwischen selbst in Talkshows. Oder höchstens: Alle gegen einen. Man hat die Debatte abgeschafft, weil der Mainstream keinen Gegner duldet.

Aus Diskussionsdemokratie ist Meinungsdiktatur geworden. So finden auf unliebsame Universitätsprofessoren regelrechte Hexenjagden statt, unerträgliches Mobbing oder der Ausschluss von jeglicher Kommunikation. Ganz nach dem Motto: Wer etwas gegen Gender oder den Islam hat, kann auch nicht mehr Mathematik oder Sinologie lehren.

Und wer etwas aus seinem Spezialgebiet wissenschaftlich aufarbeiten will, sieht sich »Rufmord und Hatz« ausgesetzt, wie die renommierte Islamexpertin der Johann Wolfgang Goethe Universität Frankfurt/Main Susanne Schröter beklagt. Sie bekam die Gnadenlosigkeit des Mainstreams zu spüren, weil sie es doch tatsächlich gewagt hatte, an ihrem Institut eine Veranstaltung zum Thema »Das islamische Kopftuch – Symbol der Würde oder der Unterdrückung?« zu planen. Die Intoleranz der Toleranten macht selbst Wissenschaft nicht mehr möglich.

Denk- und Sprechverbote
Kesseltreiben gegen eine islamkritische Frankfurter Professorin
Umso erstaunlicher, wie klar sich der 67. Deutsche Hochschulverbands-Tag 2017 in einer Resolution zur Streit- und Debattenkultur an Universitäten äußerte. Was vor zehn Jahren noch völlig normal gewesen wäre, gilt heute schon als super mutig. So rasend schnell hat der Mainstream die Streitkultur niedergewalzt. »Universitäten sind Orte der geistigen Auseinandersetzung. Der Streit um das bessere Argument gehört zum Wesenskern der Universität. Die menschliche Suche nach Wahrheit und Erkenntnis ist ohne Widerspruch und das kontroverse Ringen um Argumente und Beweise nicht vorstellbar. Vor diesem Hintergrund beobachtet der Deutsche Hochschulverband (DHV) mit wachsender Sorge, dass in der freien Welt die Debatten- und Streitkultur erodiert. Verantwortung dafür trägt auch ein Meinungsklima, das im Streben nach Toleranz ›Political Correctness‹ fordert.«

Weiter heißt es in der Resolution: »›Political Correctness‹ soll das Bewusstsein für einen verantwortungsvollen Sprachgebrauch und einen sensiblen Umgang mit Minderheiten schärfen. Dieses Anliegen ist berechtigt. Wenn jedoch abweichende wissenschaftliche Meinungen Gefahr laufen, als unmoralisch stigmatisiert zu werden, verkehrt sich der Anspruch von Toleranz und Offenheit in das Gegenteil: Jede konstruktive Auseinandersetzung wird bereits im Keim erstickt. Statt zu Aufbruch und Neugier führt das zu Feigheit und Anbiederung.«

Es muss wohl einiges passiert sein, wenn Selbstverständliches plötzlich zum Anlass einer solchen Erklärung wird. Dass Universitäten Orte des Meinungsstreites sind, sollte eigentlich keiner Erwähnung bedürftig sein. Wie konnte es so weit kommen, dass bestimmte Meinungen – zum Beispiel zu Globalisierung, Gender, umwelt- oder geschlechterpolitischen Fragen oder dem Islam – einfach ausgegrenzt werden?

Da wird selbst die Links-Feministin Alice Schwarzer plötzlich als »Nazi« beschimpft, weil sie gegen das islamische Kopftuch ist. Und sonst beliebte Referenten werden mit einem Bannstrahl belegt, der sie von jeder Diskussion ausschließen soll. Selbst der »Papst« der Evolutionstheorie, der Biologe Professor Ulrich Kutschera, wird keineswegs von frommen Kreationisten, sondern von linken Gesinnungsgenoss*innen geschnitten, weil er Gender für unwissenschaftlichen Blödsinn hält.

Politische Satire im Klimanotstand
Dieter Nuhr ist ein Klima-Was?
Der bekannte Moderator und Kolumnist Jörg Thadeusz, alles andere als ein Konservativer, beklagt die Reaktionen auf seinen Artikel in der Berliner Morgenpost »Die Superguten haben ihren inneren Saudi nicht im Griff« und fragt: »Kann das Richtige das Recht überragen?« Er hatte nur gewagt anzumerken, dass in Sachen Mittelmeerflüchtlinge und Seenotrettung »italienisches Recht zu beachten ist, auch wenn eine sehr unsympathische Regierung dort momentan die Gesetze gestaltet«. Man solle am besten noch warten »mit der berührenden Verfilmung des Lebens der 31 Jahre alten Retterin Carola Rackete«. Doch den »Fiebrigen in den sozialen Netzwerken« war das schon genug, sie überzogen Thadeusz mit einem Tsunami-artigen »Shitstorm«.

Sein Fazit: »Einige der deutschen Superguten haben ihren inneren Saudi nicht im Griff. Sie kloppen drauf wie Religionspolizisten in Riad … Statt einem Austausch [der Argumente] blockieren aber nur die Empörungsbremsen … Die sehen mich längst beim völkischen Brunch mit den schlimmsten Bratzen von der AfD.«

Harald Schmidt bilanziert seine beachtliche Fernsehkarriere mit der Feststellung, dass viele seiner Satire- oder Komik sendungen heute gar nicht mehr möglich wären. Das, was ihn früher groß und beliebt gemacht hat, würde heute in den Shitstorms der a-sozialen Medien untergehen. Die Sprachpolizei hätte ihn der Guillotine ausgeliefert, noch bevor die erste Folge vorbei gewesen wäre. »Heute sorgt so etwas dafür, dass man in Sekundenfrist in den sogenannten ›sozialen Medien‹ die Rote Karte gezeigt bekommt. Mit den heutigen Maßstäben, auch der Political Correctness, der Sprachpolizei und des linksliberalen Mainstreams, hätte ich meine Show nach einer Woche abgenommen bekommen«, so Schmidt in einem ORF-Interview. Seine Harald Schmidt Show lief von 1995 bis 2012 bei Sat. 1 und zwischen 2004 und 2007 sowie von 2009 bis 2011 jeweils in überarbeiteter Fassung in der ARD. Von ihm aufs Korn genommen zu werden, sorgte jedes Mal für einen Bekanntheitsschub, gepaart mit einer Buchverkaufsexplosion. Ich weiß, wovon ich rede …

Das Schlimmste ist die Intoleranz der angeblich Toleranten. Der revolutionäre Satz des französischen Philosophen Voltaire ist längst zum Kalenderspruch fürs Poesiealbum verkommen: »Ich hasse, was du sagst, aber ich würde mein Leben dafür geben, dass du es sagen darfst.« Das ist echte Toleranz, die sogar aufeinanderprallende Wahrheitsansprüche erträgt. Selbst wenn ich die Position meines Gegenübers verachte, achte ich dennoch mit Respekt seine Person. Doch inzwischen ist Akzeptanz die neue Toleranz. Der Mainstream einer Minderheit verlangt längst nicht mehr, »nur« toleriert zu werden. Er will auch in seiner Position akzeptiert werden. Und mehr: Er will, dass seine Position allgemein akzeptiert wird. Alles andere wäre ja Diskriminierung. Damit ist jede Überprüfung auf den Wahrheitsgehalt einer Position ausgeschlossen. Wahr ist, wo das Herz des Zeitgeistes schlägt.

Keine Diskussion mehr an Universitäten
Diskriminierungsfreiheit statt Meinungsfreiheit
Damit erschlägt man jeglichen faktischen Widerspruch durch Emotion. Gegen die Stimmungsdiktatur kommt niemand an. Um es auf den Punkt zu bringen: Man durfte 2015 nicht gegen die herrschende Willkommenskultur sein. Selbst kleinste kritische Nachfragen (inzwischen alles bewahrheitet, wirklich alles!) wurden als intolerant abgeschmettert, man hatte den Mainstream zu akzeptieren. Punkt!

Das Neue an der »Streit«-Kultur beschreibt der Gießener Theologe Professor Christoph Raedel so: »Statt das Recht anderer Menschen anzuerkennen, ihre Überzeugungen und Praktiken zu haben, verlangt die ›neue Toleranz‹, die verschiedenen Überzeugungen und Praktiken anderer Menschen als gleichwertig (!) zu akzeptieren.« Das Paradox, was nur wenige durchschauen: Dadurch wird Wahrheit nicht abgeschafft, sie wird »nur« neu definiert. Der Anspruch, alle Überzeugungen seien gleichermaßen gültig und gleich wertvoll, ist selbst eine Wahrheitsbehauptung. Wenn aber alles gleich gültig ist, wird alles gleichgültig.

Deshalb gibt’s auch keinen Streit mehr, weil die Meinungsdiktatur Gegenpositionen erst gar nicht zulässt. Es hilft schon persönliche Betroffenheit und empörtes Beleidigtsein, um unter den Schutzmantel der Gutmenschen zu kriechen. »Je beleidigter und empörter eine Gruppe auftritt, desto sicherer sind ihr die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit und die Schutzangebote des Staates« (Jan Fleischhauer).

Um das alles unterschwellig auf möglichst leisen Sohlen zu erreichen, bedient man sich der uralten Technik von Propaganda und Kulturrevolution: Die Sprache muss reguliert werden. »Von jeher ist die Kontrolle des öffentlichen SprachCodes ein Kennzeichen totalitärer Systeme gewesen« (Professor Rädel). Man bedenke nur, was heute bereits alles als »Hass-Rede« bezeichnet wird. Letztlich ist das eine Verharmlosung der wirklichen Hassreden wie Goebbels Tirade gegen die Juden und für den totalen Krieg im Berliner Sportpalast vom Februar 1943.

Wenn Identität zum einzigen Lebenssinn wird
Bestseller-Autor Douglas Murray über den Wahnsinn der Massen
Die britische Polizei hat eine Website eingerichtet, auf der man anonym sogenannte Hassverbrecher melden kann. Definiert ist »Hass« nicht, es kann bereits »unfreundliches Verhalten gegenüber einem Angehörigen einer Minderheit« sein, ohne den Fall überprüfen zu können. Kritiker sprechen bereits von einer »hate crime industry«, von Denunzianten, die ihre Mitbürger zu einem Volk von Hassverbrechern machen wollen.

In den USA gehört es zu den natürlichen Standardkomplimenten, das Englisch eines ausländischen Touristen über den grünen Klee zu loben, und sei es das größte Geholpere. Ich lache mich jedes Mal schief, wenn mein unbeholfenes Gestammel als »great« bejubelt wird. Nach heutiger Lesart ist das bereits eine »Mikroaggression«, weil es mich ja ausgrenzt.

Eine ganz neue Marotte: In Großbritannien verlangen Studenten (besser: Student*innen oder gar Studierende) immer häufiger »Warnhinweise für verstörende Textstellen«. Die FAZ schrieb: »Die Shakespeare-Expertin Katherine Rundell, die bis vor wenigen Jahren selber der linksbewegten Studentenschaft Oxfords angehörte, sieht sich neuerdings in ihren Seminaren der Forderung nach ›trigger warnings‹ ausgesetzt. ›Viele meiner Studenten wollen gewarnt werden, wenn eine Stelle naht, die irgendetwas in ihnen anrichten könnte‹, sagt sie und nennt als Beispiel die Vergewaltigung Lavinias in Shakespeares Titus Andronicus.« Der Journalist Brendan O’Neill beobachtet die Entwicklung der ›neuen politischen Korrektheit‹ an den britischen Universitäten mit wachsender Sorge: »… hinter dem ›Recht auf Behaglichkeit‹ (right to be well) verstecke sich letztlich das Recht, ›nie von irritierenden Ideen herausgefordert oder von Angriffen aufgerüttelt zu werden‹.«

Der streitbare jüdische Publizist Henryk M. Broder macht in ähnlichem Zusammenhang den ironischen Vorschlag: »Zu Beginn einer jeden Tagesschau, jeder Ausgabe des heute journals erscheint der Hinweis, dass der Konsum dieses Programms mit Risiken verbunden ist und Nebenwirkungen haben könnte – Gleichgewichtsstörungen, Übelkeit und kurze, aber heftige Anfälle von Verzweiflung … Serien wie Der Bergdoktor und Um Himmels Willen laufen dagegen wie bisher ohne jede Vorwarnung.« So sucht der Mensch, der Gott verloren hat, voller Angst nur noch sich selbst und sein Wohlbefinden. Die Steigerung von Angst heißt nicht umsonst Heidenangst. Wenn die Amerikaner das Wort Angst steigern wollen, sagen sie bezeichnenderweise »german angst«.

Zur kulturellen und Identitäts-Krise Europas
Robert Kardinal Sarah: „Ich glaube, dass das Abendland im Sterben liegt.“
Letztlich stehen wir vor der uralten Grundfrage: Was ist der Mensch? Heute wird sie bis in den Aktionismus des kirchlichen Gutmenschentums hinein so beantwortet: »Ich bin meine Tat.« Daran gehen Menschen aber zugrunde, wenn sie sich nur noch über ihre Leistungen definieren und dazu verdammt sind, alles Gewicht auf ihr Handeln zu legen. Was tut man, wenn man nichts mehr tun kann? Der Mensch muss doch mehr sein als die Summe seiner Leistungen.

Nur durch Glaubenslosigkeit kann man auf den Wahnwitz kommen, den wir oben beschrieben haben. Wer der Mensch ist, entscheidet sich nämlich nicht am Menschen: »Über das Sein der Person … kann kompetent nur derjenige urteilen, der die Person zur Person macht. Und das ist Gott allein« (Dietrich Bonhoeffer). Wir sind, geschaffen nach dem Ebenbild Gottes, jedoch nicht zur Passivität oder zum Fatalismus verurteilt. Der Mensch wird zum Täter des Guten, indem er von seinem Schöpfer grundsätzlich und unabhängig von seinen Taten gutgeheißen wird.

»Das Evangelium ist die allen menschlichen Selbstverwirklichungsversuchen zuvorkommende Verheißung, dass der Mensch eine definitiv anerkannte, nämlich von Gott anerkannte Person ist« (Bonhoeffer). Das ist kein frommes Papperlapapp, das ist die einzige Rettung aus dem elenden Teufelskreis, aus dem Tremolo der Betroffenheit und der Emotion der Empörung. Eine echte Persönlichkeit kann den Meinungsstreit ertragen und braucht nicht den Ausschluss des Gegners.

Wichtig ist, dass wir uns aus der Diktatur allgemeiner Akzeptanz und zeitgeistdiktierter Pseudo-Wahrheiten befreien und wieder tolerant miteinander umgehen, dass wir Positionen verachten dürfen und die Person mit Respekt dennoch achten. Wer Gott folgt, muss keine Angst vor fremden Wahrheitsansprüchen haben. Er kann sich in großer Souveränität jeder Debatte stellen. Das wieder zu kultivieren, macht eine Kultur aus. Gegen die Diktatur des Relativismus brauchen wir eine neue Leidenschaft für die Wahrheit. Dann muss ich niemanden mehr ausgrenzen, denn die Wahrheit macht uns frei.

Auszug aus: Peter Hahne, Seid ihr noch ganz bei Trost! Schluss mit Sprachpolizei und Bürokraten-Terror. Quadriga, 128 Seiten, 12,00 €


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